Kategorien
Dorfidylle - Der Fortsetzungsroman

Dorfidylle # 02

Aufbruch.

David hatte den ersten Schritt getan. Jetzt musste er die Konsequenzen daraus ziehen. Er strich sich mit gespreizten Fingern durch das nasse Haar und betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild im engen Badezimmer, das er noch immer mit seiner Mutter teilte. Auch das sollte er bald ändern. Er konnte schließlich nicht ewig mit seiner Mutter zusammenleben. Er war bereits zwanzig. Die meisten seiner Freunde waren längst von zu Hause ausgezogen. Zumindest die, mit denen seine Zeit in Berlin verbracht hatte. Hier auf dem Dorf war es dagegen fast normal, möglichst lange bei den Eltern wohnen zu bleiben. Mit dieser Situation wollte er sich nicht abfinden, obwohl seit dem Umzug schon zwei Jahre vergangen waren. David seufzte. Er lebte in diesem verdammten Dorf und kam hier nicht weg. Natürlich hätte er einfach seine Sachen packen und zurück nach Berlin gehen können. Aber er wollte seine Mutter nicht allein lassen. Nicht nach all dem, was passiert war. Nicht, solange es ihr nicht wirklich besser ging. Und das konnte noch Jahre dauern. Zumindest wenn sie sich nicht endlich mit ihrer Krankheit abfand und sich professionelle Hilfe holte.

——————————————

Du willst die bisherigen Kapitel in einem Stück in einem pdf lesen? Dann melde dich bei meinen GayLetters an und lade dir die aktuelle Version runter!

Du bist schon angemeldet? Dann ist hier der Direktlink. Das Passwort ist das gleiche wie für die anderen Downloads. Bei Problemen: post@stephano.eu

——————————————

»David!« Seine Mutter rief aus dem Erdgeschoss herauf. »Musst du nicht langsam los?«
Er zuckte zusammen. Auch das stand ihm noch bevor: Er musste ihr sagen, welche Entscheidungen er getroffen hatte. Er schnappte sich ein sauberes T-Shirt und streifte es über. Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel: Das Shirt fiel locker von seinen Schultern, ohne den Bauch zu berühren. Das musste reichen. Dann ging er die Stufen der Holztreppe betont langsam herunter und begrüßte seine Mutter in der Küche mit einem gehauchten Kuss auf ihre Wange.
»Bist du nicht schon viel zu spät?«, erkundigte sie sich und stellte ihm einen Kaffee hin. »Oder hast du heute keine Patienten?«
David schnitt sich eine Scheibe Brot ab und legte sie auf seinen Teller. Gerade wollte er ihr sagen, was er ihr sagen musste, als seine Mutter mit einer enthusiastischen Geste auf eine Postkarte wies, die neben der Tageszeitung lag.
»Dein Vater hat dir geschrieben.«
David nahm die Karte in die Hand. Auf der Vorderseite war die Oper von Sydney zu sehen. Auf der Rückseite standen die üblichen Grüße.
»Ich wollte immer mal nach Australien«, sagte seine Mutter.
»Warum fährst du dann nicht hin?«, fragte David.
Er beugte sich ein wenig nach hinten und warf die Karte zielsicher ins Altpapier.
»Du könntest sie wenigstens für ein paar Tage an den Kühlschrank hängen.«
David spürte Wut in sich aufsteigen.
»Wozu? Um dein Gewissen zu beruhigen?«
»Ach David, wir müssen doch nicht schon wieder streiten.«
Das bis gerade noch betont fröhliche Gesicht seiner Mutter verzog sich wie unter einem dumpfen Schmerz und ihre Mundwinkel zuckten. David starrte auf sein Brot.
»Ich habe gekündigt«, platzte es aus Daniel heraus. »Schon vor einem Monat. Gestern war mein letzter Tag.«
»Warum das denn?«, fragte seine Mutter entsetzt. »Du warst doch ganz glücklich in der Praxis. Und warum hast du mir nichts davon erzählt?«
David stöhnte genervt und seufzte.
»Ich muss mein Leben mal auf die Reihe kriegen.«
»Indem du deinen Job kündigst?«
»Du arbeitest gar nicht – schon vergessen?«
»Du weißt genau, warum!«
»Allerdings. Aber du hast keine Ahnung, was in mir los ist.«
Kurz huschte ein Lächeln über das Gesicht seiner Mutter.
»Ich weiß, dass du schwul bist. Deshalb hast du dich von Kristin getrennt, nicht wahr?«

