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Sind wir nicht alle ein bisschen anarcho?

Von der Aachener Straße kennen wir das ja schon: Rund um die Tische vor den Cafés sind lustige weiße Linien gemalt, damit die Gäste genau wissen, bis wohin sie ihren Stuhl schieben dürfen. Die Information dahinter lautet: Bis hierhin, aber keinen Schritt weiter. Eine klare Reviermarkierung. An der Aachener Straße ist das vermutlich sinnvoll. Die Bürgersteige sind hoch frequentiert und wenn dann auch noch überall diese Stühle stehen und coole Gäste sitzen, dann können die sonnenbebrillten Medienfreaks nicht mehr so cool vorbei promenieren.

Aber jetzt geht die Farbschmiererei auch in der Südstadt los: Dekorativ sind die ersten Linien künstlerisch um das eine oder andere Café gepinselt. Nein, nicht das Ordnungsamt tobt sich hier kreativ aus – das müssen die Gastronomen schon selber tun. Und die sind dann auch penibler als die Hüter der Ordnung selber: Kaum haben wir das Stuhlbein versehentlich über die weiße Linie geschoben, weil die Bio-Gemüse-Stofftasche sonst nicht mehr zwischen den 800-Euro-Kinderwagen und das iPhone passt, schon schießt aus einer finsteren Ecke des im Innenraum verwaisten Cafés eine grimmig drein blickende Kellnerin herbei und weist uns auf die Linie hin.

Beim Ordnungsamt, in der Abteilung für Gaststättenangelegenheiten, erfahren wir telefonisch, dass die Überschreitung der Grenzen angeblich gar nicht so streng geahndet wird. Und was ist mit den Linien?, fragen wir weiter. Ja, die Linien müssten eigentlich alle Gastronomen ziehen. Das steht in den Richtlinien. Macht aber kaum einer. Kümmert auch niemanden. Bisher. Jetzt fangen die ersten damit an. Alle wollen ihre Schäfchen gut behütet im vordefinierten Bereich wissen. Bald folgen kleine Jägerzäune. Befindet sich die Südstadt in einer tragischen Umbruchphase? Greift die große Hand der Bausparverträge und Eigenheimzulagen nach uns? Oder wollen wir uns einfach nur abgrenzen? Gegen wen bloß?

Keiner soll ausscheren. Wir sollen im vordefinierten Bereich des eigenen Cafés bleiben, wo uns nichts passieren kann. Machen sich die Gastronomen etwa Sorgen um uns? Wir bleiben ihnen doch auch so treu. Wo sollen wir denn auch sonst hin? An die Aachener Straße, wo die Aufstellung der Tische seit Jahren reglementiert ist? Wo man sich hinsetzt, um gesehen zu werden? Immer in den schicksten Klamotten?

Nein nein, wir bleiben viel lieber in der dörflichen Idylle der Südstadt. Hier sind wir zu Hause. Bloß nicht raus aus dem sicheren Hafen. Wir könnten ja Gefahr laufen, mit der Realität der anderen Stadtteile konfrontiert zu werden. Ausländer – hups, das böse Wort – besser: Migranten wollen wir natürlich gerne unter uns haben. Solange sie uns salmonellenfreie Döner anreichen und sich in den amüsanten Klischees der orthografischen Abgründe von Cafe´s und Süsswaren bewegen. Solange wir uns mit ihrer – aus Smalltalk bestehenden – Freundschaft schmücken können. Nur laut dürfen sie nicht sein, und nicht zu eigensinnig.

Aber vor allem lassen wir uns nicht in Linien einsperren. Wir wollen frei sein. Dafür leben wir nun mal in der Südstadt, der nördlichsten Stadt Italiens. Also schnell den Stuhl ein paar Millimeter über die Linie geschoben. Das ist der Rest des 80er-Jahre-Anarchos in uns. Jetzt aber schnell den Großen zur musikalischen Früherziehung bringen, sonst komme ich zu spät zum Yoga.


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