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Dorfidylle - Der Fortsetzungsroman

Dorfidylle #16

Mutter.

Zum zweiten Mal an diesem Tag schwitzte David seine Klamotten durch, als er so schnell wie möglich mit dem Fahrrad nach Hause raste. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, aber die Sprachnachricht der Nachbarin hatte ihn ziemlich durcheinandergebracht. Immerhin hatte sie zwölfmal versucht, ihn zu erreichen. Irgendwas wirklich Beunruhigendes musste also vorgefallen sein. Vielleicht hatte seine Mutter einen Topf auf dem Herd stehen lassen und das Haus war abgebrannt. Oder sie hatte einen Unfall gehabt. Mit jedem Meter, den David dem Haus näher kam, wurde er nervöser.

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Als er endlich in die Straße einbog, in der er wohnte, sah er sofort den Streifenwagen in der Einfahrt stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Was war da passiert? Die Feuerwehr war nirgendwo zu sehen. Immerhin schien das Haus also nicht abgebrannt zu sein. Allerdings parkte neben dem Streifenwagen noch ein zweites Auto, das David nicht kannte. Und die Haustür stand sperrangelweit offen.
David bremste und sprang vom Fahrrad, noch bevor es vollständig zum Stehen gekommen war. Achtlos ließ er es auf den Rasen vor dem Haus fallen und eilte auf die Tür zu. Er hörte ruhige Stimmen aus dem Wohnzimmer und erreichte im nächsten Moment das Ende des Flurs.
Seine Mutter konnte er im ersten Augenblick nicht entdecken, denn ihm wurde der Blick von zwei Frauen und einem Mann verdeckt. Die Nachbarin drehte sich überrascht um und sah David besorgt an.
»Da bist du ja«, sagte sie und machte einen Schritt zur Seite, sodass David seine Mutter auf dem Sofa liegen sah. »Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber in der Praxis hat man mir nur gesagt, dass du da nicht mehr arbeitest.«
»Ich habe seit Kurzem einen neuen Job«, entgegnete David abwesend.
Seine Mutter lag unter einer Wolldecke. Sie war blass und ihre Augen flackerten. Unter ihrem Kopf lagen mehrere kleine Kopfkissen und in ihrer Armbeuge steckte eine Kanüle, die zu einem Plastikbeutel mit einer Flüssigkeit führte. Jetzt erkannte David auch Dr. Amber, ihren Hausarzt. Eine Polizistin unterhielt sich leise mit seiner Mutter.
»Was ist denn passiert?«, fragte David und trat näher an das Sofa heran. Seine Mutter hob den Blick. »Mama! Was ist hier los?«
Die Polizistin drehte sich zu ihm herum.
»Sie sind der Sohn von Frau Weber?«, fragte sie freundlich.
David nickte, streckte die Hand aus und stellte sich vor. In der Luft schwebte der unangenehme Geruch von Desinfektionsmittel und Krankenhaus. Dr. Amber nickte ihm zu und machte dann einen Schritt zur Seite, damit David sich neben seine Mutter auf das Sofa setzen konnte.
»Ihre Mutter hat wohl ein wenig die Nerven verloren«, sagte jetzt die Polizistin.
David wandte den Kopf zu ihr nach oben.
»Inwiefern?«, fragte er, sah erst die Polizistin, dann den Arzt und schließlich die Nachbarin an.
Als ihm niemand direkt antwortete, warf der den Blick wieder auf seine Mutter. Sie wirkte schmaler als jemals zuvor und schien unter der Decke fast zu verschwinden.