»Mama! Ich bin nicht schwul!«

Nervös zupfte er an seinem T-Shirt.
Sie nickte. Dann strich sie ihm sanft über die Haare. Schnell duckte sich Daniel weg. Ihm war diese Nähe eindeutig zu viel.
»Und was willst du jetzt tun?«, erkundigte sich seine Mutter. »Du musst ja von irgendwas leben.«
David trank den letzten Schluck Kaffee, erhob sich und stellte die Tasse in die Spülmaschine.
»Ich bin gleich mit dem Wirt im Brüllenden Bullen verabredet. Der braucht Personal im Service.«
»Du willst bei Konrad arbeiten?« Die Stimme seiner Mutter klang gepresst. »Bist du dir sicher, dass das eine gute Entscheidung ist?«
»Im Moment ist alles besser, als den ganzen Tag an alten Leuten herumzukneten und sich von ihnen das Gejammer über ihre Wehwehchen anzuhören.«
»Aber ausgerechnet bei Konrad …«
David warf seiner Mutter einen irritierten Blick zu.
»Was weißt du denn schon von Konrad. So weit ich mich erinnere, bist du in der ganzen Zeit, die wir hier leben, nicht ein einziges Mal im Bullen gewesen.«
Mit leicht gerötetem Gesicht lehnte sich seine Mutter an den Küchentisch und verzog das Gesicht.
»Du hast keine Ahnung, wie er ist. Er ist falsch.«
»Du kennst ihn doch gar nicht. Vermutlich hast du nur irgendwelche Gerüchte über ihn gehört, mehr nicht. Und mir ist es egal, was andere Leute sagen. Ich mache mir mein eigenes Bild.«
»Ich kenne Konrad von früher«, erwiderte sie. »Das ist lange her. Und ich weiß, dass er ein schlechter Mensch ist.«
»Du spinnst! Niemand ist einfach nur ein schlechter Mensch.«
»Ich verstehe dich nicht«, jammerte seine Mutter jetzt. »Du wirfst dein Leben einfach weg, als hättest du noch ein zweites im Kühlschrank. Ohne eine fundierte Ausbildung wirst du irgendwann auf der Straße landen.«
David stöhnte. »Seit wann interessiert dich das? Dir geht es doch immer nur um dich!«
Seine Mutter sackte auf einen der Küchenstühle. Ihre Schultern zuckten, während sie verneinend ihren Kopf schüttelte.
»Ich will doch nur dein Bestes!«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen. In Davids Magen zog sich alles zusammen.

Aber er wollte nicht mehr still sein.

