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Buchvorstellung

„Ich bin Kim, ich bin queer und ich bin hier.“

Kim de l´Horizon: Blutbuch.

In diesen Tagen wird Kim de l´Horizon mit Preisen überhäuft. Mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung, dem Deutschen Buchpreis 2022 und zuletzt dem Schweizer Buchpreis 2022. Natürlich wollte ich mir ein eigenes Bild davon machen, was die schreibende Person auf die Welt gebracht hat, denn Preise sind nicht immer eine Garantie dafür, dass die Presigekrönten auch mir gefallen.

Konfrontation mit Sprache
Der Text von Kim de l´Horizon hat mich irritiert, aufgewühlt und immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Schon die Art, wie ich hier über dieses Buch schreibe, bringt mich an die Grenzen dessen, was ich bisher zu Papier gebracht habe, denn Kim ist nonbinär, bezeichnet sich weder als Mann noch als Frau. Das trifft zumindest dann zu, wenn ich Blutbuch als eine Biografie auffasse, in der Kim versucht, einige Geschichten seiner Familie aufzuschreiben und sich dabei selbst beim Namen nennt. Auch Wikipedia beschreibt Kim als eine „genderfluide nichtbinäre Person“ und daran orientiere ich mich zunächst.

Ich weiß nicht, wie ich über eine nonbinäre Person schreiben soll. Bezeichne ich sie als „er“ oder als „sie“? Gibt es eine dritte Form der Ansprache? Eine der Empfehlungen, die ich dazu gefunden habe, lautet „sier“. Aber ich habe keine Erfahrung damit, diese Form in meiner Sprache anzuwenden. Im englischsprachigen Raum hat sich die Formulierung „they“ eingebürgert, die sich allerdings nicht ohne Weiteres ins Deutsche übertragen lässt. Das macht es ungewohnt, über die Person hinter dem Roman zu schreiben. Ich bin aufgeschmissen und ich bin gezwungen, meine bisherige Sprache zu überdenken. Ich muss mich neu orientieren. Ob mir das angemessen gelingt, weiß ich nicht. Und vor allem kann ich es vermutlich nicht objektiv beurteilen. Aber ich will es zumindest versuchen.

Alte Strukturen über den Haufen werfen
Kim bezeichnet seine Form des Schreibens als „ecriture fluide“, eine flüssige Schrift, die eine „flüchtige Hexerei“ sein möchte. So beschreibt sier in einem Audiofile auf der Website des DuMont Verlages seine Arbeit. Und während ich den Roman lese, verstehe ich immer mehr, was sier damit meinen könnte.

Die Sprache dieses Romans verschwimmt und löst sich immer wieder in ihre Bestandteile auf. Jedes Mal, wenn ich geglaubt habe, den ungewohnten Sprachduktus zu verstehen, werde ich ein paar Seiten später mit neuen Kategorien konfrontiert, die alles über den Haufen werfen, was ich bis gerade noch gedacht habe. Auf der einfachsten Ebene bedient sich die erzählende Person des Berner Dialekts, der eine Menge mir unbekannter Formulierungen mit sich bringt. Die Mutter wird als Meer bezeichnet, der Vater als Peer, die Großmutter als Großmeer. Mit vielen dialektalen Bezeichnungen setzt sich Kim im Text direkt auseinander, andere werden einfach eingestreut und lassen mich als Leser stolpern. Eine weitere sprachliche Ungewohntheit ist das schweizerische Doppel-S, das in vielen Fällen dem hochdeutschen „ß“ entspricht. Aus meiner Schulzeit erinnere ich mich noch an viele Worte, die damals mit Doppel-S geschrieben wurden, habe mich aber in den letzten Jahren so an die Neuregelungen der deutschen Sprache gewöhnt, dass die schweizerische Schreibweise sich im ersten Moment falsch anfühlt.

Die Reise durch die Sprache setzt sich fort, wenn Kim sich darauf konzentriert in einem Kapitel jeden Satz aus acht Worten zu erfinden. Ich lese Texte aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Ganze Absätze sind auf Berndeutsch geschrieben. Und der Roman kulminiert schließlich im letzten Kapitel in Briefen, die auf Englisch geschrieben sind. So wird aus einem Roman eine Sprachgeschichte von lange zurückliegenden Vergangenheit, über die Gegenwart zu einer Zukunftsvision. Und gegen all diese Sprachformen rebelliere ich innerlich, muss mir jedoch eingestehen, dass ich viel zu enge Grenzen dessen habe, was Sprache alles sein kann.

Eine Geschichte der Frauen
Aber sollte ich nicht einfach mal etwas zum Inhalt des Romans schreiben, als mich ständig an der Sprache festzuhalten? Ich möchte dazu nur das zitieren, was der Verlag auf seiner Website dazu formuliert, denn das trifft es sehr gut:

„Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.“

Kim selbst bringt den Inhalt ihres Buches so auf den Punkt: „Ich habe versucht, einige Geschichten meiner Familie zu erschreiben.“

In die Sprache eintauchen
Für mich lebt dieses Buch nicht in erster Linie durch den Inhalt und die erzählte Familiengeschichte. Für mich steht das experimentelle Spiel mit der Sprache im Vordergrund. Es gibt Autor.innen, in deren Sprache ich tief eintauchen kann, die wie eine Meditation wirkt und bei denen es fast egal ist, welcher Plot erzählt wird. Bei den Alten ist das zum Beispiel Thomas Mann, bei den aktuellen Autoren Benjamin Alire Sáenz, dessen Bücher ich gerade nach und nach verschlinge. Doch Kim macht etwas ganz anderes. Kim lässt mich nicht in seine Sprache eintauchen. Sier rüttelt mich auf jeder Seite wieder neu auf und gibt mir keine Ruhe. Ich kann mich nicht zurücklehnen und die Worte an mir vorbei plätschern lassen. Ich muss aufmerksam sein und mich ständig neu sortieren. Und genau das macht es so reizvoll, diesen Text zu lesen.


Wie geht ihr mit der Sprache um?
Welche Formen der genderfluiden Sprache kennt ihr und welche nutzt ihr?

Ich bin gespannt auf eure Beiträge in den Kommentaren.


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