»Mama. Was hast du gemacht?«

Seine Mutter schloss die Augen. Tränen flossen über ihre Schläfen.
»Ich habe sie zufällig aus dem Haus laufen sehen«, sagte die Nachbarin leise. »Sie hatte nur einen Slip an. Sonst nichts.«
Ein Schauer durchfuhr Davids Körper. Er tastete nach der Hand seiner Mutter. Er spürte sie zittern, die Haut war eiskalt. Immer noch rollten die Tränen und seine Mutter hielt die Augen geschlossen.
»Ich bin dann sofort raus. Aber sie war schon an der nächsten Straßenecke.« Die Stimme der Nachbarin klang viel zu hoch in Davids Ohren. »Sie hat die Autos angeschrien. Und als ihr Leute entgegenkamen, hat sie auch die angebrüllt. Ich habe deine Mutter noch nie so laut Schreien hören. Dann ist sie auf die Kreuzung drüben an der Hauptstraße gerannt und hat die Autos angehalten.« Die Stimme wurde immer leiser. »Sie ist fast überfahren worden.«
Die Hand seiner Mutter zwischen Davids Fingern zitterte immer stärker. David umschloss sie fest.
»Bist du verletzt?«, fragte er seine Mutter sanft.
In ihm tobte eine höllische Angst vor dem, was er noch erfahren würde. Er verfluchte sich, seine Mutter heute Morgen so harsch angegangen zu sein. Dabei wusste er doch, dass sie damit nicht klarkam.
»Ihrer Mutter ist zum Glück nichts passiert«, sagte die Polizistin. »Sie sollten sich allerdings überlegen, wie es mit ihr weitergehen soll.«
Die Hand seiner Mutter verkrampfte sich bei diesen Worten. David strich ihr zart über die Stirn.
»Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben«, sagte Dr. Amber. »Sie scheint auch getrunken zu haben. Deshalb die Infusion.«
David hob den Kopf. Der Beutel war leer und Dr. Amber gab ihm zu verstehen, dass er an den Arm seiner Patientin musste. David ließ die Hand seiner Mutter los und erhob sich. Der Arzt nahm seinen Platz ein, zog die Kanüle aus dem Arm, reichte der Nachbarin den Beutel und den Schlauch und klebte ein Pflaster auf die Armbeuge. Eine Weile drückte er auf die Stelle, wo gerade noch die Nadel in der Haut gesteckt hatte, damit sich kein Bluterguss bildete. Dabei wandte er sich David mit besorgter Miene zu.
»David«, sagte er ruhig. »Die Polizistin hat recht. So geht das nicht weiter. Ich war zum Glück vorhin zufällig in der Nachbarschaft und konnte den Notarzt überzeugen, dass sie meine Patientin ist und dass ich mich um alles kümmere. Er hat wirklich mit sich gekämpft und wollte deine Mutter eigentlich in die Klinik bringen.«
Etwas verständnislos sah David ihn an. Er hatte den Eindruck, die ganze Szene durch einen langen Tunnel zu sehen, der ihn von den anderen Menschen in diesem Raum distanzierte.

»In eine psychiatrische Klinik«, ergänzte Dr. Amber leise und erhob sich.