»Mama!«, raunte er. »Das weiß ich doch.« Er stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Du musst dich endlich um einen Therapeuten kümmern.«
Er spürte, wie sich ihre Muskeln unter seinen Fingern anspannten. Sie hatten schon sooft darüber gesprochen. Immer wieder hatte seine Mutter beteuert, mit der Suche zu beginnen. Aber am Ende bleib es bei dem Vorhaben.
»Soll ich für dich bei den Therapeuten anrufen?«, fragte er.
Seine Mutter schüttelte energisch den Kopf.
»Auf keinen Fall!«, flüsterte sie. »Ich komme doch ganz gut klar.« Sie hob den Kopf und wandte sich ihrem erwachsenen Sohn zu. Ein gepresstes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. »Mir geht es schon viel besser.«
»Das sagst du mir jetzt seit sechs Jahren.« David ließ frustriert die Arme hängen. »Ich will dich nicht noch mal mit einer leeren Packung Schlaftabletten auf dem Sofa finden!«
Ihr Lächeln wurde schlagartig von dem Ausdruck tiefer Traurigkeit abgelöst.
»Das wirst du mir den Rest meines Lebens vorwerfen, oder?«, fragte seine Mutter. »Herrgott noch mal. Ich war in einer echt beschissenen Situation damals. Warum vertraust du mir nicht einfach mal?«
»Ich war vierzehn, Mama. Und ich war damit vollkommen überfordert. Wenn unsere Nachbarn damals nicht gewesen wären, hätte ich einfach daneben gesessen, während du verreckt wärst.«
Wut machte sich auf dem Gesicht seiner Mutter breit.
»Du sprichst über mich, als wäre ich ein Stück Vieh!«
»Dann verhalt dich nicht auch so!«
Impulsiv stieß sich seine Mutter von der Tischkante ab, richtete sich auf und warf dabei den Stuhl nach hinten um. Sie drehte sich zu David herum und starrte ihn fassungslos an.
»Was ist los mit dir?«, fauchte sie. »Bist du frustriert, weil du hier keine Jungs zum Ficken findest? Oder lässt du nur deine schlechte Stimmung an mir aus, weil du keine Ahnung hast, was du mit deinem Leben anfangen sollst?«
Sie marschierte aus der Küche ins Wohnzimmer. David folgte ihr nach ein paar Sekunden und sah, dass sie mit zuckenden Schultern am Fenster stand. Er berührte sie am Oberarm, doch sie entzog sich ihm sofort.
»Wir hätten nicht hierherziehen sollen«, sagte sie. »Wir hätten in Berlin bleiben sollen. Da war doch alles gut.«
»Nichts war gut. Und das weißt du genau. Du hast die ganze Zeit vor dem Fernseher gesessen und dich nicht vor die Tür getraut, weil du dachtest, die Nachbarn würden dich nach dem Selbstmordversuch schief angucken.«
Wütend wirbelte seine Mutter wieder herum.
»Das war kein Selbstmordversuch! Ich konnte einfach nur nicht schlafen und ich da habe ich eben ein paar Tabletten zu viel genommen!«
»Das waren fast vierzig Stück. Und eine Flasche Wodka. Das nimmt kein normaler Mensch, der einfach nur schlafen will!«
»Was willst du von mir, David? Soll ich mich von einer Brücke stürzen, damit du deine Ruhe hast? Willst du das? Soll ich das tun?« Sie schob ihn zur Seite und schnappte sich ihre Jacke vom Kleiderhaken im Flur. »Ich kann sofort losgehen und springen, wenn es das ist, was du willst!«
Sprachlos sah David zu ihr hinüber. Wie flüssiger Teer verdichtete sich das Gefühl in seinem Bauch. Jetzt hatte ihn die Trauer auch überrannt. Er kannte das schon. Immer, wenn seine Mutter so drauf war, wie heute, schwappte irgendwann die Depression zu ihm herüber. Aber das konnte er sich heute nicht erlauben. Er hatte gleich ein Vorstellungsgespräch. Er musste fröhlich und offen wirken, wenn er dem Wirt gegenübersaß.
Seine Mutter sah ihn auffordernd an. Doch als er sich nicht regte, ließ sie den Kopf hängen. Die Jacke, die sie gerade noch in ihren Händen gahalten hatte, fiel auf den Boden. Gebrochen lehnte sich seine Mutter von innen an die Haustür. Dann stürzten ihr die Tränen aus den Augen und sie rutschte an der Holzfläche nach unten. Sie weinte still. Und stürzte damit David in das nächste Gefühlschaos. Ein intensives Gefühl der Liebe schoss ihm durch den Magen und er ging langsam auf seine Mutter zu. Er hockte sich vor sie hin und legte die Arme um sie.
»Ich will, dass er dir gut geht«, flüsterte er.