Wie eine eisige Lawine rollte diese Information über David hinweg. Die Psychiatrie. Natürlich hatte er in den letzten Jahren immer mal wieder daran gedacht, dass dieser Moment eintreten konnte. Aber er hatte die Gedanken daran jedes Mal sofort von sich geschoben und in eine dunkle Kammer gesperrt. Seine Mutter war schon einmal so weit gewesen. Damals in der schrecklichen Nacht in Berlin. Drei Wochen war sie in der psychiatrischen Abteilung der Charité gewesen, bis sie so weit wiederhergestellt war, um das in das normale Leben zurückzukehren. Ganz erholt hatte sie sich seitdem nie. Er selbst hatte die Erfahrung möglichst weit von sich geschoben und sich jede Beschäftigung damit verboten. Bis heute.
»Herr Weber«, meldete sich die Polizistin nun wieder zu Wort. »Es wäre gut, wenn Sie für Ihre Mutter eine Entscheidung treffen. Sollen wir sie nicht doch lieber zur Beobachtung für ein paar Tage in eine Klinik bringen?«
In diesem Moment öffnete seine Mutter zum ersten Mal wieder die Augen und David sah die Panik ihn ihren Pupillen. Er setzte sich sofort wieder neben sie und griff nach ihrer Hand. Wie eine Schraubzwinge klammerten sich ihre Finger an ihn. Und in ihm tobten gegensätzliche Gedanken. Sicherlich wäre es besser, wenn sich seine Mutter in professionelle Hände begeben würde, wenn sie sich endlich behandeln und vielleicht sogar heilen lassen würde. Aber David kannte ihren Horror vor jeder Art von Krankenhaus. Sein Herz raste unkontrolliert bei der Vorstellung, ihr das anzutun. Das durfte einfach nicht geschehen.
»Ich halte das eigentlich auch für das Beste«, sagte Dr. Amber. »Seit ich deine Mutter zuletzt gesehen habe – und das ist leider schon wieder viel zu lange her – hat sich ihr Zustand deutlich verschlechtert. Ich befürchte, dass sie auf Dauer chronische Psychosen entwickelt, wenn wir nicht deutliche Schritte gehen.«
David sah seiner Mutter in die Augen, als er leicht mit dem Kopf schüttelte.
»Vielen Dank Dr. Amber«, sagte er, ohne den Blick von seiner Mutter zu lösen. »Ich werde versuchen, mit meiner Mutter in Ruhe über die Möglichkeiten zu sprechen. Aber ich glaube, sie ist im Moment besser hier zu Hause aufgehoben.«
Der Arzt sah ihn sorgenvoll an und nickte sacht.
»Du bist erwachsen geworden, David. Und ich schätze die Verantwortung, die du hier übernimmst. Versprich mir aber bitte, dass du mich sofort anrufst, wenn etwas passiert. Und dass ihr wirklich darüber sprecht.« Er öffnete seine Arzttasche und zog einen Rezeptblock heraus. »Ich schreibe ihr ein starkes Beruhigungsmittel auf und lasse dir für heute zwei Tabletten hier.«
Er stellte das Rezept aus, legte es auf den Couchtisch, kramte noch einmal in der Tasche und fischte ein Blister mit Pillen hervor.
Als er sie David in die Hand drückte, sagte er: »Zwei Stück höchstens am Tag. Und immer acht Stunden Abstand dazwischen. Die können aufs Herz gehen.«
David nickte.
Die Polizistin sah skeptisch zwischen David, seiner Mutter und Dr. Amber hin und her. Die Nachbarin lehnte mit verschränkten Armen an der Türzarge. David spürte die Bedenken der drei Menschen. Aber er konnte seine Mutter nicht noch einmal in die Psychiatrie bringen.

»David«, sagte Dr. Amber. »Mit dieser Krankheit ist nicht zu spaßen.

Deine Mutter sollte dringend zu einem Psychiater gehen und sich untersuchen lassen. Mit den Tabletten wird sie die Situation auf Dauer nur hinauszögern. Für eine Verbesserung muss sie anderes tun.«
Wieder nickte David. Er war sich nicht ganz sicher, ob er richtig verstand, was das bedeutete. Er hatte außer damals in der Charité noch nie mit Psychiatern zu tun gehabt. Seine Mutter hatte die Ärzte in der Klinik gehasst und ihnen unterstellt, sie würden sie einfach nur ruhigstellen und betäuben. Damals war David zu jung gewesen, um die Verantwortung für seine Mutter zu übernehmen. Heute war er älter, aber so richtig gewachsen fühlte er sich der Situation immer noch nicht.
»Ich werde mit ihr sprechen, wenn es ihr besser geht«, versicherte er dem Arzt.
»Wo arbeitet deine Mutter zurzeit?«, fragte der Arzt. »Soll ich ihr eine Krankschreibung ausfüllen?«
»Sie hat keinen Job«, sagte David.
»Dann ist sie arbeitslos?«, fragte der Arzt weiter.
Wieder einmal wurde David bewusst, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon seine Mutter lebte. Sie hatten nie viel Geld gehabt. Hin und wieder war sie in Berlin auch mal arbeiten gegangen. Aber nie regelmäßig. Immer nur, wenn etwas oberflächlich Spannendes auf sie zugekommen war. Meistens waren das irgendwelche Kunstprojekte gewesen, die nach ein paar Monaten abgeschlossen waren. Aber sie hatte sich nie arbeitslos gemeldet. Und trotzdem war immer so viel Geld da gewesen, dass sie über die Runden kamen.
»Sie braucht keine Krankschreibung«, sagte David leise.
Dr. Amber und die Polizistin verabschiedeten sich. Und auch die Nachbarin verließ nach ein paar Minuten das Haus, nachdem sie David versichert hatte, er könne sich jederzeit bei ihr melden. Sie sei den ganzen restlichen Tag zu Hause. Die Tür fiel leise hinter ihr ins Schloss.
David saß auf dem Sofa neben seiner Mutter und hielt ihre Hand fest. Als sie allein waren, fiel die Anspannung spürbar von seiner Mutter ab. Sie schloss die Augen wieder für eine Weile und als David schon glaubte, sie sei eingeschlafen, hörte er sie leise »Danke!« sagen.
Er drückte ihre Hand in der seinen als Reaktion. Tiefe Erschöpfung machte sich in ihm breit. Er hatte gestern bis spät in die Nacht gearbeitet, danach kaum geschlafen und stattdessen wunderbaren Sex mit Sid gehabt. Er hatte heute wieder acht Stunden im Hotel geschuftet. Und dann war die Aufregung hier zu Hause dazu gekommen. Kein Wunder, dass er sich danach sehnte, sich in sein Bett zu legen und die Decke bis über den Kopf zu ziehen. Aber noch konnte er sich nicht ausruhen.
»Mama!«, fragte er vorsichtig. Ihre Augen öffneten sich leicht. »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«
Eine Weile sah seine Mutter ihn schweigend an. David registrierte, wie sie mit sich kämpfte. Nach einem leisen Seufzer rang sie sich offenbar durch, mit ihm zu sprechen.
»Als du heute Morgen gegangen bist, war ich fest davon überzeugt, dich für immer verloren zu haben.«
»Ach, Mama!«, flüsterte David. Die Tränen stiegen ihm in die Augen. »Ich gehe nicht. Versprochen!«
»In meinem Kopf weiß ich das. Aber meine Angst ist immer stärker geworden. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren.«
David legte seinen Kopf auf ihrem Brustbein ab. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und er weinte.
»Ich weiß«, fuhr seine Mutter fort, »wie viel ich dir zumute. Ein Mensch in deinem Alter sollte diese Verantwortung nicht tragen müssen.« Sie machte eine lange Pause, in der David sie ruhig atmen hörte. »Aber ich habe nun mal nur dich. Und wenn du mich verlässt, dann gibt es niemanden mehr.«
Der Schmerz schien David fast zu zerreißen. In Wellen schwappte er in ihm hin und her und verhinderte, dass er seiner Mutter antworten konnte. Er konzentrierte sich auf die Lichter, die hinter seinen Augenlidern tanzten, auf seinen Atem, der allmählich mit dem seiner Mutter in Einklang geriet. Je länger sie gleichzeitig atmeten, desto mehr kehrte die Ruhe in Davids Körper und seinen Kopf zurück. Mit der Zeit wurde der Atem seiner Mutter immer ruhiger und sein Atem passte sich symbiotisch daran an. Und mit ihren ruhigen Atemzügen entspannte sich auch ihr Körper weiter. Nach und nach spürte David, dass er die Unruhe hinter sich lassen konnte. Er war froh, dass das Beruhigungsmittel, das Dr. Amber ihr gegeben hatte, offenbar wirkten.
Er lauschte. Vermutlich war seine Mutter eingeschlafen. Langsam hob er den Kopf und setzte sich auf. Tatsächlich hatte sie die Augen geschlossen und wirkte jetzt ganz ruhig. Gerade wollte David aufstehen, um etwas zu trinken, da öffneten sich ihre Augen noch einmal einen winzigen Spalt weit.
»Ich wusste nicht, dass Georg wieder hier ist«, sagte sie fast unhörbar.
»Wieso ist das so wichtig?«, fragte David erstaunt.
Aber jetzt war seine Mutter endlich eingeschlafen und er wollte sie nicht noch einmal wecken.
Was hatte sie damit gemeint? Hatte Sids Rückkehr etwas mit ihrem Zusammenbruch zu tun? David erinnerte sich, wie angespannt seine Mutter heute Morgen auf die Erwähnung seines Namens reagiert hatte. Aber sie kannte den Neffen des Grafen doch nur von vor zwanzig Jahren, als er ein Kleinkind gewesen war. Oder hatte David irgendwas übersehen?

© Stephan Meyer, Köln 2022 – Alle Rechte vorbehalten


Das war das sechzehnte Kapitel des Fortsetzungsromans Dorfidylle. Hast du Fehler gefunden? Ist irgendwas unlogisch? Schreib es mir unten in die Kommentare. Ich freue mich auf deine Rückmeldungen.


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