»Ich will, dass du wieder lachst. So wie früher. Ich will mit dir nach Paris fahren und den Eiffelturm hochklettern.«

Seine Mutter schluchzte noch eine Weile, dann beruhigte sie sich langsam. Endlich hob sie den Kopf und sah ihren Sohn mit verheulten Augen an.
»Das weiß ich doch.« Sie legte ihre Arme um ihn. »Ich verspreche dir, dass ich mich um Hilfe kümmere.«
Vorsichtig strich David ihr über die leicht strähnigen Haare.
»Wir sind doch extra aus Berlin hierhergezogen, weil du hier ein paar Leute aus deiner Vergangenheit kennst. Du hast hier Freundinnen. Warum rufst du sie nicht einfach mal an und verabredest dich mit ihnen zum Kaffee?«
»Mir tut es so leid, dass du das alles ertragen musst.«
»Versprich mir einfach, dass du dich um dich kümmerst.«
»Ich schaff das schon«, murmelte seine Mutter. »Aber überdenk bitte auch noch mal deine Entscheidung. Dein Chef nimmt dich doch bestimmt sofort zurück, wenn du ihn fragst.«
David schüttelte den Kopf. »Nein, Mama. Mit der Physiotherapie habe ich abgeschlossen. Ich muss jetzt was anderes machen. Ich will unter Leute. Unter gesunde Leute. Und deshalb gehe ich für den Anfang in den Bullen. Wenn der Wirt mich haben will.«
»Ich kann mit ihm reden. Er erinnert sich bestimmt noch an mich.«
»Das muss ich jetzt allein machen. Nicht mit meiner Mutter an der Hand.«
Langsam richtete sich David wieder auf und zog seine Mutter dabei mit sich hoch. Sie war noch etwas wackelig auf den Beinen, aber sie machte nicht den Eindruck, als würde sie im nächsten Moment umfallen.
»Ich gehe mal los. Bitte setz dich wenigstens einen Moment draußen in die Sonne. Wir haben einen so schönen Garten.«
Seine Mutter nickte erschöpft. Dann hob sie ihre Jacke auf und hängte sie an den Kleiderhaken. Sie drückte David einen Kuss auf die Wange und schlurfte ins Badezimmer. Die Tür schloss sich leise hinter ihr. David atmete tief durch. Immer noch hatte er einen düsteren Klumpen im Bauch. Aber er war schon etwas kleiner geworden. Wenn er gleich auf dem Rad saß und ins benachbarte Dorf radelte, würde er sich schon auflösen. Das war immer so.
Er schlüpfte in seine Jacke und seine Schuhe, stecke die Schlüssel und sein Portemonnaie ein und verließ das Haus. Nicht ahnend, dass die neue Arbeit zu entscheidenden Veränderungen in seinem Leben führen würde.

© Stephan Meyer, Köln 2022 – Alle Rechte vorbehalten


Das war das zweite Kapitel des Fortsetzungsromans Dorfidylle, der ab sofort in diesem Blog erscheint. Hast du Fehler gefunden? Ist irgendwas unlogisch? Schreib es mir unten in die Kommentare.

Und wenn du eine Idee hast, welche Entscheidungen David außer dem Jobwechsel noch gefällt hat, dann bin ich gespannt auf deine Spekulationen.

Hier gehts zum dritten Kapitel


Melde dich zu den Dorfidylle-News an, um nichts zu verpassen!

Ich informiere dich, sobald ein neues Kapitel in meinem Blog erscheint. Auf diese Weise kannst du das nächste Kapitel immer als einer der ersten lesen. Los geht´s!


2 Antworten auf „Dorfidylle # 02“

Hallo Stephan, ein Tippfehler ist mir aufgefallen: David schüttelte den Kopp. –> Kopf. Ansonsten spannende Geschichte und Hintergrund zu Davids Leben. Bin gespannt, wie es weitergeht. LG

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert