Vielleicht ist es dem einen oder anderen schon aufgefallen: Der Roman Kretische Reise ist offiziell von zwei Autoren geschrieben – von Stephan Martin Meyer und von Stephano. Und wer sich jetzt fragt, was der Unsinn jetzt schon wieder soll, findet in den nächsten Zeilen eine hoffentlich schlüssige Erklärung.
Ursprünglich komme ich aus dem Kinderbuchbereich. Für den Gerstenberg Verlag habe ich mehrere Kindersachbücher geschrieben, aber auch in anderen Verlagen und Anthologien habe ich schon Texte unter meinem bürgerlichen Namen veröffentlicht. Außerdem habe ich in den letzten Jahren mehrere Kinderbücher und einen Jugendroman im Selfpublishing unter meinem bürgerlichen Namen Stephan Martin Meyer veröffentlicht.
Als ich dann vor drei Jahren auf die Idee kam, eine schwule Buchreihe zu schreiben und herauszubringen, stellte sich für mich die große Frage, unter welchem Namen ich diese veröffentlichen sollte. Schwule Bücher mit der einen oder anderen Sexszene sind etwas anderes als Kinderbücher, und es gibt keinerlei Überschneidungen, weder bei den Inhalten, noch bei den Käufer:innen noch bei der letztendlichen Zielgruppe, den Leser:innen. Und um Verwechslungen zu vermeiden, um zu verhindern, dass begeisterte Mütter und Väter, Omas und Opas nach der Lektüre eines meiner Kinderbücher auf die Idee kommen, sich weitere Bücher dieses Autors zu kaufen, um dann mit hochrotem Kopf schwule Sexszenen zu lesen, habe ich mich für ein Pseudonym entschieden. Damit habe ich eine klare Trennung zwischen den Kinder- und Jugendbüchern auf der einen und den schwulen Romanen auf der anderen Seite geschaffen.
Nun hat sich in den letzten Wochen aus dieser klaren Abgrenzung eine neue Herausforderung für mich herauskristallisiert: Ich habe eine neue Leserschaft für die schwulen Romane gewonnen und hatte schon eine treue Leserschaft für die Kinderbücher. Aber der neue Roman Kretische Reise ist schließlich für beide Gruppen geeignet. Auf der Kinder- und Jugendbuchseite meine ich dabei natürlich die Eltern, die diese Bücher in der Regel kaufen. Die Frage war: Wie erreiche ich mit meiner Neuerscheinung möglichst viele Leserinnen und Leser?
Eine Weile habe ich überlegt, den Roman unter dem Pseudonym Stephano zu veröffentlichen, denn schließlich geht es ja unter anderem auch um eine schwule Thematik. Dann habe ich aber gesehen, dass es in diesem Roman nur eine einzige Sexszene gibt, die zudem in keiner Weise mit dem zu vergleichen ist, was man in GayStorys lesen kann. Sollte ich dann vielleicht doch lieber unter meinem bürgerlichen Namen Stephan Martin Meyer veröffentlichen?
Ich habe Freund:innen und Kolleg:innen gefragt, ich habe mich umgesehen, wie andere Autor:innen diese Frage lösen. Und je mehr ich fragte, desto mehr Antworten bekam ich. Dabei lag die einfachste Lösung schon lange vor mir: Ich bin beides, ich bin Stephan Martin Meyer und ich bin Stephano. Diese beiden Identitäten, die keineswegs schizophren sind, verschwimmen an den Rändern immer wieder. Am klarsten sind sie natürlich, wenn ich längere Passagen über Sex schreibe oder wenn ich eine Geschichte für Kinder entwickle. Aber beides ist hier nicht der Fall. Und auf ein weiteres Pseudonym hatte ich wirklich keine Lust. Denn die Marketingarbeit mit zwei Pseudonymen ist schon anstrengend genug.
Also habe ich mich entschieden, den Roman unter beiden Namen zu veröffentlichen. Ich habe zwar keine Ahnung, ob das marketingtechnisch Sinn macht, ob ich damit mehr Umsatz und Verkaufszahlen generiere, aber es fühlt sich einfach besser an. Und es hat sich auch noch niemand darüber beschert.
Ich bin ein gutaussehender, extrem talentierter und sehr bescheidener Autor. Ich habe zwei Fantasy-Romane geschrieben und via Crowdfunding selbst veröffentlicht. Aktuell arbeite ich an meiner pulpigen Tarantino-Serie „Inglorious Bitches – Drei Frauen gegen das Dritte Reich“. Hier sind bereits 6 Bände erschienen und viele weitere werden folgen.
So stellt sich Benjamin Spang a.k.a. Benny B. Savage, der Autor des heutigen Blogartikels selbst vor.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Ich veröffentliche meine Tarantino-Serie „Inglorious Bitches“ unter dem Pseudonym „Benny B. Savage“, weil mein Klarname bereits unter dem Label „Fantasy“ bei den Leser*innen im Umlauf ist.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich lebe im wunderschönen Saarland und bin hier auch sehr glücklich.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin der Autor, vor dem dich deine Bibliothekarin immer gewarnt hat.
Für wen schreibst du? Für Frauen, die im Bett eine gute Ausrede brauchen, um sich nicht wieder mit dem langweiligen Partner auseinandersetzen zu müssen.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Leser*innen, die meine Bücher abfeiern und mehr wollen
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Ich schreibe unheimlich spannend, so dass du das Buch nicht mehr aus der Hand legen willst. Außerdem tobe ich mich bei meiner Tarantino-Serie „Inglorious Bitches“ ein bisschen aus mit verrückten Charakteren und albernen Situationen. Das macht unheimlich Spaß und auch den Leser*innen gefällt das sehr.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Ich warne hier ausdrücklich vor meinen Büchern, weil einmal aufgeschlagen sind sie wie eine Zeitmaschine und du fragst dich, warum du eine zweite Abmahnung deines Arbeitgebers im Briefkasten hast, weil du nicht erschienen bist.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman Meine letzte Veröffentlichung war das Finale der 2. Staffel meiner Tarantino-Serie „Inglorious Bitches“. In diesem Band sind meine drei Elite-Soldatinnen Mary, Mouth und Lynx nach Kuba gereist, um dort ein paar Nazis den Arsch aufzureisen. Das Buch hat viele tolle Momente und Wendungen und ich hatte riesigen Spaß, die Geschichte zu schreiben.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Blut gegen Blut Band 1 und Band 2 (Vampire, Werwölfe Steampunk: Keine Romantik!) Inglorious Bitches – 6 Bände (Drei Frauen gegen das Dritte Reich) Außerdem war ich Herausgeber der sehr guten Anthologie „Glutnacht – Dunkle Folklore“. Ebenso vertreten war ich in den Anthologien „Erntenacht“ und „Nachtmeer“.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Ich schreibe gerade an einem „Christmas Special“ meiner Tarantino-Serie „Inglorious Bitches“. Dieses Special soll im Dezember erscheinen.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? „Ich habe mir sofort alle Bände der Inglorious Bitches gekauft. Als Taschenbuch!“
Immer wieder stehe ich etwas konsterniert vor den Entscheidungen des Buchmarktes und frage mich, was um alles in der Welt hier falsch läuft. Der aktuelle Fall ist in gewisser Hinsicht allerdings auch ziemlich komisch und hat mich auf eine unerwartete Reise mit einer antiken Skulptur geführt.
Eine antike Skulptur für mein Cover
Ich habe sehr lange an meinem aktuellen Roman “Kretische Reise” gearbeitet, habe ihn gegenlesen und korrigieren lassen und mich mit vielerlei inhaltlichen Fragen und konstruktiven Anregungen auseinandergesetzt. Parallel habe ich, wie ich es ja immer tue, das Cover und den Umschlag entworfen. Die Geschichte spielt auf Kreta, was nahelegte, eine antike Skulptur auf das Cover zu setzen. Eine solche Skulptur lenkt den Gedanken ziemlich schnell in Richtung griechischer Antike und prompt sind wir auf Kreta. Also habe ich recherchiert und eine Skulptur gefunden, die genau zu meinem Cover passt.
Überraschung: Die Skulptur ist gar nicht antik!
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass diese Figur weder griechisch noch antik ist. Faktisch steht diese Skulptur in Paris und stellt den trauernden Kain angesichts seines toten Bruders Abel dar. Die Figur stammt aus dem 19. Jahrhundert und schlägt sich verzweifelt die Hand ins Gesicht. Diese Figur passt nun mal perfekt zu meinem Roman, denn sie kann nach heutiger Sichtweise auch als der klassische Facepalm betrachtet werden. Erst später habe ich herausgefunden, dass genau diese Figur den entsprechenden Wikipedia-Artikel illustriert.
Der winzig kleine Marmorpimmel
Mir gefällt diese Figur sehr gut. Ich habe einen Fotografen gefunden, dessen Foto ich nutzen kann, und ich habe alles zu einem wunderbaren Cover zusammengefügt. Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht beachtet habe, ist der winzig kleine Marmorpimmel, der bei genauer Betrachtung der Figur durchaus sichtbar zwischen den Beinen liegt. Er ist wirklich nicht groß, er ist wie eine kleine Nudel, die noch nie viel Beachtung erhalten hat. Und ich habe ehrlich gesagt, nicht sonderlich darauf geachtet. Für mich war es wichtiger, dass der Marmor in der richtigen Farbigkeit zu sehen war, dass die Perspektive und die Größe der Skulptur stimmten und dass sich Schrift, Titel und Figur gegenseitig unterstützen.
Die erste Hürde: Amazon und Books on Demand
Dann habe ich das Buch veröffentlicht. Amazon hatte keine Probleme damit, dieses Cover online zu stellen. Ganz anders sah es bei Books on Demand aus. Vom Dienstleister, der das Taschenbuch produzieren soll, erhielt ich plötzlich die Information, dass sie dieses Cover nicht produzieren könnten. Die Begründung lautete, dass es diverse Shops gebe, die die Darstellung eines nackten Mannes mit einem offen sichtbaren Geschlecht ablehnen würden. Damit war mein erster Versuch, meinen Roman als Taschenbuch zu produzieren, gescheitert.
Die Suche nach der Alternativlösung
Und damit ging auch die Suche nach einer Alternativlösung los. Ich habe versucht, den Pimmel mit einem Feigenblatt zu verdecken, aber das sah schrecklich aus. Ich habe ihn wegretuschiert, aber prompt wirkte Kain ziemlich kastriert. Auch andere Versuche sahen optisch nicht besser aus. Zum Glück habe ich meine Versuche an diverse Kollegen und Kolleginnen verschickt und mit ihnen darüber diskutiert, was man denn jetzt am besten machen könnte. Meine Lieblingslektorin Anne schlug mir dann vor, ich sollte einfach einen schwarzen Balken über den Pimmel legen. Gesagt, getan. Und es sieht gut aus.
So sieht der Pimmel jetzt aus
Der schwarze Balken und die Selbstzensur
Jetzt hat meine pseudo-antike Skulptur also einen schwarzen Balken vor dem Gemächt. Und irgendwie gefällt mir das sogar ganz gut. Denn diese Variante spielt mit der Selbstzensur, der sich der Druckdienstleister unterwirft. In einem Telefonat mit einem Mitarbeiter des Dienstleisters erfuhr ich dann am Tag darauf, dass angeblich vor allem amerikanische Onlineshops sich weigern würden, Bücher mit der Darstellung männlicher Geschlechtsteile oder auch weiblicher Brüste in den Verkauf zu nehmen. Wir unterwerfen uns also dem amerikanischen Markt, anstatt uns an den deutschen oder europäischen Richtlinien zu orientieren. Für mich ist das ziemlich absurd.
Ein wiederkehrendes Problem
Dies ist nicht das erste Mal, dass ich mit dem Dienstleister Books on Demand aneinandergeraten bin, wenn ich Bücher bei ihm publizieren möchte. Beim letzten Mal war es die Tatsache, dass ich in einem Roman den sexuellen Kontakt zwischen einem 17-jährigen und einem 18-jährigen beschrieben habe. Auch in diesem Fall weigerte sich der Dienstleister, das Buch zu publizieren, mit der Begründung, ausländische Shops würden diese Bücher nicht ins Programm aufnehmen. Und für mich stellt sich sofort die Frage, wo wir eigentlich leben. Der Paragraph 175 ist vor 30 Jahren abgeschafft worden und das war zu diesem Zeitpunkt längst überfällig. Und trotzdem muss ich mich selbst beschränken und zensieren, damit meine Bücher auf den Markt kommen.
Der absurde Kampf um die antike Skulptur
Letztendlich hat die antike Skulptur auf meinem Buchcover für jede Menge Aufregung gesorgt. Ein winzig kleiner Marmorpimmel hat es geschafft, eine Debatte über Zensur, kulturelle Unterschiede und Selbstzensur auszulösen. Ich habe gelernt, dass die Buchbranche manchmal absurde Wege geht und dass man sich als Autor immer wieder neuen Herausforderungen stellen muss. Und wer weiß, vielleicht wird genau diese Geschichte eines Tages selbst zum Stoff für einen neuen Roman.
“Hey! Ich bin Matthias Wailersbacher, dein Autor für lebensfrohe Romane mit Tiefgang! Das geschriebene Wort ist meine größte Passion. Gefühle kreieren, Trost spenden, den Leser zum Träumen einladen – genau das fasziniert mich an der Literatur. Inspirieren lasse ich mich dabei von den großen und kleinen Geschichten des Alltags.”
So stellt sich der Autor des heutigen Blogartikels selbst vor.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Meinen ersten Roman „Hungrig nach Leben“ habe ich unter dem Nachnamen meiner Mutter veröffentlicht. Mittlerweile habe ich mein Pseudonym jedoch abgelegt und veröffentliche nun unter meinem Klarnamen.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Gebürtig bin ich aus der Pfalz und lebe seit einigen Jahren in Berlin. Wäre ich beruflich nicht an Deutschland gebunden würde es mich vermutlich nach Wien oder Zürich ziehen. Zu diesen beiden Städten habe ich jeweils eine ganz besondere Verbindung, weshalb sie auch in meinen beiden Romanen vorkommen.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin ich 😉 Ich bin ganz zufrieden mit mir und möchte niemand anderes sein.
Für wen schreibst du? Ich schreibe für die Menschen da draußen und möchte diesen durch meine Bücher Proviant mit auf den Weg geben: Mut, Motivation oder Inspiration zum Beispiel.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Das bin ich selbst. Das Schreiben ist meine größte Leidenschaft. Ich liebe es Geschichten zu kreieren, vollkommen in ihnen zu versinken und sie auf Papier zu bringen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Beim Schreiben muss es still um mich sein. Geräusche oder Musik lenken mich ab. Deshalb schreibe ich allein in meiner Wohnung, am Schreibtisch oder auch mal auf dem Sofa.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Meine Bücher sind kein Standard. Ich schreibe nicht die hundertste Liebesgeschichte, die nach Schema F abläuft. Meine Charaktere haben Ecken und Kanten, handeln auch mal unmoralisch, stehen sich selbst im Weg oder sind ungemein zynisch.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman (oder über das Buch, das du von deinen Büchern am liebsten magst). Mein aktueller Roman „Nirgendwo und doch zu Hause“ handelt von Raphael. Dieser lebt in der „Stadt der Gestörten“ (Berlin) und genießt sein Leben. Er hat einen interessanten Job, tolle Freunde und wechselnde Liebschaften. Doch gleichzeitig hat er auch keinen Plan, was er eigentlich vom Leben erwartet. Er lässt sich auf eine Affäre mit seinem besten Freund Nils ein und hofft, dass dieser seine Verlobte für ihn verlässt. Irgendwann steht Raphael vor einer Reihe von Entscheidung: Bleiben oder gehen? Lieben oder hassen? Abenteuer oder Alltagstrott?
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Bisher habe ich zwei Romane veröffentlicht. Hungrig nach Leben (aktuell nicht erhältlich) und Nirgendwo und doch zu Hause.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Aktuell arbeite ich an einer Kurzgeschichte für eine Anthologie. Daneben sammele ich gerade Ideen für ein neues Romanprojekt. Ich reise in ein paar Wochen nach New York und lasse mich von dieser Stadt einfach inspirieren. Auf meinen Reisen finde ich oftmals hervorragende Ideen.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Kurz nach der Veröffentlichung meines Debütromans schrieb mir ein Leser, wie sehr ihn die Geschichte berührt und mitgenommen hat. Gerade als Debütant freut einen so eine schöne Rückmeldung ganz besonders.
Lion Christ reist mit uns in die Mitte der 1980er-Jahre nach Bayern. Er nimmt uns zu Beginn mit in die Welt des Zivildienstes in einem Seniorenheim, wo sich der Protagonist Flori mit der eleganten Lady Frau Eichinger angefreundet hat und seinen letzten Tag des Dienstes feiert. Er ist auf der Suche nach der Liebe, nach einem Mann, der sein Leben mit ihm teilt. Doch auf dem Dorf ist das nicht so leicht. Daher zieht es ihn schnell in die nahe Metropole: Er geht nach München. Und hier taucht er in das pralle schwule Leben ein.
Im ersten Moment habe ich mich mit dem Text ein wenig schwer getan. Aber das hat ganz individuelle Gründe: Ich bin im Ursprung Norddeutscher. Das niedersächsische Platt liebe ich, denn es erinnert mich immer an die Haushälterin meiner Oma, die ich zwar nie richtig verstanden habe, deren Kittel aber immer so herrlich nach Putzmittel roch. Und nach dem bodenständigen Essen, das jeden Tag im Haus meiner Oma gekocht wurde. Auch das Ostfriesische haut mich immer wieder um, denn ich sitze dann sofort vor dem schwarz-weiß Fernseher meiner Eltern und folge dem Klamauk von Otto Waalkes. Und Hamburg mit seiner spröden Art und dem liebevollen Dialekt war seit je her die einzig denkbare Alternative zu Köln. All das liegt mir quasi im Blut. Doch das Süddeutsche, das Bayerische – damit konnte ich mich nie so recht anfreunden. Und Christ lässt seine Figuren durchaus Dialekt sprechen. Das war eine Herausforderung für mich!
Was hätte ich darum gegeben
Je tiefer ich mich auf dies Sprache und den Roman eingelassen habe, desto faszinierender fand ich ihn. Während des Lesens ist vieles aus meiner Jugend in mir wieder hochgekommen. Der Protagonist ist zwar etwa zehn Jahre älter als ich, aber die Erlebnisse sind ähnlich. Dann wiederum sind sie ganz anders als meine. Vielleicht wäre ich einfach gerne ein bisschen wie Flori gewesen. Vielleicht hätte ich gerne den Mut gehabt, seine Erfahrungen zu machen. Denn er hat immerhin seine ersten Schritte in die Selbstbestimmung in München getan. Für mich gab es damals nur Osnabrück und Münster, später dann Göttingen. Als ich nach Köln kam, hatte ich schon einen Teil meiner Naivität und Unbefangenheit verloren.
Der Protagonist laviert durch die Münchner Welt, er probiert sich aus und er ist dabei ständig mit der Angst vor der großen Schwulenseuche konfrontiert. AIDS schwappt gerade aus den USA nach Europa und versetzt die Szene in helle Panik. Es ist die zeit, in der niemand genau weißt, wie die Übertragungswege genau sind und wie eine Behandlung aussehen kann. Flori versucht alles, um sich nicht von der ständigen Unruhe und Angst anstecken zu lassen. Doch letztendlich geht die Krankheit in dieser Zeit an keinem in der schwulen Szene unbemerkt vorbei.
Wärmste Empfehlung für Sauhund
Mich haben die Sprache und die Geschichte letztlich magisch angezogen und ich habe jede Seite mit Genuss gelesen. Wir brauchen unbedingt mehr von diesen jungen Autor:innen, die sich unbefangen und offen den queeren Themen stellen und sie in Worte fassen. Ich bin sehr gespannt, was uns von Lion Christ zukünftig noch erwarten wird.
Aus dem Klappentext
München, 1983. Flori kommt vom Land und sucht das pralle Leben, Glanz und Gloria, einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Er ist ein unverbesserlicher Glückssucher und Taugenichts, ein Sauhund und Optimist. Im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury, von erstickendem Biedersinn und wildem Hedonismus, ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Flori rennt vor seinen Eltern davon, vor seiner ersten großen Liebe, vor jedem mit Erwartungen an ihn. Er wirft sich in die Clubs und Klappen, die heimlich zweckentfremdeten Ehebetten und Berührungen in aller Öffentlichkeit. Mit „Sauhund“ setzt Lion Christ Flori und allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.
Der Autor
Lion Christ, in Bad Tölz geboren, studierte Film und Literarisches Schreiben und lebt in Leipzig. Für seinen Debütroman Sauhund (Hanser, 2023) erhielt er das Münchner Literaturstipendium 2021.
368 Seiten Hanser Verlag Hardcover ISBN 978-3-446-27747-2 Preis: 24 €
Ja, in diesem Roman von Bryan Washington geht es um schwulen Sex. Und das nicht zu knapp! Cam ist der schwule Held der Geschichte. Als sein Freund stirbt, kehrt Cam an den Ort seiner Kindheit und seiner Teenagerzeit zurück. Nach Huoston, Texas. Das scheint auf den ersten, den europäischen Blick erst einmal nicht der geeignet Ort für einen schwulen Mann zu sein. Doch alles fügt sich, alles hat einen Sinn. Er, der seine Eltern schon in der Jugend verlor, hat eigentlich keinen richtigen Ankerpunkt in diesem Ort. Doch da ist dieser eine Freund, TJ, ein ehemaliger Kumpel aus der Schulzeit, dessen Eltern eine Bäckerei betreiben.
Schwuler Sex im Roman
Es ist die warmherzige Aufnahme durch den Freund der Vergangenheit, bedingungslos und aufgeschlossen, die mich in den Bann gezogen hat. Kontrastiert wird diese Welt von dem schier unstillbaren Bedürfnis nach Sex, das sich bei Cam in ständigen Begegnungen manifestiert. Im Grunde fickt er mit jedem. Überall. Wahllos. Und es dauert eine Weile, bis man kapiert, dass genau dieser Sex die Verarbeitungsstrategie ist. Irgendwie muss Cam mit dem dem Tod seines Freundes schließlich klarkommen.
Bryan Washington hat mit An einem Tisc inhaltlich einen tiefgründigen Roman geschaffen, der sprachlich immer wieder irritiert. Die Derbheit wirbelt den Leser und die Leserin stetig durcheinander und lässt keine Ruhe aufkommen. Und das ist vollkommen angemessen, denn wer einen sehr nahen Menschen verliert, kommt nicht zur Ruhe. Zumindest nicht, solange man den Abschied nicht abgeschlossen hat. Und das kann mitunter lange dauern. Nur wer sich den Herausforderungen des Lebens stellt, kann sie irgendwann überwinden. Und das funktioniert nur im Gemeinsamen mit anderen Menschen. Wer allein ist, hat verloren.
Der Klappentext
„Nach dem tragischen Verlust der Liebe seines Lebens hadert Cam mit allem, fühlt sich gestrandet und weiß nicht, wohin mit sich – und schottet sich gegen jegliche Hilfe, jegliche Zuneigung ab. Als er in Houston seinem alten Jugendfreund TJ über den Weg läuft, erfährt er, dass dieser immer noch im kleinen Restaurant seiner Eltern arbeitet, als Koch. Und nach und nach gelingt es dem warmherzigen und hartnäckigen TJ, Cam wieder ins Leben zurückzuholen, indem er ihn ins Familiengeschäft einbindet, ihn wieder zum Kochen bringt und ihm einen Weg zeigt, sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen. Wie sagt man so schön: Liebe geht durch den Magen.“
Der Autor
Bryan Washingtons Prosatexte und Essays erschienen u. a. in der New York Times, dem New York Magazine, Buzz Feed und One Story. Sein Schreiben wurde mehrfach ausgezeichnet: Für sein Debüt Lot, eine Kurzgeschichtensammlung, erhielt er den Dylan Thomas Prize, er war einer der Gewinner des National Book Award in der Kategorie “5 Under 35” und Preisträger des Ernest J. Gaines Award for Literary Excellence. Sein Romandebüt Dinge, an die wir nicht glauben ist in den USA ein Bestseller und wird als TV-Serie verfilmt. Er lebt in Houston, Texas.
Der Übersetzer
Werner Löcher-Lawrence ist u. a. der Übersetzer von John Boyne und Hilary Mantel und übersetzte für Kein & Aber Gabriel Krauze und Lisa McInerney
Irgendwann muss es einfach sein. Ich kann nicht so tun, als verkauften sich meine GayStorys von selbst. Also muss ich anfangen, meine Romane professionell unters Volk zu bringen.
Aber wo soll ich anfangen?
Viel zu lange habe ich aufs Onlinemarketing gesetzt. Ich habe geglaubt, meine Bücher über Facebook, Instagram und TikTok vertreiben zu können. Aber das ist eine Illusion. Zumindest für meine GayStorys funktionieren diese Wege nicht. Zudem scheinen mir die Sozialen Medien werbungstechnisch komplett tot geritten zu sein. Wir alle werden ständig mit Werbung zugeballert und klicken sie dann so schnell wie möglich weg. Das mache ich so. Das machst du so. Das machen vermutlich alle so. Dass ich ich mir dafür die Finger wundschreibe und mir ständig neue Ideen aus dem Hirn sauge, wie ich die Menschen erreichen kann, für die ich meine Bücher schreibe, das habe ich im Laufe der vergangenen zwei Jahre realisiert. Doch was ist denn die Alternative? Irgendwas muss ich ja tun, damit die Menschen da draußen von mir und meinen Romanen erfahren.
Nach und nach realisiere ich, wie wichtig die Realwelt fürs Marketing ist: Postkarten, Plakate, Flyer. Menschen halten sich in Bars und Clubs auf, sie nehmen Informationen auf und mit und hängen Postkarten zu Hause an den Kühlschrank. Ich muss also umdenken. Flyer habe ich natürlich längst. Die liegen wunderbar verborgen draußen auf einer Fensterbank in einer kleinen Kölner Nebenstraße. Manchmal habe ich ein paar von ihnen an anderer Stelle ausgelegt. Aber nicht im größeren Stil. Mir steht dabei meine Unsicherheit im Auftreten gegenüber unbekannten Menschen im Weg. Ich stehe mir selbst im Weg. Dabei ist es doch nachvollziehbar, dass es abschreckt, wenn die eigenen Flyer abgelehnt werden. Denn das ist jedes Mal auch eine Ablehnung der eigenen Arbeit.
Ausziehen für den Erfolg?
Aber noch etwas ist mir in diesem Zusammenhang aufgegangen. In den vergangenen Tagen habe ich mich aus der Komfortzone herausgewagt und bin mit meinen Flyern auf Buchhändler:innen, Cafébetreiber:innen und Ladenbesitzer:innen zugegangen. Die Reaktionen waren unterschiedlich und meist aufgeschlossen. Immerhin lebe ich in Köln und nicht in Voxtrup. Nichts gegen Voxtrup, aber die Kölner:innen sind ja doch viel mehr gewohnt und kennen den Umgang mit ihren Schwulen. Und dennoch war jede dieser Begegnungen ein kleines Outing. Das fühlt sich an, als würde ich mich in aller Öffentlichkeit nackt ausziehen. Warum? Weil ich als männlicher Autor von schwulen Geschichten meinem Gegenüber suggeriere, dass ich selbst schwul bin. Bin ich ja auch. Und genau das macht es nicht leichter, denn ich kann ja nicht behaupten, die Bücher hätten nichts mit mir zu tun.
Virtualität versus Realität – die GayStorys
Online kann ich mich hinter dem Bildschirm verstecken und wegklicken, was mich stört. Auch wenn es schmerzt, beschimpft zu werden. In der Realwelt kann ich mich nicht so leicht wegducken wie online. Da stehe ich nunmal vor einem Hausmeister in der Unimensa oder der Bäckereiverkäuferin und weiß nicht, ob die mich gleich eingehend betrachten. Und das tun sie immer. Ganz egal wie weltoffen sie sind.
Ergo: Dieser Weg funktioniert für die GayStorys nur bedingt. Über die schon erwähnten Herausforderungen heraus erreiche ich mit diesem Weg aber auch nur die Orte in meinem direkten Umfeld. Schon in den Kölner Stadtteilen, die nicht auf meinem Weg liegen, kann ich meine Bücher nicht präsentieren, ohne großen Aufwand zu betreiben. Andere Städte fallen komplett raus.
Die professionellen Anbieter
Natürlich gibt es diverse Anbieter auf dem Markt, die routiniert Postkartenständer in der Gastronomie bestücken. Die könnten das hervorragend für mich erledigen. Ich habe mir dafür einfach mal Angebote schicken lassen. Im Grunde sind die Zahlen nicht vollkommen abwegig. Doch wenn ich genauer hinsehe, fallen mir die großen Streuverluste ins Auge. Die Anbieter haben feste Touren, auf denen sie beispielsweise die Bars und Clubs in einem bestimmten Kölner Stadtteil beliefern. Aber selbst bei einer Tour durch die queeren Szenekneipen sind aufgrund der räumlichen Nähe zahlreiche Locations dabei, in denen sich meine Zielgruppen absolut nicht aufhalten. Dadurch versenke ich massenhaft Geld. Das sehe ich nicht nur nicht ein, das rentiert sich auch nicht, weil ich die Ausgaben durch die potentiellen Abverkäufe nicht reinkriege. Das ist ein relativ einfaches Rechenmodell.
Ich habe mir natürlich auch die Preise in Szenezeitschriften und anderen Magazinen angesehen: Die sind im Verhältnis zu den zu erwartenden Buchverkäufen vollkommen absurd. Letztendlich verdienen an diesen Modellen immer andere. Google, facebook, Instagram, TikTok. Werbeagenturen, Verlage, Amazon. Bei den Autor:innen bleibt in diesem Systemen nur ein kümmerlicher Rest hängen. Und meine Meinung dazu ist: Das darf nicht sein!
Jetzt kommst du ins Spiel!
Ich muss also meine Community engagieren. Aber wie soll das gehen, ohne satte Prämien anbieten zu können? Wie schaffe ich es, dass du mir auf den Leim gehst? Womit kann ich dich locken? Was brauchst du, damit du mich in meiner Arbeit unterstützt?
Ich bin ratlos!
Ich weiß es nicht mehr. Gratisgeschichten für eine Eintragung in meinen Newsletter funktionieren nicht, wenngleich das marketingseits lange hochgelobt wurde. Eine regelmäßige Fortsetzungsgeschichte nur für Abonnent:innen greift leider auch nicht. Das Angebot von digitalen Bücherpaketen für diejenigen, die meine Flyer in ihrer Stadt an geeigneten Orten auslegen, scheint ebenfalls nicht reizvoll genug zu sein.
Was brauchst du?
Ich versuche es trotzdem weiter. Denn es muss ja sein. Ohne Werbung wird die Welt da draußen nicht erfahren, dass es mich und meine Bücher gibt. Also rufe ich es in die Welt hinaus: Bitte unterstützt mich in meinem Tun. Bitte legt meine Flyer in Clubs und Beratungsstellen aus. Bitte erzählt anderen Menschen von meinen Geschichten. Postet meine Bücher in euren Accounts und gebt in Onlineportalen eure Bewertungen ab. Bist du in deiner Stadt auf dem CSD aktiv und ihr habt einen Stand? Perfekt! Da müssen meine Flyer liegen! Bist du regelmäßig an queeren Orten? Dann nimm noch bitte beim nächsten mal ein paar meiner Flyer mit.
Und ich wiederhole mein Angebot: Wer meine Flyer auslegt, bekommt von mir das ganze Paket der GayStorys für den Reader zugeschickt.
Dieser historische Roman von Tom Crewe, der sich nicht streng an die tatsächlichen Ereignisse seinerzeit hält – so betont es der Autor – hat mich ziemlich in den Bann gezogen. Er startet im Jahr 1894. In einer Zeit, in der der damals aufsehenerregende Prozess gegen Oscar Wilde in London abgehalten wurde. Durch diesen Prozess wurde Ende des 19. Jahrhunderts das Thema der queeren Menschen zwar auf die Titelseiten der Presseorgane gehoben, auf der anderen Seite war dieser Prozess aber auch ein Schock für die Menschen im Königreich, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen. Genau in dieser Zeit entscheiden sich der Wissenschaftler John Addington und der intellektuelle Henry Ellis, zusammen ein Buch über die Invertierten zu schreiben, also über queere Menschen.
Obwohl die beiden in der gleichen Stadt leben, konzentriert sich ihr Kontakt lange Zeit auf den Austausch von Briefen. Sie einigen sich über die Strukturen und beginnen Fallbeispiele schwuler Menschen zu sammeln und aufzuschreiben. Schon das war ein gefährliches Unterfangen. Und die Männer, die mir ihnen zusammenarbeiteten, legten großen Wert auf Anonymität. Ein offenes Outing wäre dem gesellschaftlichen Tod gleichgekommen. Man muss dazu wissen, dass zu diesem Zeitpunkt in anderen europäischen Ländern, wie beispielsweise Deutschland und Frankreich die Strafen für Homosexuelle Handlungen zwischen Männern bei weitem nicht mehr so hoch waren, wie sie im Vereinigten Königreich waren.
Dass wir heute in einer freien Welt leben, in der alle gleichberechtigt heiraten können, in der wir jeden lieben können, den wir wollen, und nicht mehr von staatlicher Seite Repressalien befürchten müssen, ist die Folge einer sehr langen und für die Beteiligten oft qualvollen Entwicklung. Der Paragraph 175 ist erst seit Mitte der Neunzigerjahre aufgehoben. Heiraten dürfen wir erst seit wenigen Jahren. All das sollten wir nie vergessen. Und leider müssen wir uns auch immer wieder klarmachen, dass gesellschaftliche und intellektuelle Rückschritte zum Weltgeschehen gehören. Das, was wir heute leben dürfen, kann in ein paar Jahren schon ganz anders aussehen. Man denke beispielsweise daran, welche Umfragewerte die AfD aktuell erreicht. Diese unsägliche Partei in der Regierung eines Bundeslandes oder gar in der Bundesregierung zu sehen, erfüllt mich immer wieder mit Grausen. Da ist nicht nur das rückwärtsgewandte Familienbild und die mittlerweile offen ausgesprochene Remigration ein Thema, sondern darüber hinaus und über Allem schwebend der permanent geschürte Hass gegen alle Menschen, die nicht dem Weltbild der AfD entspricht.
Es waren Menschen wie die beiden Hauptfiguren dieses Romans, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Grundsteine für eine zunehmende Offenheit und Toleranz von queeren Menschen legten. Auch in Deutschland gab es solche Personen in der Geschichte, wie beispielsweise Magnus Hirschfeld, der in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft leitete und immer wieder für die Anerkennung und Gleichberechtigung schwuler und lesbischer Menschen gefochten hat. Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt aus dem Jahr 1971 ist ein weiterer Meilenstein der Emanzipation. Dem Kölner Volker Beck, der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, verdanken wir letztendlich die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben. In der Gegenwart ist es der grüne Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann, der die queeren Themen an vorderster Front für uns weiter aktuell hält. Ich bin diesen Menschen immer wieder dankbar für Ihren Einsatz und die unermüdliche Arbeit.
Es sind Wissenschaftler:innen und Literat:innen, Politiker:innen und Künstler:innen, unsere Nachbarn:innen und die Freund:innen, die an unserer Seite für Gleichberechtigung und Anerkennung kämpfen. Nicht alle Persönlichkeiten aus der Vergangenheit haben wir immer auf dem Plan. Umso wichtiger ist es, dass es Bücher wie dieses gibt, die uns tief in die Geschichte der schwullesbischen Bewegung führen, die uns immer wieder vor Augen halten, dass das Leben, dass wir heute führen, nicht selbstverständlich ist.
In diesem Sinne sei all denjenigen, die die Sinnhaftigkeit des CSD infrage stellen, weil wir ja doch jetzt alle Rechte haben, vor Augen geführt: Ja, bei uns sieht aktuell ganz gut aus. Aber in vielen unserer Nachbarländer, mit denen wir in politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen verbunden sind, ist die Situation weiterhin eine Katastrophe. Polen und Ungarn sind die Länder in unserer direkten Nähe, in denen Schwule und Lesben nicht das Leben führen können, dass sie leben wollen. Etwas weiter entfernt brüstet sich Russland mit seinem Verbot, LGBTQ-Themen in irgendeiner Weise zu thematisieren. Und mich erreichen immer wieder Unterschriftenlisten und Spendenaufrufe, die sich mit der unsäglichen Situation in der Demokratischen Republik Kongo oder in Uganda beschäftigen. Ich könnte diese Liste ewig weiterführen. Und jedes Mal bin ich froh, dass ich so leben darf, wie ich will. Auch wenn ich selbst dafür viele Federn lassen musste und selbst heute noch Anfeindungen und Spott ertragen muss.
Katerina Solwanowa/Elena Malisowa: Du und ich und der Sommer
Ich weiß nicht mehr genau, wo ich über dieses Buch gestolpert bin. Irgendwo in den Sozialen Medien. Vermutlich bei Instagram. Angeblich soll der Roman in Russland bei TikTok einen regelrechten Hype ausgelöst haben. So las ich es zumindest. Der Verlag wirbt daher auch auf dem Cover mit einem roten Sticker und dem Wortlaut „Der verbotene Bestseller aus Russland, der TikTok zu Tränen rührt!“ Mich hat das sofort getriggert. Vor allem, weil die beiden Autorinnen aus Russland und der Ukraine stammen und Projekte, die von Menschen dieser beiden im Krieg verwickelten Nationen gemeinsam auf die Welt gebracht werden, einer kleinen Friedensmission gleichkommen. Und dann ist dies auch noch ein russischer Roman mit schwulen Protagonisten. In meinen Augen stimmte da einfach alles und ich musste mir das Jugendbuch kaufen.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Zwei junge Männer, siebzehn und neunzehn Jahre alt, treffen in den 1980er-Jahren in einem Ferienlager aufeinander und verlieben sich. Die Sowjetunion befindet sich mitten im Kalten Krieg, die Ukraine ist von einer Unabhängigkeit weit entfernt und queere Menschen gibt es in der allgemeinen Wahrnehmung nicht. Wir befinden uns also in einem Pulverfass für Schwule. Zwanzig Jahre später macht sich in der Rahmenhandlung der Protagonist auf die Suche nach seiner vergangenen Liebe und reist an den Ort des Geschehens, wo er auf die Trümmer des Ferienkomplexes trifft.
Damit ist die Grundlage für ein herrliches Jugenddrama gelegt. Und nichts spricht dagegen, das auch in allen Details durchzuspielen. Mit entsprechenden Erwartungen bin ich also in die Lektüre eingestiegen. Dass ich dabei mit mir weitgehend fremden Kontexten konfrontiert werde, habe ich dabei erwartet. So will ich das ja auch, wenn ich ein Buch lese. Wenn ich alles schon kenne, dann wird es schnell zäh und langweilig. Ich brauche also Neuerungen und Herausforderungen. Und davon gibt es in diesem Roman wirklich genug.
Die beklemmende Enge der sowjetischen Gesellschaft stülpt sich dem Leser sofort entgegen. Die Hierarchien und der Pioniergeist erscheinen mir fremd und erschweren mir den Zugang. Unweigerlich stelle ich mir immer wieder die Frage, ob ich diesen Roman anders lesen würde, wenn ich im Osten Deutschland aufgewachsen wäre. Dann hätte ich zumindest einen persönlichen Bezug zu den beschriebenen Strukturen. Da ich jedoch die ersten zwanzig Jahre meines Lebens in Niedersachsen verbracht habe, muss ich mich auf ungewohnte Wege einlassen. Und das fällt mir in diesem Kontext durchaus schwer. Alles in mir sperrt sich gegen diese Welt der Befehle und des Gehorsams, gegen die psychische Gewalt, die den Kindern in dem beschriebenen Lager angetan wurde, gegen die vielen Einschränkungen und Entbehrungen. Aber das war nicht der Grund für meine Resignation gegenüber dem Text. Diese Welt hat meine Entscheidung, den Roman nicht zu Ende zu lesen, lediglich unterstützt.
Andere Gründe waren gewichtiger. Da ist zum Beispiel die immer wieder sperrige Sprache. Natürlich befinden wir uns in den 80er-Jahren und damals sprachen die Menschen anders als heute. Aber sollte sich das nicht letztendlich auf die Dialoge beschränken? Sind die darüber hinausgehenden Abschnitte nicht der Gegenwart und ihrer Sprache entsprungen? Interessant wäre es geworden, wenn zwischen den Dialogen und den Erzählsequenzen eine sprachliche Spannung und Diversität bestehen würde. Das Jugendbuch verharrt aber durchgehend in der Vergangenheit und schafft an keiner Stelle den Sprung durch die Zeit.
Darüber hinaus ist die Handlung voller erfüllter Erwartungen. Selbst die großen Wendungen des Plots werden so beschrieben, als hätte der Leser sie nicht im Vorfeld absehen können. Aber zumindest diejenigen, die schon ein paar Bücher gelesen haben, bringen ja auch ihre Leseerfahrungen mit. Und wenn ich immer schon ein paar Seiten vor der Auflösung eines Coups weiß, wie die Figuren reagieren, dann verliere ich schnell die Lust an der Lektüre.
Und dann ist da noch die geringe Tiefe der Figuren, die mich zur Aufgabe bewegt hat. Die beiden Hauptfiguren bleiben ungewöhnlich blass und farblos. Ich konnte und wollte mich mit keinem der beiden identifizieren und habe mich ständig gefragt, warum die so handeln, wie sie handeln.
Alles in allem ist es sehr schade, dass die beiden Autorinnen nicht mehr aus der Geschichte gemacht haben. Wieso ihr Jugendbuch in Russland angeblich so sehr gehyped wurde, erschließt sich mir nicht richtig. Ich kann lediglich vermuten, dass es in der russischen Literatur nur wenig Jugendromane mit queerer Thematik gibt und daher jeder publizierte Text dieser Art gefeiert wird. Aber der russische Buchmarkt ist ein anderer als der deutschsprachige. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass deutsche Jugendliche auf diesen Roman abfahren.
Möglicherweise liege ich mit meiner Eischätzung aber auch vollkommen falsch. Eventuell habe ich nicht den richtigen Zugang gefunden, vielleicht waren meine Erwartungen zu hoch gesteckt. Oder ich bin tatsächlich zu alt und zu leseerfahren für dieses Buch.
Daher würde ich mich wahnsinnig freuen, wenn sich hier der eine oder die andere findet, die mir ihre und seine anderslautenden Erfahrungen mitteilt.
Nun bin ich schon eine Weile um Douglas Stuarts Buch Young Mungo herumgeschlichen, bevor ich mir es gekauft habe. Jetzt ist es also geschehen und ich habe es nicht bereut.
Die Geschichte ist in den 1990er-Jahren im schottischen Glasgow angesiedelt,. Und je länger ich das Buch auf mich wirken lasse, umso glücklicher bin ich, dass ich in jener Zeit am Stadtrand von Osnabrück aufgewachsen bin. Auch wenn meine Welt nicht frei war von Homphobie – welch ein verrücktes Wort, das eigentlich Schwulenhass heißen müsste, denn eine Phobie lässt sich ja heilen – so war sie doch deutlich harmloser und friedvoller als das, was Douglas Stuart in seinem beeindruckenden Roman YOUNG MONGO erzählt.
In meiner Blase unvorstellbar
Heute ist die darstestellte Aversion gegen Schwule fast gar nicht mehr vorstellbar. Allerdings schrieb ich schon in einem anderen Blogartikel, dass ich in einer heilen Blase aus linksgrünversiffter Toleranz lebe und mich damit sehr wohl fühle. Denn wer hat schon Lust, sich permanent für sein Leben und seine Liebe verteidigen zu müssen?
Doch das, was der fünfzehnjährige Protagonist Mungo in diesem Roman erdulden muss, ist nicht nur der Hass und die angedrohte Gewalt. Er ist tatsächlich auch mit körperlichen Übergriffen konfrontiert. An dieser Stelle sei auch eine Triggerwarnung für all diejenigen vorgebracht, die nichts über sexuelle Gewalt lesen möchten. Denn das Dramatische an Mongos Erlebnissen ist die mehrfache Vergewaltigung durch zwei Männer, denen er von seiner Mutter vollkommen unbedarft mitgegeben wird. Gleichzeitig legt die Beschreibung seines Umfeldes auch die unmenschliche Gesellschaft offen, in der er aufwächst. Im Grunde sind um ihn herum alle Erwachsenen Alkoholiker, zumeist arbeitslos und ausgesprochen gewalttätig.
Realität oder Fiktion?
Natürlich hat sich mir beim Lesen des Romans die Frage gestellt, ob Stuart diese Gesellschaft realistisch beschreibt. Ich bin noch nie in Glasgow gewesen und ich kenne auch nicht allzuviele Berichte aus der britischen Gesellschaft jener Zeit. Allerdings gibt es zwei Filme, die mich nachhaltig beeindruckt haben und die in das Setting ungefähr hineinpassen: BILLY ELLIOT – I WILL DANCE und BEAUTIFUL THING. Beide Filme sind zwar nicht in Schottland angesiedelt, aber das Melieu und die Zeitumstände sind vergleichbar. Und was ich aus diesen Filmen kenne, ist nicht gerade das Paradies für junge Schwule, die aus dem Schrank raus wollen. Und genauso stellt sich die Situation von Mungo dar: Er wächst in einer Zeit und einer Umgebung auf, die ich keinem Menschen in seiner Situation wünsche.
Stuart beschreibt aber nicht nur die abgründigen Umstände aus Mungos Leben. Vielmehr widmet er sich sehr liebevoll der Annäherung an den etwas älteren James, der die Demütigungen des Coming-outs schon hinter sich hat und bei dem Mungo so sein kann, wie er ist. Dies sind die Szenen, in denen Hoffnung selbst in der aussichtslos scheinenden Wirklichkeit aufblitzt.
Zurück in die 90er
YOUNG MUNGO ist ein wunderbarer Roman über das Coming-out in einer wahrlich abstoßenden Umgebung. Und selbst wenn ich es in meinem Leben deutlich leichter gehabt habe, so fühle ich mich doch über weite Strecken in meine eigene Jugend zurückgeworfen. Manches scheint einfach unfassbar, und wer Erniedrigungen ähnlicher Art nicht am eigenen Leib erfahren hat, wird vermutlich die daraus resultierende Wut nie nachvollziehen können.
Auf Deutsch erschienen bei Hanser Berlin. Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz.
Mit Norwegen verbindet mich ein großer Haufen Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend. Mit Schweden noch mehr. Aber das steht jetzt nicht zur Diskussion. Aus Skandinavien kommen nicht nur fantastische Krimis und Thriller, sondern auch immer wieder hervorragende Kinder- und Jugendbücher. Astrid Lindgren ist uns allen ein Begriff und kaum einer von uns hat keines ihren Bücher bei sich im Regal stehen. Sofies Welt von Jostein Gaarder haben auch viele gelesen oder es zumindest versucht. Und immer wieder stehen skandinavische Kinderbücher auf den Shortlists der Literaturpreise. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass die Schweden, Dänen und Norweger (für die Isländer und Finnen kann ich das nicht so genau sagen) Bücher für Kinder und Jugendliche als ebenbürtige Literatur begreifen. Die Titel werden in den üblichen Medien genauso besprochen wie die Belletristik für Erwachsene. Anders als in Deutschland, wo nicht nur zwischen ernster Literatur und Unterhaltungsliteratur unterschieden wird, sondern natürlich auch für Kinder- und Jugendbücher nur in Ausnahmefällen eine Sonderseite in einer überregionalen Zeitung erscheint. Fakt ist, dass Bücher für Kinder und Jugendliche in Deutschland vom Feuilleton so gut wie nicht wahrgenommen und nur selten besprochen werden.
Die Skandinavier sind anders Die Skandinavier begreifen Kinderbücher und Jugendbücher also gleichwertige Literatur. Die Verlage sind mutiger und nehmen auch Titel in ihre Programme auf, die nicht den Standards entsprechen. In Deutschland beschränkt man sich diesbezüglich meistens auf ausländische Lizenzen und Übersetzungen, denn dann weiß man ja als Verlag, dass das Buch (im Ausland) schon einmal funktioniert hat.
Eines der Werke, das auf diese Weise den Weg in den deutschen Buchhandel gefunden hat, ist der Roman Ey hör mal! von Gulraiz Sharif, den ich gerade gelesen habe. Im Fokus der Geschichte steht der fünfzehnjährige Ich-Erzähler Mahmoud, der mit seiner Familie im Osten Oslos lebt. Der Vater ist Taxifahrer und die Mutter putzt in der Universität die Klos. Bis hierher ist es die Geschichte einer ganz normalen ausländischen Familie, die sich in Norwegen damit abgefunden hat, zur Unterschicht zu gehören.
Aber dann ist da noch Mahmouds kleiner Bruder Ali, zehn Jahre alt, der den Schmuck seiner Mutter, Schminkvideos bei YouTube und Barbies liebt. Und der seinem großen Bruder mitten in den Sommerferien, gerade als ein Onkel aus Islamabad zu Besuch ist, erzählt, dass er im falschen Körper gefangen ist und lieber ein Mädchen wäre. Bämm!
Mahmoud versucht nun, das Outing seines Bruders beziehungsweise seiner neuen Schwester zu organisieren. Und das bringt ihn ganz schön ins Schwitzen. Die ganze Familie – einschließlich des Onkels – muss sich mit den Veränderungen auseinandersetzen und den Weg der Emanzipation gehen. Anders geht es nicht.
Oslo, die wunderbare Stadt – zumindest im Sommer Dieser Roman löst bei mir eine Menge Erinnerungen und Gedanken aus. Da ist natürlich zum Einen die Stadt, die in der Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Oslo ist mit immerhin 700.000 Einwohnern die größte Stadt Norwegens, in der sich ein wichtiger Teil der Kultur des Landes abspielt. Und ich bin oft in Oslo gewesen, wenn ich in Schweden meinen Urlaub verbracht habe. Ich erkenne die Orte des Buches wieder und schwelge in Erinnerungen an die schönen Zeiten, die ich im Frognerpark, auf Aker Brygge und in Grønland verbracht habe. Ich erinnere mich an die kleinen Cafés mit dem fantastischen Möhrenkuchen, an die Bilder von Edvard Munch und das Museum mit dem Forschungsschiff FRAM. Wobei man ganz klar sagen muss: Im Sommer ist es deutlich schöner in Oslo als im Winter. Denn sobald die Touristen weg sind, stirbt diese Stadt einen elenden Tod in die depressive Dunkelheit und wacht erst wieder auf, wenn im nächsten Frühjahr die Segler aus dem Süden erneut in den Häfen anlegen.
Norwegen ist vollkommen anders als Deutschland Gedanken löst der Roman von Gulraiz Sharif aber auch hinsichtlich des Outings des kleinen Ali aus. Die Skandinavier sind uns gesellschaftlich immer viele Jahre voraus. Die Rechte von queeren Menschen werden dort schon viel länger unter den Schutz des Staates gestellt. Die Aufklärung ist deutlich weiter fortgeschritten. So wird in dem Roman mehrfach darauf hingewiesen, dass queere Menschen in der durchschnittlichen Familie der „norwegischen Norweger“ im Grunde zum Alltag gehören. Hier treten also drei Unterschiede zutage. Erstens die Unterscheidung zwischen den norwegischen Norwegern einerseits und den pakistanischen Norwegern andererseits. Zweitere leben in einer Parallelgesellschaft, in der das Outing eben noch nicht zur Tagesordnung gehört. Zweitens die Unterscheidung zwischen einem schwulen/lesbischen Outing hier und dem Trans-Outing dort. Es scheint fast so, als sei das „normale“ Outing in Norwegen längst kein Problem mehr (mal abgesehen von den Parallelgesellschaften) und man gehe jetzt zur nächsten Stufe über. Was gut ist. Und drittens ist da der Unterschied zwischen Norwegen und Deutschland. Während die Queerness in einem skandinavischen Land offenbar keiner Erwähnung mehr bedarf, sieht es bei uns immer noch ganz anders aus. Die Statistiken berichten von einer steigenden Anzahl an Übergriffen auf queere Menschen. Und das ist alles andere als gut.
Ich habe Ey hör mal! von Gulraiz Sharif mit Begeisterung gelesen und lege es euch wärmstens ans Herz!
Auf Deutsch erschienen im Arktis Verlag Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim und Sarah Onkels
Hiroki Jäger hasst Tomaten und ist nicht gut im Erklären. Daher hat sie sich hingesetzt und geschrieben und geschrieben. Sie ist nicht gut im Reden, daher wollte sie unbedingt lernen, sich besser auszudrücken und … Plötzlich sind da diese Charaktere in ihrem Kopf entstanden, die sie lautstark genervt oder ihr eine Mappe über den Kopf gezogen haben, damit sie endlich ihre Geschichte schreibt. Eigentlich ist sie nur deren Marionette und wird so lange fertig gemacht, bis sie liefert.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Jaein. Seit mindestens 6 Jahren kennen mich viele Leute unter dem Namen Hiro und für mich ist es total selbstverständlich so angesprochen zu werden. Daher dachte ich bei meinem ersten Buch dann so: „Hey, dann nehm ich einfach Hiro!“
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich wohne in der Nähe von Köln und obwohl ich früher immer weg wollte, will ich inzwischen gar nicht mehr woanders hin.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin Hiro und wenn es ginge, wäre ich gerne ein Frosch, der auf einem Seerosenblatt wohnt. Am besten in einem Ghibli Film. ?
Für wen schreibst du? Für mich. Ich kann nur schreiben, was ich mit ganzem Herzen fühle. Zwar schlägt das nicht bei der großen Masse ein, aber ich kann nur diese Sorte Buch schreiben. Wenn es dann noch Leser*innen findet, schmelze ich innerlich, weil es mich so freut, dass jemand Mein Buch liebt! Das ist so ein Wahnsinnsgefühl. Daher: tut mir leid, dass ich keine Bücher schreiben kann, die gefragt sind, aber ich kann euch 100% Hiro Bücher versprechen. ☺️
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Das Leben, meine Charaktere im Kopf, die plötzlich aufploppen… Manchmal reicht es auch schon einen Namen zu hören und mein Kopfkino geht los … Es ist nicht aufzuhalten.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Ich schreibe queere Liebesromane. Vor allem mag ich es, auch Asexuellen eine Plattform zu bieten, da auch sie ihre Liebesgeschichten verdient haben. Denn auch, wenn es in vielen Büchern nicht benannt wird, schreibe ich meistens eine Person, die unter den Ace-Umbrella gehört. Ansonsten ist es zu 100% mit M/M Protagonisten. Manchmal Liebe auf den ersten Blick und manchmal braucht es auch hundert Anläufe, bis die Protas erkennen, dass ihr Seelenverwandter direkt vor ihnen sitzt.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Alle haben eine einzigartige Connection zu ihrem Love Interest. Außerdem sind mir Ecken und Kanten wichtig, denn niemand ist perfekt! Und wenn sie sich verlieben, dann mit Herzblut und sie würden alles stehen und liegen lassen für den anderen. Man kann mit ihnen lachen, weinen und für immer ins Herz schließen. Außer Serik, sonst kommt Aleksei vorbei und das gibt Ärger!
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Weil die Leser*innen viel aus meinen Büchern mitnehmen können. Von Asexualität, über Mental Health und den Umgang mit Unsicherheit und schwierigen Zeiten. Meine Bücher erweitern den Horizont und den Blick auf die wahre Welt. Außerdem können die Leser*innen in die Liebesgeschichten eintauchen und diese besondere Bindung mit den Protagonisten teilen. Durch dick und dünn, Streit und Kummer zu einem Happy End.
Erzähl doch bitte ein wenig über das Buch, das du von deinen Büchern am liebsten magst Das ist super schwer und emotionsabhängig bei mir. Im Moment ist es aber „Meermannkuss“, weil mein Meermann Edin so voller Liebe für die Menschen und die kleinen Dinge im Leben ist, dass mich das einfach ansteckt. Manchmal möchte ich die Welt auch durch seine Augen sehen und die Wunder erkennen, die wir für selbstverständlich halten.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Ein Spatz auf dem Eis Meermannkuss Zirkuslichter 1 (Teil 2 kommt bald) Hand in Hand den Bach runter
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Im Moment sitze ich an Teil 3 & 4 der Zirkuslichter Reihe!
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? “Am besten hat mir gefallen, wie reich an Nuancen die Charaktere geschildert werden. Sie sind weit ab von Schwarzweiß-Malerei, sind Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften, und wo sie schlecht sind, ist das auch erklärbar. Das heißt, auch ausgesprochene Fehltritte bedeuten nicht, dass die ganze Person verdammt wird. Keine Aufteilung in Opfer und barmherzige Samariter – ein Schema, das ich besonders kritisch sehe, ist hier nicht vorhanden. Die Personen sind aus eigener Verantwortung handelnde Helden oder auch das Gegenteil. Die Protagonisten sind so liebenswert, dass man gern mehr von ihnen lesen würde, denn es ist durchaus noch denkbar, dass ihre dramatischen Schicksale in der Vorgeschichte und auch die schillernden Nebenfiguren mehr Stoff hergeben könnten.”
“Es geht nicht immer wild und laut zu, oft leiser und zart”
Nina Kay schreibt schon seit sehr vielen Jahren und veröffentlicht seit 2020 queere New Adult Romance, echte Geschichten von Realitäten, die lieber nicht gesehen werden wollen. Oder sollen, je nachdem.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Ja, mein Verlagsdebüt war ausschlaggebend für Nina Kay, da ich mit zweitem Vornamen Kristin heiße und sich das anbot 😊
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? In Bielefeld, und ich will niemals woanders sein. Home is where my Town is.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin Nina und das passt am besten zu mir.
Für wen schreibst du? Für alle, zumindest versuche ich das, vor allem die jungen Menschen zwischen 18 und 25, um ihnen dieselbe Freude und Leidenschaft an und für Literatur zu schenken, die ich schon so früh empfunden und sie später auch studiert habe. Und, was mich besonders freut, auch für queere Menschen, schwule, bisexuelle, pansexuelle Männer, deren Rückmeldungen mir nochmal besonders viel bedeuten. Ich möchte Raum schaffen für jede*n, der*die ihn braucht, da ich selber lange nicht genug hatte.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Die vielen unerzählten Geschichten, die hier und da auftauchen und dann wieder in den schnelllebigen Weiten der Gegenwart verschwinden. Das können Stichworte sein, die fallen, oder Fotografien, Bildausschnitte, Gesichtsausdrücke, Songtexte, Orte. Ich habe ein ganzes Leben lang viele viele Leben zu erzählen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? An meinem Schreibtisch, ich bevorzuge meine gewohnte, sichere Umgebung und absolute Stille. Früher immer mit Musik im Ohr, heute nicht mehr.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Mein Stil, wenn ich auf die Rückmeldungen meiner Lesenden schaue. Ich schreibe nicht einfach, recht poetisch, verschachtelt, aber das gibt die Sprache her und ich nehme, was ich kriegen kann, um sie voll auszuschöpfen. Meine Männer sind nicht stereotyp. Wer sich gern leiten lässt – und das ist vollkommen legitim – von festen Rollen und Reaktionen, ist bei mir eher nicht richtig. Sie dürfen alles sein, und das sind sie auch, was mich beim Erzählen auch so immens erfüllt.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Weil es wahre Geschichten sein können, und weil ich den wichtigsten Abschnitt im Leben junger Menschen erzähle. Wer sich zudem richtig tief reingraben will in diese Momentaufnahmen, ist bei mir genau richtig. Es geht nicht immer wild und laut zu, oft leiser und zart, aber das mag ich so an der Darstellung von Männlichkeit. Sie wird aufgebrochen und das, was man kennt, neu definiert.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman (oder über das Buch, das du von deinen Büchern am liebsten magst). Da ich keine Lieblingskinder habe, nehme ich mein aktuellstes Buch: As I Leave. Ich erzähle darin zwei sehr amerikanische Lebensrealitäten. Die von Jean, der aufgrund eines sehr schlimmen Erlebnisses das Haus nicht mehr verlassen kann und tiefe Wunden erlitten hat, und von Elia, der verzweifelt versucht, dazuzugehören, ausgerechnet zu dieser schlimmen Realität. Es ist ein leises und ruhiges Buch und ich musste an vielen Stellen innehalten und nachsehen, zudem hat mir die kulturelle Thematik nochmal ganz andere Formen der schreiberischen Achtsamkeit und Verantwortung abverlangt.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Insgesamt 6, davon 4 queere New Adult-Romane. Mercy Me ist mein eBook only-Verlagsdebüt, darauf folgte meine All-Dilogie, All The Fucks We Give und All The Nights We Stay (hetero mit queerem Nebenstrang) um die Kent-Brüder Julien und Miguel. Some Say We Won’t kam danach, dann Baby, Don’t You Cry und seit Juli diesen Jahres As I Leave.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Ich nenne es Projekt NicoundAshley, da ich meine Titel immer erst wenige Tage vor Release reveale. Es sollte eigentlich eine eher ruhige Geschichte werden, aber ich merkte sehr schnell, dass sie genauso fordernd und tief ist wie der Rest meiner Bücher. Sie spielt zum Teil wieder in New York, wie schon Some Say, und ich bin fasziniert von der Dynamik der Stadt und wie viel und VIELfältig sie erzählen kann. (Als ich vor 8 Jahren selbst dort war, konnte ich schon einen ersten Eindruck gewinnen, und es wird wohl immer meine erste und tiefgreifendste Erfahrung in den Staaten bleiben.)
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Ich werte da sehr ungern, da ich wirklich unglaublich gute, differenzierte Rezensionen und Nachrichten egal welchen Geschlechts bekomme. Wenn ich wählen muss an dieser Stelle, nehme ich die Nachrichten von jungen queeren Männern, denen meine Geschichten den Mut gaben, sie selbst zu sein, und ihnen ein wenig die Angst vor der Welt nahmen.
Benjamin Alire Sáenz: Die unerklärliche Logik meines Lebens
Diese Geschichte über den fünfzehnjährigen Sal hat mich gepackt. So wie auch der bereits besprochene Roman Aristoteles und Dante entdecken das Universum des gleichen Autors. Und das nicht nur, weil der Autor eine sagenhaft einfühlsame Sprache hat, sondern auch, weil er mit dem Thema seines Romans tief in meine Seele trifft.
Sals Mutter ist gestorben, als er drei Jahre alt war. Seitdem wird er vom damals besten Freund seiner Mutter aufgezogen. Seinen biologischen Vater kennt er nicht, er denkt aber immer wieder darüber nach, wie es wäre, ihn zu treffen. Doch Vincente, sein Adoptivvater ist derjenige, den er Dad nennt. Um die beiden schwirrt Sals beste Freundin Sam herum, die im Grunde ebenfalls zur Familie gehört und von Sal mehr als Schwester denn als Freundin angesehen wird. Die beiden kleben zusammen und verbringen jeden Tag miteinander.
Ein Buch greift tief in meine Träume ein Zwei Aspekte haben mich von Anfang an in diesem Roman getriggert: Zum Einen hatte ich in meiner Kindheit und Jugend ebenfalls eine Freundin, die ich seit dem Kindergarten bis zum Abitur fast jeden Tag gesehen habe, die manchmal ebenfalls wie eine Schwester für mich war und zu der ich bis heute einen engen Kontakt habe. Dies ist die Art Freundschaft, der ich immer wieder mit Ehrfurcht begegne, denn sie hat so viele Untiefen durchschifft, dass an ihr heute nicht mehr zu rütteln ist.
Zum Anderen fasziniert mich schon seit Jahren die Vorstellung, eigene Kinder zu haben. Leider war mir der Weg dahin lange rechtlich verbaut und auch heute ist es immer noch ein schwieriges Unterfangen, als schwuler Mann ein Kind zu adoptieren. Darüber hinaus hat es sich in meinen Beziehungen nie ergeben, diese mit einem Kind zu bereichern. Und heute ist es dafür zu spät.
Ich habe immer Leihkinder gehabt und geliebt. Die Söhne eines meiner Cousins waren lange Zeit sehr nah an mir dran, als die Familie in der gleichen Straße lebte, in der ich auch gewohnt habe, und ich nach der Arbeit einfach nur auf dem Spielplatz um die Ecke vorbeigehen brauchte, um die Jungs zu sehen. Einer von ihnen ist mein Patenkind, mit dem ich versuche, trotz der räumlichen Entfernung, die heute zwischen uns liegt, Kontakt zu halten. Als die Familie die Stadt wechselte, war ich darüber unendlich traurig, denn dadurch war der regelmäßige Kontakt schlagartig unterbunden.
Die Kinder von Freund.innen sind zeitweise auch eng mit meinem Leben verknüpft gewesen, doch als die eine oder andere Freundschaft in die Brüche ging, verschwanden auch meist diese Kinder wieder aus meinem Dunstkreis. Und meine Nichten gibt es natürlich auch noch. Allerdings haben sie immer in Berlin und eine kurze Zeit in Kalifornien gelebt, sind mittlerweile erwachsen und leben ihre eigenen Leben.
Ein Traum, der sich nicht verwirklicht hat Die Vorstellung, einen Menschen von klein auf zu begleiten und zu prägen, diesen Menschen bedingungslos zu lieben und nie allein zu lassen, hat mich lange im positiven Sinne verfolgt und war ein großer Traum von mir. Und doch konnte ich mich nie dazu durchringen, den ersten Schritt zu tun und mich mit einer Adoption zu beschäftigen. Mir war das zu groß, die Verantwortung zu schwer. Und so bleibt es letztendlich ein vager Traum von einem Leben, das ich nie gelebt habe.
Die Figuren in Benjamin Alire Sáenz Roman haben auch nicht aus freien Stücken den Weg zueinander gefunden. Vincente hat seiner besten Freundin, als sie im Sterben lag, versprochen, sich um ihren Sohn Sal zu kümmern. Und der Junge selbst hatte im Alter von drei Jahren keine Entscheidungsgewalt. Aber die beiden führen ein Leben, das harmonischer kaum sein könnte. Auch wenn rund um sie herum vieles zusammenbricht, wenn Menschen sterben und sie immer wieder von Trauer überrollt werden – an der Beziehung zwischen (Adoptiv-)Vater und (Adoptiv-)Sohn kann nichts rütteln.
Dabei erzählt Benjamin Alire Sáenz nicht nur von den schönen Dingen, sondern nimmt im Grunde alle ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge in die Hand, um das harmonische Gleichgewicht ins Wanken zu bringen. Aber seine Figuren sind stark. Manchmal wissen sie das zwar nicht, aber sie gehen durch die Unbilden des Lebens und kommen sich dabei nur noch näher. Die Bemühungen des Autors werden also immer wieder erfolgreich zurückgeschlagen.
Mich lässt dieser Roman mit dem wunderbar schönen Vertrauen zurück, dass auch in dieser ungewissen und Turbulenten Zeit etwas bleibt: die Liebe. Sie ist der Kitt zwischen den Menschen. Sie hält uns am Leben. Sie gibt uns die Kraft, nach vorne zu sehen und jeden Tag mit der Hoffnung auf Besserung aufzustehen.
In diesen Tagen wird Kim de l´Horizon mit Preisen überhäuft. Mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung, dem Deutschen Buchpreis 2022 und zuletzt dem Schweizer Buchpreis 2022. Natürlich wollte ich mir ein eigenes Bild davon machen, was die schreibende Person auf die Welt gebracht hat, denn Preise sind nicht immer eine Garantie dafür, dass die Presigekrönten auch mir gefallen.
Konfrontation mit Sprache Der Text von Kim de l´Horizon hat mich irritiert, aufgewühlt und immer wieder auf mich selbst zurückgeworfen. Schon die Art, wie ich hier über dieses Buch schreibe, bringt mich an die Grenzen dessen, was ich bisher zu Papier gebracht habe, denn Kim ist nonbinär, bezeichnet sich weder als Mann noch als Frau. Das trifft zumindest dann zu, wenn ich Blutbuch als eine Biografie auffasse, in der Kim versucht, einige Geschichten seiner Familie aufzuschreiben und sich dabei selbst beim Namen nennt. Auch Wikipedia beschreibt Kim als eine „genderfluide nichtbinäre Person“ und daran orientiere ich mich zunächst.
Ich weiß nicht, wie ich über eine nonbinäre Person schreiben soll. Bezeichne ich sie als „er“ oder als „sie“? Gibt es eine dritte Form der Ansprache? Eine der Empfehlungen, die ich dazu gefunden habe, lautet „sier“. Aber ich habe keine Erfahrung damit, diese Form in meiner Sprache anzuwenden. Im englischsprachigen Raum hat sich die Formulierung „they“ eingebürgert, die sich allerdings nicht ohne Weiteres ins Deutsche übertragen lässt. Das macht es ungewohnt, über die Person hinter dem Roman zu schreiben. Ich bin aufgeschmissen und ich bin gezwungen, meine bisherige Sprache zu überdenken. Ich muss mich neu orientieren. Ob mir das angemessen gelingt, weiß ich nicht. Und vor allem kann ich es vermutlich nicht objektiv beurteilen. Aber ich will es zumindest versuchen.
Alte Strukturen über den Haufen werfen Kim bezeichnet seine Form des Schreibens als „ecriture fluide“, eine flüssige Schrift, die eine „flüchtige Hexerei“ sein möchte. So beschreibt sier in einem Audiofile auf der Website des DuMont Verlages seine Arbeit. Und während ich den Roman lese, verstehe ich immer mehr, was sier damit meinen könnte.
Die Sprache dieses Romans verschwimmt und löst sich immer wieder in ihre Bestandteile auf. Jedes Mal, wenn ich geglaubt habe, den ungewohnten Sprachduktus zu verstehen, werde ich ein paar Seiten später mit neuen Kategorien konfrontiert, die alles über den Haufen werfen, was ich bis gerade noch gedacht habe. Auf der einfachsten Ebene bedient sich die erzählende Person des Berner Dialekts, der eine Menge mir unbekannter Formulierungen mit sich bringt. Die Mutter wird als Meer bezeichnet, der Vater als Peer, die Großmutter als Großmeer. Mit vielen dialektalen Bezeichnungen setzt sich Kim im Text direkt auseinander, andere werden einfach eingestreut und lassen mich als Leser stolpern. Eine weitere sprachliche Ungewohntheit ist das schweizerische Doppel-S, das in vielen Fällen dem hochdeutschen „ß“ entspricht. Aus meiner Schulzeit erinnere ich mich noch an viele Worte, die damals mit Doppel-S geschrieben wurden, habe mich aber in den letzten Jahren so an die Neuregelungen der deutschen Sprache gewöhnt, dass die schweizerische Schreibweise sich im ersten Moment falsch anfühlt.
Die Reise durch die Sprache setzt sich fort, wenn Kim sich darauf konzentriert in einem Kapitel jeden Satz aus acht Worten zu erfinden. Ich lese Texte aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Ganze Absätze sind auf Berndeutsch geschrieben. Und der Roman kulminiert schließlich im letzten Kapitel in Briefen, die auf Englisch geschrieben sind. So wird aus einem Roman eine Sprachgeschichte von lange zurückliegenden Vergangenheit, über die Gegenwart zu einer Zukunftsvision. Und gegen all diese Sprachformen rebelliere ich innerlich, muss mir jedoch eingestehen, dass ich viel zu enge Grenzen dessen habe, was Sprache alles sein kann.
Eine Geschichte der Frauen Aber sollte ich nicht einfach mal etwas zum Inhalt des Romans schreiben, als mich ständig an der Sprache festzuhalten? Ich möchte dazu nur das zitieren, was der Verlag auf seiner Website dazu formuliert, denn das trifft es sehr gut:
„Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.“
Kim selbst bringt den Inhalt ihres Buches so auf den Punkt: „Ich habe versucht, einige Geschichten meiner Familie zu erschreiben.“
In die Sprache eintauchen Für mich lebt dieses Buch nicht in erster Linie durch den Inhalt und die erzählte Familiengeschichte. Für mich steht das experimentelle Spiel mit der Sprache im Vordergrund. Es gibt Autor.innen, in deren Sprache ich tief eintauchen kann, die wie eine Meditation wirkt und bei denen es fast egal ist, welcher Plot erzählt wird. Bei den Alten ist das zum Beispiel Thomas Mann, bei den aktuellen Autoren Benjamin Alire Sáenz, dessen Bücher ich gerade nach und nach verschlinge. Doch Kim macht etwas ganz anderes. Kim lässt mich nicht in seine Sprache eintauchen. Sier rüttelt mich auf jeder Seite wieder neu auf und gibt mir keine Ruhe. Ich kann mich nicht zurücklehnen und die Worte an mir vorbei plätschern lassen. Ich muss aufmerksam sein und mich ständig neu sortieren. Und genau das macht es so reizvoll, diesen Text zu lesen.
Wie geht ihr mit der Sprache um? Welche Formen der genderfluiden Sprache kennt ihr und welche nutzt ihr? Ich bin gespannt auf eure Beiträge in den Kommentaren.
Benjamin Alire Sáenz: Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums.
Mittlerweile habe ich dieses Buch schon dreimal gelesen und ich kriege nicht genug davon. Eine Kollegin, der ich das Buch zum Geburtstag schenkte, sagte zwar, ihr sei das Ende ein bisschen zu kitschig gewesen, aber das liegt vielleicht daran, dass dieser Roman ein Jugendbuch ist und ein Happy End braucht. Wobei das schon in dem Moment, in dem ich das so schreibe, schräg klingt. Mich hat das Ende auf jeden Fall überhaupt nicht gestört. Ganz im Gegenteil. Ich mag es ja, wenn die Geschichten, die ich lese, letztendlich auch gut ausgehen. Aber vermutlich greife ich damit jetzt schon viel zu weit vor und erzähle euch zu viel vom Buch. Wobei ihr selbst ein paar Seiten vor dem Ende des Buches keine Ahnung haben werdet, was genau ein „gutes Ende“ in diesem Fall bedeuten könnte. Denn in diesem Roman läuft vieles anders, als man es als Leser erwartet.
Inhaltlich möchte ich gar nicht allzu viel erzählen. Nur so viel: Es geht um eine Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen und um die Gefühle zueinander. Das muss reichen.
Viel relevanter finde ich die Sprache des Schriftstellers Benjamin Alire Sáenz. Sie ist auf angenehme Weise spröde und fast ein wenig unnahbar. Der Autor verliert sich nicht in Beschreibungen von Kleidung und Landschaften, sondern bleibt ganz nah an den Figuren und ihren relativ einfachen Bedürfnissen. Über lange Strecken erschließt sich die Handlung in erster Linie durch Dialoge. Und diese sind dem Alter der beiden Hauptfiguren angemessen: Sie verlieren nicht viele unnötige Worte, sondern sind einfach füreinander da. Ganz egal, was passiert.
Gleichzeitig nähert man sich als Leser den beiden Figuren Ari und Dante beinahe zart und vorsichtig an, bekommt nach und nach einen tiefen Einblick in ihre Seelen und ihre Befindlichkeiten. Genau das hat mich von Anfang an gefesselt.
Die Hauptfigur Ari ist so weich, wie ich es selten in einem Jugendbuch erlebt habe. Oft treten die Figuren schon stark und gefestigt auf, damit sie ein gutes Vorbild abgeben. Aber genau das passiert in diesem Roman nicht. Ari wird vielmehr von seinen Emotionen getragen und eckt damit immer wieder an. Doch das stört nicht, es macht den Weg zu ihm und seinen Gefühlen sehr elegant auf und hat mich immer wieder in den Bann gezogen.
Denn in Vielem, was er fühlt und erlebt, entdecke ich mich selbst wieder. Ich sehe mich in dem Alter mit all meinen Widersprüchen und komischen Denkweisen. Ich erlebt meine eigenen Zweifel am Leben noch einmal neu und kann sie mit meinem heutigen Wissen abgleichen. Immer wieder möchte ich Ari zurufen, dass er doch noch so jung ist und sich auf dem Weg seines Lebens Zeit lassen kann. Aber vermutlich würde er nicht auf mich hören und sowieso seinen ganz eigenen Weg gehen.
Wie gerne hätte ich mit vierzehn einen solchen Roman gelesen. Um wieviel einfacher wäre mir der lange Weg zu mir selbst und speziell zu meinem Outing gefallen, wenn ich einen Schriftsteller wie Benjamin Alire Sáenz an meiner Seite gewusst hätte. Stattdessen musste ich mich allein durch all die Dinge schlagen, die sich mir damals in den Weg geworfen haben. Natürlich bin auch ich meinen Weg gegangen, aber auf viele Umwege und Unsicherheiten hätte ich verdammt gut verzichten können. Umso glücklicher bin ich dann heute darüber, Bücher wie dieses in die Hände zu kriegen und zumindest im Nachhinein einen Weg aufgezeigt zu bekommen, wie es auch hätte sein können, wenn nicht alles so gewesen wäre, wie es war.
Dreimal habe ich diesen Roman gelesen und ich könnte sofort wieder von vorne anfangen.
Josi Copper las schon immer gern und viel. Doch irgendwann begann es plötzlich in ihren Fingern zu kribbeln. Sie wollte in die Geschichte eingreifen, die sie selbst so bewegten. Erfahren, was passiert, wenn sie die Charaktere verändert und auf andere Wege schickt. Seitdem schreibt sie. LGBTQ Romane. Warum sie gerade in diesem Genre gelandet ist? Warum nicht. Die Welt ist bunt. Im September diesen Jahres wurde ihr Debüt Risse im Asphalt im Himmelstürmerverlag veröffentlicht. Im November erscheint bereits ihr zweites Buch #SongforFlynn bei BC Publications. Weitere unzählige Storys liegen auf ihrem Laptop oder stecken in ihrem Kopf und warten darauf, erzählt zu werden.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Ja, Josi Copper ist ein Pseudonym. Es stand für mich von Anfang an fest, dass ich nicht unter meinem Klarnamen schreibe. Dafür gab es mehrere Gründe. Als ich mit meinem ersten Roman begann, wusste ich noch nicht, dass es weitere geben würde. Das Thema war brisant. Homosexualität und Kirche – nicht unumstritten. Ich habe zwei Kinder, arbeite in der Deeptech-Branche und lebe in Sachsen. Alles Gründe, warum ich mir lieber einen zweiten Namen zugelegt habe. Außerdem mag ich die Josi-Identität. Man kann dem Alltag so schön entfliehen. Es ist eine andere Welt, in die ich gern abtauche.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich lebe in Dresden. Für mich eine der schönsten Städte der Welt. Ich reise gern und viel, aber kann mir keinen Ort vorstellen, an dem ich auf Dauer lieber wäre.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin seit vielen Jahren in der Startup-Welt zu Hause. Ich liebe es und kann mir nichts anderes vorstellen. Innovation und Zukunft sind spannend und ich bin gern ein Teil davon. Doch obwohl das Storytelling in meiner Branche auch dazu gehört, wird mein Alltag von einer Effizienz getrieben, in der Gefühle wenig Raum haben. Deshalb genieße ich das Schreiben so sehr. Hier kann ich die ganzen Emotionen und Gedanken einfließen lassen, die im normalen Wahnsinn keinen Platz finden. Aber ich bin genau die, die ich sein will. Der Mix aus Strukturiertheit und Kreativität ist perfekt.
Für wen schreibst du? Überwiegend schreibe ich für mich. In meinem Umfeld wissen nur Wenige von meinem Autorinnen-Dasein. Es ist ein Hobby – eines der Schönsten, wie ich finde. Ich kann mich intensiv mit einem Thema befassen, das mich begeistert und es in eine Geschichte einflechten, die mich emotional packt. Das fordert und entspannt mein Hirn gleichzeitig und hat beinahe etwas Meditatives. Aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass das der einzige Grund ist. Wenn es so wäre, würde ich nicht veröffentlichen. Es geht mir auch darum, dass meine Geschichten gelesen werden. Sie sollen andere berühren und erreichen. Jedes positive Feedback ist ein einmaliges Gefühl und unbezahlbar.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Es sind die Gedankenschnipsel, in meinem Kopf, die mich antreiben. Sie sind wie kleine Sequenzen, die sich zwischen das tägliche Geschehen mischen und raus wollen. Ich besitze ein Notizbuch und habe mir angewöhnt, sie sofort aufzuschreiben. Abends kann ich es dann kaum erwarten, die neuen Ideen in meine Geschichte einzubauen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Zuhause auf der Couch in einer orthopädisch bedenklichen Position.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Ich gebe meinen Charakteren immer eine Eigenschaft oder Angewohnheit von mir selbst mit. Meist sind es versteckte Kleinigkeiten, die in der Geschichte gar keine große Rolle spielen. Aber so kann ich mich viel besser in meine Protas hineinfühlen und jeder von ihnen ist – zumindest für mich – besonders.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Wenn man den Mix aus Tiefgang und Humor mag, sind meine Bücher genau richtig. Leichte, witzige Passagen wechseln sich mit Kapiteln ab, die an die Nieren gehen. Ich mag die Kontraste. Rau und sanft. Tiefsinnig und flach. Slow burning und Inferno. Und wer das auch mag, sollte meine Bücher lesen.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman. Im November erscheint mein zweites Buch mit dem Namen #SongForFlynn. Es ist mein absoluter Liebling. Es geht um einen Rockstar und einen Popstar, die sich aufgrund einer Wette näher kommen. Da der Druck der Öffentlichkeit auf beide groß ist, behelfen sie sich kleiner Songbotschaften, die sie sich über den Hashtag SongforFlynn zukommen lassen. Es hat so viel Spaß gemacht, die Geschichte zu schreiben. Verschiedene Tourneen zu planen. Ich mag es, dass sich die Protas auf Augenhöhe begegnen. Beide sind Stars. Zac ist zwar auf den ersten Blick der nette Junge von Nebenan, aber auf den zweiten hat er es faustdick hinter den Ohren. Umgekehrt ist es bei Aiden, der als absoluter Bad Boy auch ein paar weiche Seiten zeigt. Ich liebe den Humor der beiden, ihren Schlagabtausch. Sie sind nicht kitschig, sondern irgendwie ehrlich und auch beim Überarbeiten konnte ich mich an ihrer Story nicht satt lesen und habe viel gelacht. Ich glaube, man merkt, wie sehr ich mich in die Story und die Charaktere verliebt habe und ich kann euch diese Geschichte nur empfehlen.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Mein Debütroman Risse im Asphalt ist im September 2022 erschienen. Es geht um einen jungen Lehrer, der in seiner Jugend aus einer streng religiösen Gemeinschaft ausgetreten ist und als Erwachsener immer noch mit den Folgen fundamentaler Ansichten kämpft. Nach dem er Liam begegnet, muss er sich den Geistern seiner Vergangenheit stellen. Das Buch behandelt Themen wie Homophobie, Konversationstherapie, aber auch Selbstverletzung. Neben der Recherche, die stellenweise ziemlich hart war, lag die größte Herausforderung bei diesem Projekt darin, die Kirche nicht in ein völlig falsches Licht zu rücken, sondern beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Dafür habe ich mir viele Bibelstellen und Interpretationen durchgelesen und Predigten angesehen. Glücklicherweise hat mir die Recherche gezeigt, dass es auch eine liberale Bewegung in der Kirche gibt, die sich weltoffen präsentiert.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Ich habe gerade einen Roman angefangen, der mir schon eine ganze Weile im Kopf herumschwirrt. Mein halbes Notizbuch ist voll mit Ideen und ganzen Dialogen, aber ich habe mich immer wieder gebremst, da die Buchveröffentlichungen von Risse im Asphalt und #SongforFlynn sehr viel Zeit beanspruchen. Aber vor ein paar Tagen habe ich endlich mit dem Schreiben angefangen. Viel kann ich noch nicht verraten, aber es geht um Gewalt, Trauer und was passiert, wenn Gefühle nicht das richtige Ventil finden.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Auf meinen ersten Roman habe ich wirklich sehr viel positive Rückmeldungen bekommen. Leser*innen haben mir bestätigt, dass es mir gelungen ist, dem Thema Kirche und Homosexualität sensibel und respektvoll zu begegnen. Das war meine größte Angst vor der Veröffentlichung und ich habe mich wirklich riesig über das Feedback gefreut. Eine Leserin meinte, Risse im Asphalt sollte zur Pflichtlektüre an Schulen gehören. Das war ein wahnsinnig tolles Kompliment.
Anfang Oktober erschien auf der Website der Tagesschau ein Artikel mit dem Titel „TikTok schränkt die Meinungsfreiheit ein“. Im Prinzip war diese Meldung erst Mal nichts Überraschendes. TikTok ist ein privates Unternehmen, so wie Facebook, Youtube und Instagram auch, und der Umgang mit Meinungen ist auf all diesen Plattformen diskussionswürdig. Und weil es ein privates Unternehmen ist, steht es der Unternehmensführung natürlich zunächst frei, die Bedingungen für das, was auf ihren Seiten geschieht, selbst festzulegen. Wir alle stimmen den Nutzungsbedingungen und anderen rechtlichen Grundlagen bei der Anmeldung auf diesen Plattformen mit einem Klick zu. Ohne diesen Klick können wir nicht am sozialen Medienwahnsinn teilnehmen.
Dass die Verbreitung von Kinderpornografie unterbunden werden muss, dass Geschäfte mit Drogen, Sklaven und Prostitution nicht gebilligt werden dürfen – all das steht außer Frage. Aber was ist mit Minderheiten und Randgruppen? Instagram und Facebook gerieren sich als weltoffene Unternehmen, in denen jeder zu seiner Art des Seins stehen darf und soll. Natürlich gibt es auch hier Einschränkungen, beispielsweise im Bereich Sex. Das kalifornische Unternehmen Meta, zu dem Instagram und Facebook gehören, begründet dies mit den amerikanischen Gesetzen, denn der Hauptsitz befindet sich nun mal auf amerikanischem Territorium.
Westen gegen Osten
Ähnlich sieht es bei TikTok aus. Auch hier gibt es Einschränkungen in dem, was die User posten und zeigen, sagen und schreiben dürfen. Aber dabei handelt es sich um Einschränkungen auf der Basis chinesischer Gesetze und chinesischer Moralvorstellungen. Denn schließlich ist TikTok ein chinesisches Unternehmen. Die Konsequenzen sind aber ungleich dramatischer als bei den amerikanischen Plattformen.
Zwar gibt es in China keiner Gesetze mehr, die homosexuelle Handlungen verbieten, aber in den Medien wird immer wieder gegen die LGBTQ-Community gehetzt. Darüber hinaus wird von Repressalien durch Polizei und Justiz gegen queere Menschen berichtet.
Im Prinzip reagieren wir in Europa ja auf Informationen dieser Art aus China erstmal relativ gelassen. China ist weit weg. Und kaum einer verlegt seinen Lebensmittelpunkt von hier aus so weit in den Osten. Wir beschäftigen uns ja auch nicht mit der Verfolgung queerer Menschen in Uganda und sprechen lieber nicht über die Situation in Russland. Und selbst die Entwicklungen in Ungarn und Polen lassen uns eher kalt. Das soll die Politik regeln. Wir leben ja in Mitteleuropa und sind zivilisiert.
Wer TikTok nutzt, lässt sich auf die chinesische Moral ein Doch dann gibt es ja auch unter die Menschen – vor allem Jugendliche, Kinder und junge Erwachsene – die sich täglich viele Stunden bei TikTok aufhalten. Und bei TikTok prallen Orient und Okzident aufeinander, ohne dass uns das ständig bewusst ist. Wir surfen auf dieser Plattform zu chinesischen Konditionen. Wir akzeptieren die chinesischen Moralvorstellungen. Und dazu gehört unter anderem, dass bestimmte Worte und Formulierungen nicht benutzt werden sollten, denn verstößt man dagegen, werden die gedrehten Videos in der Auslieferung an die User.innen ausgebremst. So zumindest steht es im Artikel der Tagesschau, der auf einer gemeinsamen Recherche mit dem NDR basiert.
Ich bin bei TikTok. Denn dort ist ein Teil der Zielgruppe für meine GayStorys unterwegs. Und diese Menschen möchte ich erreichen. Also habe ich Filme hochgeladen und mich (noch vor Erscheinen des Artikels) manchmal gewundert, warum das eine Video besser lief und ein ähnliches schlechter. Also habe ich letzte Woche (nach der Lektüre des Artikels) die Probe aufs Exempel gemacht: Ich habe ein Video gedreht, im dem ich genau über diese Einschränkungen spreche. Ich habe dabei die verpönten Worte „gay“ und „schwul“ benutzt und diese auch in der Videobeschreibung mit Hashtags verlinkt. Den Button „Homophobie“ habe ich plakativ auf dem Vorschaubild platziert.
Was glaubst du, ist passiert? Während meine bisherigen Videos immer ungefähr 250 Mal ausgespielt wurden, bis sie in der Welt des Vergessens versanken, wurde dieses Video exakt null mal gezeigt.
Zum Vergleich habe ich ein fast identisches Video hochgeladen, dabei keine verfänglichen Hashtags oder Buttons eingesetzt, mit dem Ergebnis, dass es immerhin 243 Mal ausgespielt wurde. Deutlicher kann man die Einschränkungen durch den Konzern TikTok nicht demonstrieren.
Ich musste mich nicht einmal aufregen, denn ich hatte ja quasi damit gerechnet, dass es so läuft. Wenn auch nicht in dieser deutlichen Diskrepanz.
Exkurs Auf TikTok gibt es eine breite Community an queeren Menschen, die Filme über sich und ihr Leben drehen. Einige haben viele Tausend Follower und exponieren sich fast schon exibitionistisch. Mir ist es ein unfassbares Rätsel, wieso diese Videos ausgespielt werden. Denn das sind die mir vollkommen unverständlichen Gegenbeispiele für die Ergebnisse der Tagesschau-Untersuchung. Exkurs Ende.
Aber jetzt habe ich ein Problem Bei TikTok gibt es eine große Buchcommunity. Immer mehr Autor.innen legen sich Accounts zu, zeigen ihre Werke und selbst die oft sehr trägen deutschen Verlage steigen in das Geschäft mit den Videos ein. Mit meinen Themen MUSS ich quasi auf dieser Plattform präsent sein, wenn ich nicht auf einen Teil meiner Kundschaft verzichten möchte. Facebook ist längst tot, bei Instagram ist zwar noch Bewegung drin, aber Marc Zuckerbergs Neuerungen erscheinen immer häufiger wie ein Abklatsch von dem, was TikTok macht. Und dann gehen die Menschen vermutlich lieber zum Original, als zu der Kopie. TikTok ist also der neue Marketingkanal für jüngere Zielgruppen. Dem muss ich mich in gewisser Weise unterwerfen.
Allerdings treffen mich die oben erwähnten Einschränkungen ganz tief in meiner Ehre. Ich bin schwul. Ich habe dafür gekämpft, so sein zu können, wie ich bin. Und ich bin verdammt stolz darauf, dass ich meinen Weg bis zu dem Punkt, an dem ich heute stehe, (weitgehend) konsequent gegangen bin. Denn das war nicht immer leicht. Und ich möchte anderen Menschen mit meinen Büchern Mut machen, will sie überzeugen, zu sich zu stehen, ich will diejenigen, die sich für queere Menschen einsetzen, stärken. Und das kollidiert jetzt mit dem System TikTok.
Kann ich meine Bücher bei TikTok wirklich guten Gewissens anpreisen und damit Content für einen homophoben Konzern liefern? Ohne die User, die regelmäßig Tausende von Videos hochladen, könnten weder TikTok, noch Instagram, Facebook und Youtube überleben. Ich liefere TikTok also die Inhalte, damit das Unternehmen mit bezahlter Werbung Umsatz generiert.
Das tut mir jeden Tag aufs Neue weh.
Müsste ich nicht eigentlich meinen TikTok-Account löschen und zu meinen Idealen stehen?
Ich habe keine Lösung für mein Dilemma.
Was würdest du an meiner Stelle tun? Schreib mir bitte deine Meinung unten in die Kommentare. Vielleicht komme ich dabei ja auf neue Ideen.
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Immer wieder suche ich nach wirklich gut geschriebenen queeren Büchern und vor allem nach schwulen Hauptfiguren, die mich mitreißen. Der Buchmarkt wird zwar zur Zeit mit schwulen Charakteren überschwemmt, doch nur wenige von ihnen überzeugen mich wirklich. Bei diesem Buch des Autorenduos Albertalli und Silvera, die jede.r für sich schon packende Geschichten schreiben, ist das anders.
Nach dem Coming-out ist mitten im Leben Die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden Hauptfiguren Artur und Ben mit ihrer Homosexualität umgehen, hat mich vom ersten Moment an überzeugt. Auch wenn ich selbst häufig über die spannende Phase des Coming-outs schreibe, sind gerade Geschichten, in denen die Protagonisten diese Hürde schon genommen haben, immer wieder wichtig. Denn in der Beschreibung des Coming-outs treten ja die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, in der Regel in den Vordergrund und bieten in erster Linie Blaupausen für diejenigen, die diesen Schritt gerade erst noch vollziehen. Aber wir brauchen auch viele Romane, die die Zeit danach beschreiben, um Mut zu machen, um zu zeigen, dass nach den großen individuellen Herausforderungen auch eine Beruhigung eintritt, in der man sich wieder auf das normale Leben konzentrieren kann.
Mit ist es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es auch in einer liberaler gewordenen Welt und einer fortschreitenden Öffnung der Gesellschaft für queere Menschen weiterhin für jeden Menschen ein großer Schritt ist, sich als queer zu outen. Noch immer wird es als die Regel angesehen, heterosexuell zu leben und sich den Normen unserer Welt zu unterwerfen. Für jeden Einzelnen steht also an erster Stelle des Coming-outs eine Konfrontation mit sich selbst und dem eigenen Rollenverständnis auf dem Plan, wenn man bemerkt, anders als die Eltern zu fühlen, anders als die meisten Freund.innen zu sein. Auch wenn das Umfeld mittlerweile (zum Glück) meist relativ gelassen auf ein Outing reagiert und viele Eltern nicht mehr den Weltuntergang wittern, wenn sich die Tochter oder der Sohn zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt, spürt man doch schnell die (vermeintlichen) Blicke auf sich gerichtet, wenn man diesen Schritt geht.
Mein Leben ist nicht das “Normale” Darüber hinaus lebe ich selbst natürlich in einer heilen Welt, in einer Blase, die durch mein eigenes Handeln stark gefiltert ist. Meine Freund.innen haben kein Problem mit Schwulen und Lesben. Meine Kolleg.innen wissen, dass ich mit einem Mann verheiratet bin. Auch meine Auftraggeber.innen und Kund.innen können sich mit wenigen Klicks im Internet über mein offen schwulen Leben informieren. Negative Reaktionen darauf kenne ich aus meiner direkten Umgebung gar nicht mehr. Und darüber bin ich sehr froh. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ich in Köln lebe, einer Stadt, in der es eine große und sehr präsente queere Community gibt. Und natürlich habe ich mir meine Freund.innen und Kolleg.innen so ausgesucht, dass ich mich mit ihnen wohl fühle. Alles andere wäre auch bescheuert.
Aber meine Blase entspricht leider nicht dem, was Menschen in Kleinstädten, in anderen Kölner Stadtteilen oder gar in der deutschen Provinz erleben. Hier gehören Anfeindungen, verbale und körperliche Übergriffe immer wieder zum Alltag. Gesellschaftliche Veränderung, die in der Tiefe wirkt und sich auf alle Bevölkerungsteile überträgt, vollziehen sich langsam. Und ein Teil unserer Mitmenschen tut sich nun mal schwer mit Veränderungen. Sie verbinden damit einen Eingriff in ihre gewohnte Welt und fühlen sich (eigenartigerweise) angegriffen. In der Folge reagieren einige von ihnen mit massiver Abwehr. Die Folgen kennen alle Menschen, die nicht der Norm entsprechen: Rollstuhlfahrer genauso wie Migranten, Schwule ebenso wie Juden und Muslime. Wer nicht in die gängigen Schemata passt, wird schnell ausgegrenzt.
Wir können die strärken, die uns brauchen Rosa von Praunheim hat 1971 den Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ gedreht und damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dabei ist das von ihm beschriebene Gesellschaftsbild immer noch an den oben erwähnten Orten unserer Republik so präsent wie damals. Und ganz im Sinne Praunsheims müssen wir diejenigen stärken, die ihren eigenen Weg gehen und sich damit der Mehrheitsgesellschaft widersetzen. Denn der Ausbruch aus den immer noch als „normal“ wahrgenommenen Narrativen kostet Kraft und diese Menschen brauchen unsere Unterstützung.
Genau diese Unterstützung leisten Albertalli und Silvera in diesem wunderbaren Jugendroman. Indem sie unaufgeregt über das normale Kennenlernen zweiter Jungs in New York schreiben, zeigen sie auf, dass es ein Leben nach dem Outing gibt, in dem es nicht mehr um eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst geht, sondern (ganz banal) darum, ob der Mensch, in den man sich verliebt hat, diese Gefühle erwidert.
Gute Literatur für alle Holt dieses Buch also in die Schulen! Verschenkt es an die Jugend. Flutet die Bibliotheken mit wirklich guten Romanen voll queerer Charaktere. Nicht nur in den Metropolen wie Berlin, Hamburg, München und Köln. Gerade die kleinen Orte brauchen diese Bücher, damit queere Jugendliche ein für alle mal verstehen, dass sie nicht allein sind!
Christian Handel beschreibt sich selbst als märchenhaft, emotional, unvorhersehbar und queer. Und so sind auch seine Bücher.
Phantastische Geschichten begleiten ihn schon sein Leben lang. Bereits als Kind begeisterte er sich für die Märchen der Brüder Grimm und für sagenhafte Abenteuer wie die Odyssee.
Schon damals faszinierten ihn allerdings viel stärker die weiblichen Figuren wie Dornröschen oder die Zauberin Circe als der Drachentöter Siegfried oder das tapfere Schneiderlein.
Schreibst du unter Pseudonym? Nein, ich schreibe unter meinem Klarnamen. Tatsächlich habe ich vor der Veröffentlichung meines ersten Jugendbuchs überlegt, ob ich ein weibliches Pseudonym wählen sollte. (Becoming Elektra wird aus der Sicht einer 16jährigen jungen Frau in der Ich-Perspektive erzählt). Mein Verlag hat mich aber beruhigt und mir versichert, das sei nicht nötig. Die Vorteile, unter Klarnamen zu schreiben, überwiegen für mich.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich lebe und schreibe in Berlin, stamme aber eigentlich aus einem kleinen Dorf in Unterfranken. Nach anfänglicher Skepsis habe ich mich inzwischen unrettbar in unsere Hauptstadt verliebt. Manchmal wünsche ich mir aber dennoch, wieder auf dem Land zu leben.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin ein Geek. Märchenfan. Gay ohne Ende. Wer ich gern sein würde? Kann ich so nicht sagen, da ich im Großen und Ganzen glücklich bin als der, der ich bin. Was ich gern manchmal mehr wäre: Gelassener und weniger gestresst ,-)
Für wen schreibst du? Für mich, aber nicht nur. Ich gebe zu, dass ich schreibe, weil ich meine Geschichten mit der Welt teilen will. Genauer gesagt mit den Leuten, die sich von meinen Geschichten berührt fühlen oder berühren lassen wollen. Meine Jugendbücher sind oft queer, weil ich möchte, dass andere queere Jugendliche genau solche Geschichten finden. Als ich Teenager war, war das oft schwierig. Und natürlich auch, damit nicht-queere Personen Spaß an ihnen haben. Ansonsten schreibe ich für die Leser*innen, die sich von märchenhaften, phantastischen Geschichten verzaubern lassen wollen.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Erschreckend oft: Die Deadline. Die weniger prosaische Antwort: Schöne Musik, eine tolle Geschichte, die ich unbedingt erzählen will, Figuren, die in meinem Kopf entstanden sind, mich aber dennoch berühren.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Wieder erschreckend prosaisch: Am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Ich liebe es aber auch, im Café zu schreiben, gern mit Kolleg*innen, mit denen ich mich zum Schreiben und Plaudern treffe.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Oh, eine Frage, auf die man gar nicht so leicht antworten kann, ohne blöd dazustehen, oder? Ich versuch’ es mal so. Jeder Mensch und seine Sicht auf die Welt ist etwas Besonderes. Meine Geschichten macht aus, dass sie meine Sicht auf die Welt widerspiegeln. Und die ist nicht schwarz/weiß, oft emotional und hoffentlich vielschichtig. Meine Figuren sind oft, aber nicht immer, queer.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Weil ich glaube, dass sie zum Nachdenken anregen, überraschen und, wie gesagt, emotional berühren – wenn man die Geschichten mag, die ich erzähle. Wer nichts mit queeren Figuren anfangen kann oder Märchenmotive nicht mag, wird mit den meisten meiner Bücher vermutlich eher nicht glücklich.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman. Ganz frisch erschienen am 11. Oktober 2022 ist mein Jugendbuch DAS VERBORGENE ZIMMER VON THORNHILL HALL – ich bezeichne das Buch gern als “Downton Abbey mit Geistern”. Es spielt im viktorianischen London in einem alten Landhaus, in dem einige skurrile Geister hausen. Und mein 16jähriger Protagonist Colin wird einer dieser Geister, als ihn jemand kurz nach seiner Ankunft die Treppe hinunterstößt. Er erhält allerdings die Chance, ins Leben zurückzukehren, wenn er innerhalb von drei Tagen ein Zimmer findet, das es eigentlich gar nicht gibt. Dazu braucht er die Hilfe des gleichaltrigen Teddy – dem einzigen lebenden Menschen, der ihn sehen kann. Und er muss Hinweise in der Bibliothek der toten Bücher finden – einem Ort, an dem Geschichten aufbewahrt werden, die vergessen oder auch nie veröffentlicht wurden. Das Jugendbuch ist in sich abgeschlossen, eine Mischung aus Krimi, Fantasy-Roman und schwuler Liebesgeschichte. Er behandelt jedoch auch andere emotionale Themen wie etwa: Wie nähert man sich seiner Mutter wieder an, die einen als Kleinkind verlassen hat, um Schauspielerin zu werden, und jetzt wieder Kontakt will. Und wie geht man damit um, wenn man unschöne Dinge über Menschen erfährt, die einem sehr wichtig sind.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Das eben erwähnte ist mein sechster veröffentlichter Roman. Bisher erschienen sind ROWAN & ASH – ein Fantasyabenteuer in einer mittelalterlichen Welt, das im Grunde genommen eine Coming Out-Geschichte erzählt; meine ELEKTRA-Dilogie, in der ein Klon den Platz ihres Originals einnimmt und in dem es auch darum geht, was es bedeutet, menschlich zu sein. Und die ersten beiden Teile meiner HEXENWALD-CHRONIKEN, Märchenfantasy für Erwachsene. Im Mittelpunkt stehen “Schneeweißchen” und “Rosenrot”, bei mir keine Schwestern, sondern ein lesbisches Dämonenjägerinnen-Paar, das sich daran macht, den Geist der Hänsel und Gretel-Hexe zu exorzieren (in ROSEN & KNOCHEN) und im Sequel (PALAST AUS GOLD UND TRÄNEN) ins fantastische Zarenreich und die Wälder der Baba Yaga reist.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Vor einiger Zeit habe ich die Arbeit an meiner Rumpelstilzchen-Adaption SCHATTENGOLD beendet, die im Dezember 2022 im PIPER-Verlag erscheinen wird. Zur Zeit arbeite ich an einem Exposé für ein weiteres Jugendbuch sowie dem dritten und abschließenden Teil meiner HEXENWALD-CHRONIKEN.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Da gab es wirklich einige, und dafür bin ich sehr dankbar. Eine der schönsten war die Rückmeldung einer jungen homosexuellen Person, die mir geschrieben hat, wie heilsam es für sie war und wie glücklich sie es gemacht hat, die Coming Out-Geschichte von Rowan zu lesen. Das hat mich schon sehr berührt.
Die Leidenschaft für das geschriebene Wort trägt Lauri schon ein Leben lang in sich und bannt diese inzwischen auch aufs Papier.
Am liebsten widmet Lauri sich den ungewöhnlichen Liebesgeschichten, in denen „richtig“ und „falsch“ nicht immer leicht zu beurteilen sind. Geschichten, die das wahre Leben schreiben könnte, denn so schön und angenehm die Welt sein kann, so unberechenbar ist sie – und wieso sollte das in der Literatur anders sein?
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Ja. Hauptsächlich, damit meine Bekannten und Verwandten nicht am plötzlichen Herztod sterben, sollten sie versehentlich einmal über meine Werke stolpern. Aber auch, weil sich nicht alles in meinem Leben mit den Themen meiner Geschichten vereinbaren lässt. Trotzdem träume ich davon, irgendwann alle meine belegten Brötchen mit ihnen zu verdienen und dann lasse ich jeden, der will, an meinem spannenden Leben teilhaben. (Spoilerwarnung: Es ist nicht spannend.)
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich bin quer durch Deutschland gezogen und habe mich jetzt weiter (aber nicht ganz) im Norden eingenistet. Dass es dabei bleibt, kann ich allerdings nicht garantieren, denn mein Mann und ich waren schon immer Nomaden.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, mich und andere zu fragen, wer ich bin, und ganz unterschiedliche Antworten erhalten. Der kleinste gemeinsame Nenner ist vermutlich: Ich bin ein Überraschungsei. Und ich habe das Gefühl, je mehr ich schreibe, desto mehr werde ich zu dem Menschen, der ich wirklich sein will.
Für wen schreibst du? Bis vor wenigen Jahren habe ich nur für mich geschrieben und eigentlich tue ich das immer noch. Dass es nun andere gibt, die meine Geschichten lesen und das gar in Buchform, ist mein größtes Glück. Inzwischen schreibe ich daher auch für alle Leser*innen, die gern in meine Welten eintauchen und meine Figuren ein Stück auf ihren Wegen begleiten möchten.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Ich schreibe, um zu schreiben. Bei mir ist also der Weg das Ziel, da Schreiben die größte Leidenschaft ist, die ich kenne. Wäre ich philosophisch veranlagt, würde ich vom Sinn meines Lebens sprechen. Moment, ich bin ja philosophisch veranlagt. Also ja. Lebenszweck!
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Aktuell meistens auf meinem Balkon. Raum und Zeit spielen aber nur eine untergeordnete Rolle.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Mir wurde öfter gesagt, dass ich realistisch schreibe und meine Geschichten den Lesenden wie ein Film vor Augen ablaufen. Zu dieser Realitätsnähe gehört, dass die Figuren stets individuell sind, gute und schlechte Eigenschaften haben. Außerdem widme ich mich gerne kontroversen Themen – die Welt ist bunt und dazu gehören auch Grauzonen. Bisher sind alle meine Projekte Liebesgeschichten, allerdings immer gefühlvoll und mit viel Herz, ohne zu kitschig zu sein. Und unter dem Strich kommt auch der Humor nicht zu kurz, selbst wenn er sich manchmal von hinten anschleicht und einem unvorhergesehen die Unterhosen herunterzieht.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Wenn man die Dinge, die oben genannt wurden, gern liest. Und natürlich, um mich unendlich glücklich darüber zu machen, dass jemand liest, was ich schreibe.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman. „Nur Milan“ ist die Geschichte von Daniel und Milan – zwei Brüdern, die entgegen allen Normen und Regeln ihre Gefühle füreinander entdecken. Diese verbotene erste Liebe ist etwas, das unvorhergesehen in ihren Alltag einbricht, ihre Leben auf den Kopf stellt, Freundschaften sowie Familienbande infrage stellt und die Brüder für immer verändern wird. Es ist ein Roman darüber, wie schön und schrecklich eine Liebe sein kann, die nicht existieren darf. Und wenn man den Rezensionen glauben darf, hat er schon einige Leser*innen dazu motiviert, ihre eigenen Überzeugungen davon, was Liebe darf, zu hinterfragen.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Bisher mein Debütroman „Nur Milan“. Ein weiteres Projekt ist fertiggestellt und muss noch veröffentlicht werden; ein drittes ist gerade in Arbeit.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Gerade stecke ich schwer in meinem dritten Projekt, das von einem Bräutigam und seinem Trauzeugen handelt. Man kann sich vorstellen, dass auch die beiden es nicht leicht haben werden.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Ich habe viele tolle Rückmeldungen bekommen, für die ich sehr dankbar bin! Eine davon, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist, nennt „Nur Milan“ „erstaunlich kompromisslos“. Das gefällt mir gut, denn das wahre Leben präsentiert nur in den seltensten Fällen einen Deus ex machina, durch den sich alles in Wohlgefallen auflöst. Wir müssen uns der manchmal bequemen, manchmal unbequemen Realität stellen und unsere ganz eigenen Wege finden. Und das müssen meine Figuren auch. Ein Happyend können sie am Ende ja trotzdem bekommen 😉
Matti Laaksonen schreibt Geschichten, die jeden Tag passieren könnten.
Matti Laaksonen wurde im Oberbergischen Land geboren und ist dort aufgewachsen, bis es ihn für sein Ur- und Frühgeschichtsstudium nach Aachen bzw. Köln verschlagen hat. Inzwischen lebt und arbeitet er in Schwaben. Am liebsten ist er zu Hause, dort kann er sich ganz auf das Schreiben konzentrieren und seinen anderen Hobbys nachgehen: lesen und zocken. Er ist eine ausgewachsene Couchpotatoe, aber er steht dazu.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Matti Laaksonen ist ein Pseudonym. Das war anfangs gar nicht geplant, hat sich aber dann so ergeben. Ich fing damals bei Wattpad an zu schreiben. Die kleine Internatsgeschichte (heute bekannt als Matti & Brian) mit dem Protagonisten Matti Laaksonen. Ich wollte auf Instagram Werbung für diesen Text machen, aber als Protagonist des Ganzen. Und daraus entwickelte sich dann mein Pseudonym, die Menschen kannten mich unter dem Namen und es hätte keinen Sinn mehr gehabt, mich umzubenennen, deswegen ist es dabei geblieben, und ich mag es sehr. Ich bin inzwischen Matti.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Im Moment lebe ich in einem Städtchen in der Nähe von Ulm. Es gefällt mir auch ganz gut, aber ich schließe es nicht aus, dass wir auch wieder umziehen. Wahrscheinlich bleibt es eher ländlich, allerdings im Dunstkreis einer größeren Stadt, das gefällt uns, weil wir so die Vorteile von beidem haben – Stadt und Land. Vielleicht wird es später auch mal ein anderes Land? Wer weiß, da bin ich nicht so festgelegt …
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin Matti. 😀 Einfache Antwort. Ich bin mir nicht sicher, wie ich das beschreiben soll, aber im Grunde bin ich ich ein Typ, der gern schreibt, zwischendrin mal zockt, der seinen Gedanken manchmal zu sehr nachhängt und recht pessimistisch ist. Und in mir schlägt das Herz eines Idealisten. Manchmal wäre ich vielleicht gern ein bisschen optimistischer und selbstsicherer. Aber dann wäre ich auch nicht mehr ich. Also passt das alles schon.
Für wen schreibst du? In erster Linie für mich selbst. Schreiben ist mein Safe Space in vielen Belangen. Natürlich orientiere ich mich, was gerade so am Markt los ist, aber eigentlich möchte ich auch diejenigen erreichen, die vielleicht genauso struggeln wie ich. Die sich in meine Bücher vergraben können, sich vielleicht auch selbst ein Stück weit wiederfinden zwischen den Zeilen, die ihnen Mut machen.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Es sind Kleinigkeiten, vielleicht auch Ungerechtigkeiten, die es in der Welt in allen Bereichen noch immer gibt. Bücher können vielleicht nicht die Welt verändern, aber Mut schenken und eine kleine Blase sein, für Menschen, die es brauchen. Das motiviert mich, weil ich oft selbst nicht laut genug bin, um dagegen anzukämpfen. Wahrscheinlich steckt da eine gute Portion Eskapismus drin.
Und es sind natürlich auch meine Protagonist*innen, die mich motivieren, weil ich ihre Geschichten erzähle und so in die Welt hinaustrage. Sie sind diejenigen, um die es in den Büchern geht, es sind ihre Leben, ihre Schicksale, und vielleicht auch die von vielen anderen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Meistens auf meinem Sofa zuhause. Unterwegs habe ich natürlich auch immer wieder Ideen oder Szenen im Kopf, die notiere ich mir dann in einer Notiz-App oder mal in einem Notizbuch, wenn ich gerade eines dabeihabe. Ich brauche zum Schreiben meistens meine Ruhe, also ein Café oder ähnliches ginge da für mich überhaupt nicht, da ist zu viel Gewusel und andere Reize, auf die ich keinen Einfluss habe. Das würde mich zu sehr ablenken.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Meine Texte sind – genau wie ich – sehr leise. Das Wichtige steht zwischen den Zeilen, es gibt kein allzu großes Drama. Ich schreibe Geschichten, die so jeden Tag passieren könnten, mit Figuren mit Ecken und Kanten, die auch mal falsche Entscheidungen treffen und unfair sind, dafür aber umso authentischer.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Weil ich supergute Texte schreibe, natürlich 😀
Nein, Scherz, also nicht ganz scherzhaft, aber ich denke, wenn man ein Wohlfühl-Buch braucht und einfach mal kein Drama lesen möchte, können sich Lesende herrlich in meine Bücher vergraben und sich an manchmal ferne und manchmal ganz Nahe Orte träumen und meinen Charakteren beim Wachsen zuschauen. Vielleicht lernen sie an der ein oder anderen Stelle etwas, sie können lachen und weinen, sich freuen und ärgern, abseits von gängigen Tropes und Plotstrukturen.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman. Mein letzter Roman ist „Wie Schwimmen im Meer“ mein erster Entwicklungsroman und deswegen auch gespickt voller Selbstzweifel, Gedanken und manchmal auch mit Gedankenkreisen und Wiederholungen. Es geht um Selbstfindung, darum, ob man Label braucht oder nicht und was sie sein können und eben auch nicht sind. Außerdem ist ein kleiner Schuss Gesellschaftskritik mit beigemengt, denn der Protagonist ist aromantisch in einer Welt, die voller Romantisierung ist, und sich dort zurechtfinden muss. Vielleicht ein kleiner Mutmacher, für alle, die sich selbst finden wollen.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen?
„Obscurae – Der Anfang“, ein Young Adult Fantasy Roman
Die Regenbogen-Reihe „Matti & Brian“ (8 Bände), eine YA Romance, die an einem japanischen Internat spielt
„Freibadfliesenblau“, ebenfalls Young Adult Romance, und ein Roadtrip durch Finnland
„Wie Schwimmen im Meer“ ein Young Adult Entwicklungsroman, der an der Nordseeküste spielt.
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Im Moment schreibe ich an einem Winterroman, der im frostigen Österreich spielt und locker leicht romantisch und ein bisschen nerdy wird.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Ach, es gibt so viele schöne Rückmeldungen, die ich hier nennen könnte, aber ich glaube, am meisten hat es mich gefreut, als ein Leser meinte, dass er sich das erste Mal so gut in einen Protagonisten hineinversetzen konnte, dass in dem Themen behandelt wurden, die auch ihn betreffen und mit denen er sich verbinden konnte. Aber auch Rückmeldungen, dass meine Bücher durch schwere Stunden begleitet haben, dass sie in einem Rutsch gelesen wurden, dass man sich gefühlt hat, als wäre man vor Ort …
Das zeigt mir, dass meine Bücher eben genau das sind, was sie sein sollen: Geschichten, die genau so jeden Tag passieren können. Und vielleicht auch eine Stütze auf der Reise zu sich selbst sind. Bücher mit Wohlfühl-Atmosphäre.
Bridget Collins: Die verborgenen Stimmen der Bücher.
Achtung Triggerwarnung! In diesem Artikel geht es unter anderem um psychische Erkrankungen und Suizid. Wenn du damit nicht konfrontiert werden möchstes, dann lies nicht weiter! Unten findest du darüber hinaus Hilfsangebote!
Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich auf dieses Buch aufmerksam geworden bin. Vermutlich haben es einige Menschen in meinem Instagram-Dunstkreis gelesen und ich habe mich anfixen lassen. Bereut habe ich es auf jeden Fall nicht. Ganz im Gegenteil: Ich habe diesen Roman bereits zweimal gelesen und ich bin sicher, dass ich ihn noch mehrfach lesen werde. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Geschichte ist wunderbar erzählt, die Sprache hat mich wirklich überzeugt und die Hintergründe, die ich in den Text hineinlese, haben mich in ihren Bann gezogen.
Eine fantastische Welt Aber vielleicht sollte ich vorne anfangen. Bridget Collins erzählt die Geschichte des jungen Emmett in einer erst auf den zweiten Blick fantastischen Welt, die sich zeitlich nicht richtig einordnen lässt. Vermutlich befinden wir uns in einer Zeit, die dem Ende des 19. Jahrhunderts wohl am nächsten kommt. Emmett lebt auf dem Land, fern ab jeder größeren Stadt. Es sind vermtulich die Britischen Inseln, aber letztlich könnte die Handlung auch irgendwo in Süddeutschland oder in Frankreich voranschreiten. All das spielt keine große Rolle. Wichtiger ist, dass Emmett an einer ominösen Krankheit litt, von der er sich gerade erst langsam erholt. Er hat keine Ahnung, welcher Art die Krankheit war, doch im Laufe der Handlung findet er immer mehr über sich und seine Vergangenheit heraus. Und das ist zugleich der Kern der Geschichte: Die Selbstfindung und Emanzipation aus den einfachen und konservativen Verhältnissen.
Der fantastische Aspekt in Collins´ Roman ist die Fähigkeit einiger Menschen, andere „in Bücher zu binden“. Bücher spielen also eine zentrale Rolle, wenngleich sie eine völlig andere Funktion übernehmen, als wir sie von Büchern kennen. Die Binder – so heißen die Menschen in dem Roman mit den besonderen Fähigkeiten – haben gelernt, den Lebensgeschichten anderer Menschen zu lauschen und sie ihnen aus dem Bewusstsein zu ziehen, indem sie sie zwischen zwei Buchdeckel sperren. Sobald ein Kunde seine Geschichte erzählt und der Binder sie aufgeschrieben hat, erinnert sich der Kunde nicht mehr daran, was er einmal erlebt und berichtet hat. Das kann auf der einen Seite natürlich ganz praktisch sein, wenn man schlechte Erfahrungen hinter sich lassen will. Der Prozess löscht aber auch die Erinnerung an Schönes, wenn man einem Binder davon erzählt.
ACHTUNG SPOILER! Für mich war dieser Roman deshalb so außerordentlich spannend, weil der Protagonist erst im Laufe der Handlung entdeckt, dass er schwul ist. Denn seine Erfahrungen sind in ein Buch gebunden worden. Diese Erkenntnis zieht Emmett den Boden unter den Füßen weg. Und er erkennt noch mehr: Er hatte sich in der Vergangenheit schon einmal richtig verliebt. Doch auch dem anderen Jungen ist ein Binder in den Weg gekommen und hat seine Erinnerung gelöscht. Dadurch entspinnt sich eine spannende Handlung, der ich fieberhaft von Seite zu Seite gefolgt bin.
Hat die Metapher des Bindens eine tiefere Bedeutung? Mit ist nach der Lektüre ein interessanter Gedanke gekommen, von dem ich nicht weiß, ob er auch im Kopf der Autorin war, als sie sich diese Geschichte ausgedacht hat: Der Prozess der Bindens hat etwas von einer Gehirnwäsche. Und im schwulen bzw. homosexuellen Kontext gibt es das tagtäglich. Man nennt das Konversionstherapie. Da versuchen selbsternannte Heiler.innen, fehlgeleitete Psycholog.innen manchmal sogar Mediziner.innen, Schwule und Lesben von ihrem „Leiden“ zu befreien. Ich weiß tatsächlich nicht genau, was in diesen „Therapien“ genau passiert, aber die Effekte davon sind hinlänglich bekannt. In vielen Fällen führen sie zu schweren psychischen Erkrankungen und leider immer auch wieder zu Suiziden. Und obwohl man darum weiß, wird diese Praxis bis heute in vielen Ländern der Welt durchgeführt.
Seit 2020 sind Konversionstherapien in Deutschland verboten. Aber nur bei Minderjährigen. Erwachsene dürfen sich weiterhin dieser Behandlung unterziehen. In meinen Augen ist das absurd. Denn die psychischen Schäden, die diese Behandlung nach zieht, die medizinischen Folgekosten und nicht zuletzt die wissenschaftliche Forschung, die Homosexualität nicht als Krankheit ansieht, die „behandelt“ werden kann, sprechen eine eigene Sprache. Vielleicht schafft es die aktuelle Bundesregierung ja, dieses Vorgehen endgültig zu stoppen. Das würde ihr gut zu Gesicht stehen.
Da ich nicht weiß, ob Collins die Konversionstherapien in ihrem Roman mitgedacht hat, kann ich hier nur mutmaßen. Letztendlich spielt das aber auch keine Rolle, denn ich als Leser habe das Thema aus dem Text gelesen. Doch das soll euch nicht davon abhalten, diesen Roman zu lesen, denn es lohnt sich, in in die Hände zu nehmen und tief in die grandios erzählte Geschichte einzutauchen.
WICHTIG! Hier gibt es Hilfe!
Wenn du dich in einer akuten Krise befindest und vielleicht sogar über Suizid nachdenkst, wende dich bitte an deinen behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Du erreichst die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.
Queere Autor.innen und Gay Romance- Schriftsteller.innen.
Du bist Autor.in, schreibst auf Deutsch im Bereich Gay Romance oder anderen Sparten der queeren Literatur? Du hast Lust, dich und deine Bücher in meinem Blog vorzustellen? Dann schreib mir eine Nachricht an post@stephano.eu
Wer wie ich in den 1970er-Jahren geboren und in der Zeit danach aufgewachsen ist, hatte in gewisser Hinsicht Glück. Denn die Zeit der sexuellen Befreiung in den 60er-Jahren, die immer liberaler werdende Gesellschaft und auch die nach und nach an die Realität angepasste Rechtslage machte uns das Outing immer leichter. Selbst in den Medien traten nach und nach Promis aus dem Schatten – Hape Kerkeling und Alfred Biolek gingen diesen Schritt zwar nicht freiwillig, sondern wurden von Rosa von Praunheim öffentlich geoutet, aber das tat ihren Karrieren nach der ersten Aufregung keinen Abbruch. Die Menschen in Deutschland waren bereit, sich damit abzufinden, dass unter ihnen Schwule lebten. Und auch wenn heute bei Weitem noch nicht alles rosig ist in unserer Republik – zumindest in den Großstädten ist es kein großes Problem mehr, sich zu outen.
Vom politischen Irrsinn in den Konservativismus Das war nicht immer so. In der Weimarer Republik gab es in den Metropolen eine zarte Öffnung, doch die wurde in den dunklen Jahren zwischen 1933 und 1945 brutal beendet. Aber wer nun denkt, mit dem Ende des Nationalsozialismus sei schlagartig alles besser geworden, der irrt gewaltig. Bis tief in die 60er-Jahre hinein wurden Schwule von staatlicher Seite verfolgt und waren gesellschaftlich geächtet. Und die dann allmählich einsetzende Veränderung war zäh. Sie zieht sich letztendlich bis in die Gegenwart. Abwertende Kommentare unter meinen Posts gehören quasi zum Tagesgeschäft. Je nach Region und sozialem Kontext ist ein Outing weiterhin manchmal mit drastischen Konsequenzen für das private und berufliche Leben verbunden. Man denke beispielsweise an die Dörfer in der tiefsten Provinz unseres Landes oder an die Fußballer in der Bundesliga. Wer sich hier outet, ist nicht ganz bei Trost oder sehr mutig.
Matthias Lehmann zeichnet in seiner graphic novel Parallel den Lebensweg eines schwulen Mannes nach, der in der Nachkriegszeit versucht, den Spagat zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Ausleben seiner Gefühle nachzukommen. Und der daran scheitert, weil es für ihn keinen Platz in der Gesellschaft gibt.
Der Blick in die Vergangenheit erklärt die Gegenwart Trotz des schweren Themas gelingt es dem Autor und Illustrator, mich von der ersten bis zu letzten Seite in den Bann zu ziehen. Das mag daran liegen, dass ich eine historische Beschäftigung mit der Homosexualität durchaus spannend finde und es für wichtig erachte, mich damit zu auseinanderzusetzen. Denn natürlich sind mir in den vergangenen Jahrzehnten auch immer wieder ältere Schwule begegnet, die mir oft eigenartig gehemmt vorkamen. Oder die plötzlich aus allen Mustern herausfielen und nur noch geschminkt herumliefen, was ich dann meist irgendwie unangemessen fand. Erst in einer Auseinandersetzung mit dem Thema und der Beschäftigung mit der Frage, wie schwules Leben denn in den Jahren nach dem Krieg aussah, wurde mir klar, dass diese Männer gar nicht anders konnten, als sich so zu verhalten, wie sie es taten.
Wer in einem Umfeld des Hasses auf alles, was nicht der Norm entspricht, aufwächst, hat kaum die Chance, sich frei zu entwickeln. Wer sein wahres Sein ständig verstecken muss, damit er nicht verachtet, misshandelt oder eingesperrt wird, wird nicht wirklich zufrieden auftreten können. Und wer von frühen Jahren an – vor allem in der Pubertät und der Jugend, in der man sich ja eigentlich ausprobieren könnte – mit massiven Anfeindungen konfrontiert ist, bei dem ist die Hemmung, über seine „andersartige“ Sexualität zu sprechen, sehr nachvollziehbar. Die Brandmarkungen sitzen so tief, da lässt sich in einer sich öffnenden Gesellschaft nicht einfach ein Hebel umlegen. Das wird immer wieder viel Mut verlangen. Und genau davon erzählt die graphic novel von Lehmann sehr eindrücklich.
Meine Oma hat nur ein bisschen geweint Während ich dieses Buch lese, denke ich wieder einmal, dass ich verdammtes Glück gehabt habe. Denn ich bin in einen sozialen und gesellschaftlichen Kontext hineingeboren worden, in dem ich so sein konnte und sein kann, wie ich bin. Meine Eltern sind mir zwar nicht vor Freude um den Hals gefallen, aber sie kamen aus der Studentenbewegung, sie waren nicht realitätsfern und sie konnten mich auch weiterhin als ihren Sohn lieben. Selbst meine Oma hat die Neuigkeiten damals mit Fassung getragen, ein paar Tränen verdrückt und sich im Laufe der Zeit immer offener gezeigt.
Gleichzeitig habe auch ich noch einen Teil dieser Hemmung in mir. Jedesmal, wenn ich erwähne, schwul zu sein, stolpere ich ein wenig über die Formulierung und frage mich sofort, wie mein Gegenüber denn jetzt wohl reagieren wird. Dabei habe ich selbst nur sehr selten blöde Reaktionen erfahren. Und ich frage mich, wie dieses Thema für nach dem Jahr 2000 geborene Menschen wohl ist. Fällt es ihnen noch leichter, darüber zu sprechen und sich zu outen? Oder haben sie auch Erfahrungen gemacht, die sie umsichtig walten lassen? Ich hoffe, dass das nicht der Fall ist und sich unsere Gesellschaft nachhaltig geöffnet hat.
Russland und die Schwulen – das ist keine harmonische Beziehung. Ganz im Gegenteil. Und die Situation für queere Menschen in Russland wird stetig schlechter. Zwar sind homosexuelle Handlungen weitgehend legal, aber die Tabuisierung in der Bevölkerung ist erschrecken weit verbreitet. Wladimir Putin hat darüber hinaus 2013 ein Gesetz unterschrieben, das die bisherigen regionalen Verbote homosexueller Propaganda deutlich verschärft hat: Ab sofort war (und ist) es verboten, sich in Gegenwart von Minderjährigen positiv über Homosexualität zu äußern. Die russische Politik tut also so, als hätte es in den vergangenen einhundert Jahren keine Entwicklung gegeben, stempelt queere Menschen als minderwertig ab und schafft damit die Basis für verbale und körperliche Übergriffe. Aus Gedanken werden Worte. Aus Worten werden Taten. Die queeren Medien sind voll mit Berichten über brutal misshandelte Schwule, Lesben und andere Queers.
Vor diesem Hintergrund und mit diesem Wissen habe ich mich an ein Buch gewagt, das mir sofort ein ungutes Gefühl im Bauch bereitete. Mikita Franko, ein in Moskau lebender Transmann, kommt ursprünglich aus Kasachstan und hat einen fulminanten Roman vorgelegt, den ich von der ersten bis zur letzten Seite wie im Rausch gelesen habe.
Schwule Väter Inhaltlich geht es zunächst um den fünfjährigen Mikita, der nach dem Tod seiner Mutter von deren Bruder adoptiert und aufgezogen wird. Dass Slawa schwul ist, weiß der Junge natürlich in den ersten Jahren nicht, und Lew, der nette „Mitbewohner“ seines Onkels, gehört einfach mit dazu. Aber nach und nach stellt Mikita Fragen, in der Schule wird er komisch angeguckt und er beginnt zu verstehen, dass seine Familie völlig anders ist als die Familien seiner Freunde.
Mich hat dieser Roman von der ersten Seite an völlig gefesselt. Vielleicht, weil ich auf die große Katastrophe gewartet habe. Vielleicht aber auch, weil ich irgendwie noch auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen gehofft habe. Wider besseres Wissen. Aber auch sprachlich ist dieses Buch des heute 25jährigen Russen wirklich überzeugend.
Russische Realität Und immer wieder schiebt sich bei der Lektüre die russische Realität vor meine Augen. Die tägliche Verfolgung, die brutale Gewalt durch Polizei, die Willkür, der die Menschen ausgesetzt sind. Bis hin zu den Berichten über Schwule, die sich via Dating-Apps verabreden und dann auf eine Gruppe brutaler Schläger treffen. All diese Bilder drängen sich mir auf und lassen mich den Mut erkennen, den ein junger Schriftsteller aufbringen muss, mit diesem Roman an die Öffentlichkeit zu treten und sich damit verbalen und im Zweifelsfall auch körperlichen Übergriffen auszusetzen.
Und ich kann nicht verhindern, auch an die Menschen in der Ukraine zu denken. Die Ukraine ist gesellschaftlich beileibe noch nicht mit den meisten Staaten der EU vergleichbar. Die Korruption ist bis heute eine große Herausforderung. Aber das Land war auf einem guten Weg. Bis zum 24. Februar 2022. Queere Menschen in der Ukraine müssen das einmarschierende russische Militär in doppelter Hinsicht fürchten. Weil sie Ukrainer sind. Und weil sie queer sind. Immerhin hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor ein paar Tagen geäußert, dass er die Einführung gleicher Rechte für Schwule und Lesben befürworte. Allerdings erst nach Beendigung des Krieges. Und das wird vermutlich noch Jahre dauern.
All dies geht mir durch den Kopf, wenn ich mich mit Mikita Frankos Roman beschäftige. Und all dies hat keinen Einfluss darauf, dass dieser Roman eine Wucht ist.
Regina Mars publiziert unter Pseudonym realistische und fantastische Romane
In einer magischen Vollmondnacht paarten sich ein Einhorn und ein Regenbogen und zeugten Regina Mars. Geboren, um Kaffee zu trinken, lebt sie im Süden Deutschlands und erfreut die Welt mit ihren poetischen Romanen, in denen die Liebe stets gewinnt und Witze so dumm, albern und fragwürdig sein dürfen, wie sie wollen.
So lautet zumindest die offizielle Version. In Wahrheit ist sie das Kind zweier Westfalen, wuchs im Rheinland auf, lebte fast zehn Jahre in Berlin, lernte in Hamburg einen wunderbaren Mann kennen, zog mit ihm ins Schwabenländle und hat nach dieser Odyssee einen Dialekt, der so rätselhaft wie furchtbar ist. Stört sie aber nicht.
Regina ist die Autorin von über 30 Romanen, vor allem Romanzen, vor allem schwulen. Lesbisch und hetero hat sie auch ausprobiert und sogar eine Urban Fantasy-Serie ohne Romantik … Na gut, mit ein bisschen Romantik. Musste sein.
Ihr einziges richtiges Hobby ist lesen. Nicht nur Romantik, sondern auch Fantasy, Krimi, Thriller und Jugendbücher. Und natürlich ihre heißgeliebten Schreibratgeber.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Ja, also so halb. Mein Nachname ist gar nicht Mars, aber unter meinem echten bin ich schon Illustratorin. Ich dachte, es wäre besser, wenn ich meine beiden Jobs trenne, damit es für die Kunden nicht zu verwirrend ist („Hey, ich illustriere und außerdem schreibe ich und mache nebenher noch Strickstulpen für Hunde!“). Das war tatsächlich eine Marketingentscheidung. Dabei bin ich bei Marketing sonst so schlecht … Nebenher habe ich noch ein zweites, halb offenes Pseudonym, um mal richtigen Schund zu schreiben ohne die Leser zu enttäuschen.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich lebe in einer süddeutschen Kleinstadt und bin auch ganz zufrieden hier. Weiter weg muss gar nicht sein (Ja, ich weiß: Alle wollen ein Haus in Irland. Aber ich mag es hier). Das einzige, was fehlt, ist ein Balkon. Ich habe diese romantische Vorstellung vom Schreiben auf dem Balkon, natürlich umgeben von blühenden Pflanzen (grüner Daumen: nicht vorhanden) und seichter Sommerbrise. In der nächsten Wohnung vielleicht.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin eine mittelalte Nerd-Mutti und finde das nicht übel. Natürlich wäre ich gern selbstbewusster, größer und NOCH schöner, aber ja … Wer nicht? Manchmal wäre ich auch gern eins meiner Autorenvorbilder, aber die sind alle entweder alt oder schon tot, was mir dann doch nicht so recht wäre. Mit ein bisschen Glück habe ich noch Jahrzehnte des Schreibens vor mir, das macht mich ziemlich glücklich.
Für wen schreibst du? Zuallererst mal für mich. Ich schreibe die Geschichten, die ich selbst lesen will und die sonst keiner schreibt. Leider. Schreiben dauert ganz schön lange, dafür, wie schnell man so ein Buch dann ausgelesen hat. Ich bekomme immer wieder Mails mit „Ich habe letzte Woche all deine Bücher gelesen“ und weine dann still. He, es hat JAHRE gedauert, die zu schreiben!
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Geld, haha. Okay, das ist gelogen. Teilweise. Seit ein paar Jahren bin ich Vollzeitautorin und die Miete zahlen zu können motiviert mich schon. Aber vor allem ist es diese Stimme in meinem Kopf, die mir immer neue Geschichten erzählt, die einfach auf Papier gebannt werden müssen. Was auch motiviert: Routine. Besser jeden Tag eine Seite als zehn Seiten alle paar Sonntage.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du? Meist ganz langweilig am Schreibtisch. Da sind auch das ergonomische Keyboard und der höhenverstellbare Schreibtisch, die ich alte Dame brauche. Ab und zu im Café oder im Park. Was ich sehr empfehlen kann: Autorentreffen im Pub. Die sind immer erstaunlich produktiv. Bier hilft gegen Schreibblockaden, echt wahr.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren? Dass ICH sie schreibe. Ich glaube, das ist wirklich das Geheimnis, dass ich die Storys durch meine seltsame Weltsicht gefiltert niederschreibe. Was das genau heißt? Äh, keine Ahnung. Auf jeden Fall, dass weder ich noch meine Figuren je ernst bleiben können. Selbst, wenn die Welt kurz davor ist, unterzugehen.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Äääääh … Weil er/sie denkt, dass Kitsch, Drama und blöde Witze TOTAL gut zusammenpassen und unbedingt vermischt werden sollten? Oder, weil er/sie ein Herz für Figuren hat, die sonst nie die Hauptrolle bekommen?
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman Zuletzt habe ich eine Urban Fantasy-Serie mit zahlreichen queeren Figuren geschrieben. Was eigentlich untypisch für mich ist. Normalerweise schreibe ich Liebesromane, vor allem Gay Romance. Aber ich hatte mal Lust auf etwas anderes und so sind die Abenteuer der schlechtesten Wächtertruppe von Berlin entstanden … die am Ende viel erfolgreicher ist als alle es ihr zugetraut haben. Romanzen gibt es natürlich trotzdem. Mir wäre langweilig ohne.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Viele. Mal sehen …
No Way Leonie Biersack und das Herz aus Stein Hopfen und Herz Funkenflut Seine Narben Zu ihm Goldsplitter Ehebrecher Sonnengeküsst Sexy Versager Plötzlich Prinzgemahl Aufgetaut Lautstark verliebt 2 Jahre später Diagnose Depp Verdammt magisch Horrorhamster List und Liebe Das Mondmal Das Monster im 5. Stock Heiße Keramik Winterchaot Dichte Dichter 1 – Milan Dichte Dichter 2 – Valentin Dichte Dichter 3 – Rob Die Wächter von Magow 1 bis 12 Frostsklave Drei Dates mit dem Prinzen Seegurken
Dazu noch ein paar Kurzgeschichten. Nicht schlecht, was?
Woran arbeitest/schreibst du gerade? An einer Kurzgeschichte über einen falschen Pagen, eine Ziegenherde und ein fatales Missverständnis. Weil ich gerade in Elternzeit bin, komme ich nur langsam voran, aber es wird.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Oh, es gab so viele und ich kann mich für keine entscheiden. Witzigerweise ist die erste, die mir einfällt, eine Drei-Sterne-Rezension, die ich ganz am Anfang zu meinem ersten Roman bekommen habe. Da hat die Leserin sich sehr über eine Figur aufgeregt. Also wirklich SEHR. Und ich war total beeindruckt, dass jemand, den ich erfunden habe, so starke Gefühle hervorrufen kann.
Die Bücher von Katharina Wolf erscheinen bei Verlagen und im Selfpublishing.
Katharina Wolf lebt mit ihrem Mann, ihrem Sohn und zwei Katzen in Ludwigshafen am Rhein und lässt es sich dort gutgehn. Sie hat in Mannheim studiert (Germanistik und Kulturphilosophie – hört sich cooler an als es ist) und danach in Frankfurt in einer PR-Agentur ein Volontariat begonnen und abgeschlossen. Nach einigen Jährchen des täglichen Pendelns in die Bankenstadt, hat es sie jobtechnisch wieder zurück in die Heimat verschlagen. Hier ist sie nun Online-Redakteurin.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum? Es ist ein halbes Pseudonym. Katharina Wolf ist mein Mädchenname. Nach meinem ersten Buch habe ich geheiratet und habe nun eigentlich einen anderen Nachnamen. Aber als Autorin ist es beim Wolf geblieben ☺
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben? Ich lebe in Ludwigshafen am Rhein und würde gerne am Meer leben. Oder in Berlin! Keine Ahnung warum, aber die Stadt fasziniert mich. Aber vielleicht reicht es auch, ab und an dort Urlaub zu machen.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein? Ich bin genau die Person, die ich auch sein will, und meistens auch recht zufrieden mit diesem Zustand ☺
Für wen schreibst du? Ich schreibe für alle, die Liebesgeschichten mit Happy End lieben
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben? Meine Leser*innen deren liebes Feedback. Das baut mich einfach immer wieder auf und motiviert mich!
Was ist das Besondere an deinen Figuren? Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft, wie ich sie wahrnehme. Sie sind divers, queer und wunderbar bunt.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen? Weil sie eine Happy End Garantie haben ohne übermäßig kitschig zu sein. Und weil man sie mit einem Lächeln zuschlägt
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman. Im Februar ist „Was wir von Quallen lernen können“ im Drachenmond Verlag erschienen. Darin geht es um Henry, einem Nerd mit ziemlich viel unnützem Wissen über alles Mögliche (zum Beispiel über Quallen), der sich in den Barkeeper Max verliebt. Die beiden fangen tatsächlich etwas miteinander an, aber schnell wird Henry klar, dass Max etwas verheimlicht, was irgendwie zwischen ihnen steht. Was das wohl ist? 😉
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen? Schon einige. Hier mal eine kleine Auswahl:
Vier Jahre ohne dich
Strike – oder die Unwahrscheinlichkeit vom Blitz getroffen zu werden und die große Liebe zu finden
Nachrichten von Mr Dean
Mein Herz, dein Kopf und ein Universum dazwischen
Die Sache mit der Motte und dem Licht
Festivalsommer Teil 1 und Teil 2
Exklusiv nicht zusammen
Und ganz neu: Was wir von Quallen lernen können
Woran arbeitest/schreibst du gerade? Momentan schreibe ich ein weiteres Buch mit Ina Taus zusammen und plane gleichzeitig ein anderes Projekt.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast? Da gibt es viele! Aber eine davon war eindeutig, dass der Leserin das Buch „Exklusiv nicht zusammen” den Mut gegeben hat, ihrer besten Freundin die Liebe zu gestehen. Sie sind mittlerweile verlobt!
Ich wollte mich eigentlich nie in die Schublade des schwulen Autors stecken lassen, weil ich diese Form der Kategorisierung nicht mag. Vielleicht kennst du das, wenn dich jemand fragt woher du kommst (wenn du einen Migrationshintergrund hast), ob der Aktzeichenkurs ein schwuler ist (wenn du ein queerer Künstler bist) oder ob du allein aufs Klo gehen kannst (wenn du im Rollstuhl sitzt): Jedes Mal wirst du auf mehr oder weniger übergriffige Weise auf einen Teil deiner Identität zurückgeworfen, der dich gar nicht zentral ausmacht. Denn eigentlich verstehe ich mich in erster Linie als Schriftsteller, als liebevoller Freund und als konstruktiver Kollege (und vieles mehr). Und nur am Rande bin ich auch noch schwul. Meine Homosexualität gehört zu mir, sie prägt mein Leben entscheidend. Aber eben nicht immer und überall. Deshalb zucke ich jedes Mal zusammen, wenn mir durch meist nett gemeinte Fragen der Stempel aufgedrückt wird, dass ich eine absonderliche Spezies bin. Mich nervt das kolossal! Genau deshalb wollte ich nie rein schwule Bücher publizieren.
Doch es gibt noch eine andere Seite der Medaille: Ich freue mich über jeden Roman, in dem ein schwuler Charakter nicht nur eine spaßige Nebenrolle übernimmt, sondern im Fokus der Handlung steht. Wenn sich zwei Männer ineinander verlieben oder zumindest miteinander spielen. Aber von diesen Büchern gibt es viel zu wenige. Und eine Reihe dieser wenigen Titel sind leider erstaunlich schlecht geschrieben. Nicht nur im Selfpublishing, auch die Werke, die in etablierten Verlagen herauskommen, scheinen oft ohne fundiertes Lektorat oder literarischen Anspruch veröffentlicht zu werden. Und das ärgert mich noch mehr. Also schreibe ich dagegen an. Das ist mein Anteil an der queeren Bewegung unserer Gesellschaft.
Warum ist die Figur denn schwul?
Als ich dann vor ein paar Jahren mit einer Agentin darüber sprach, schwule Romane auf die Welt zu bringen, war die Reaktion irgendwas zwischen Desinteresse und Ablehnung. Ich musste mir anhören, dass es auf dem deutschen Buchmarkt keine Publikationsplätze für solche Titel gebe. Außerdem sollte ich begründen, warum die Hauptfigur in der Geschichte, die ich im Kopf hatte, schwul war. Das hat mich ehrlich gesagt ziemlich schockiert. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich als Autor eine Begründung für die sexuelle Orientierung meiner Protagonisten liefern sollte. Warum sollte die Homosexualität dann auch noch so sehr in den Fokus gerückt werden, dass sie das zentrale Problem der Handlung wurde? Der Grundgedanke dahinter war: Wenn die Hauptfigur einer Geschichte schwul ist, dann muss sie damit auch Probleme haben, anecken oder durch ihre Homosexualität an den gesellschaftlichen Bedingungen scheitern. Ein Krimi mit einem schwulen Kommissar, der die Morde an einem Politiker aufklärt, braucht zwingend eine Verquickung des Falls mit dem Thema Homosexualität. Sonst könnte der Kommissar ja auch hetero sein. Oder?
Immer noch werde ich total wütend, wenn ich an diese Reaktionen denke, die im Übrigen nicht nur von einer Agentur an mich herangetragen wurde. Bei einem heterosexuellen Mörder stellt sich ja auch nicht automatisch die Frage, warum er denn nicht schwul ist. Oder stehe ich auf dem Schlauch?
(unten gehts weiter)
Ich habe eine Novelle für dich!
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Warum mögen meine Leser.innen diesen Newsletter?
Weil sie kostenlos eine prickelnde Novelle bekommen.
Weil sie über spannende Hintergründe der Geschichten informiert werden.
Weil sie sofort von den aktuellsten Neuerscheinungen erfahren.
Weil sie an Vorableserunden und Verlosungen teilnehmen können.
Die Bedeutung der queeren Literatur für das Selbstverständnis queerer Menschen
Dabei sind schwule und queere Bücher ein extrem wichtiger Teil des homosexuellen Selbstverständnisses. Nur durch Sichtbarkeit in allen Facetten des Lebens und an allen Orten unserer Gesellschaft kann ein Zustand von Gleichberechtigung und Anerkennung erreicht werden. Ich brauche Rollenmodelle und Vorbilder, um mich weiterzuentwickeln, um mich zu outen und um mich selbst als unaufgeregtes Mitglied dieser Gesellschaft zu fühlen. Wenn meine sexuelle Orientierung in der Literatur (und im Übrigen genauso im Film) ausgespart, in die Nebenrollen oder in Nischenprodukte verschoben wird, dann werde ich mich selbst immer wieder anzweifeln. Und wenn sich die schwule Literatur darauf konzentriert, ein Nischenprodukt zu sein, das nur von einer kleinen eingeschworenen Gemeinschaft gelesen wird, dann wird es auch auf lange Sicht viel zu wenig Publikationen in diesem Bereich geben. Denn auch queere Autor.innen müssten auf die Verkaufszahlen und die damit verbundenen Einkünfte gucken. Der Kühlschrank füllt sich nicht von selbst. Schwule Bücher gehören also in Buchhandlungen nicht in das Regal mit der Regenbogenflagge, sondern in die Abteilungen der Liebesromane, Krimis und Thriller. Sonst setzt sich die Entwicklung der Abstempelung bis in alle Ewigkeiten fort. Sonst werde ich auch in zehn Jahren noch begründen müssen, weshalb der Serienmörder in meinem Thriller Männer liebt.
Schreibe ich Gay Romance oder schwule Literatur?
Und was machte ich? Ich schreibe Bücher, in denen die Protagonisten schwul sind, in denen sich die Handlung mit der Konfrontation von homosexueller und heterosexueller Welt beschäftigt, in der ich in erster Linie darüber berichte, wie der Protagonist durch seine Homosexualität aneckt, ausgegrenzt wird und zuweilen scheitert. Asche über mein Haupt! Ich schreibe genau das, was ich oben kritisiere. Aber im Moment kann ich nicht anders. Vermutlich bin ich gerade in einer Phase der Auseinandersetzung mit mir selbst. Eine Art zweites (oder zwölftes?) Coming-out.
Doch zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass ich noch nicht am Ende meiner schriftstellerischen Karriere angekommen bin. Ich arbeite hart an mir. Jeden Tag. Und ich habe weiterhin ein klares Ziel vor Augen: Meine Bücher sollen über kurz oder lang immer mehr dem entsprechen, was ich oben gefordert habe. Sie sollen schwule Charaktere beinhalten, die einen Fall lösen, die Dramen erleben, die eine Weltreise unternehmen – ohne ihre Homosexualität in den Fokus zu stellen.
Meine aktuellen Romane veröffentliche ich noch unter dem Label Gay Romance, weil ich glaube, sie für die Leser.innen logisch einordnen zu müssen. Aber eigentlich fallen sie für mich eher in die Kategorie schwule Romane – mit der Bezeichnung fühle ich mich zumindest viel wohler. Vielleicht komme ich dann auch irgendwann an den Punkt, dass ich selbst ungezwungener und selbstverständlicher mit meinen Figuren umgehen kann, sodass sie ganz ohne Schubladen zum Leben erwachen und Teil der deutschen (und internationalen) Bücherregale werden. Meine Erfahrung zeigt mir ja jetzt schon, dass nicht in erster Linie Schwule zu meinen Lesern gehören. Ganz im Gegenteil: Viele meiner Leserinnen sind weiblich und vermutlich heterosexuell (Ich habe sie nie danach gefragt). Anfangs hat mich das erstaunt, aber nach und nach habe ich diesen Umstand akzeptiert. Das wird allerdings keinen Einfluss auf meine Art zu Schreiben oder meine Themen- und Charakterauswahl haben. Versprochen!
Ich habe eine Novelle für dich! Trag dich in meinen Newsletter ein und schnapp dir eine exklusive Novelle aus dem Universum der GayStorys!
Tina Winter wurde 1985 im Rheinland geboren, lebt aber inzwischen in Münster. Ihrer Leidenschaft für Bücher folgend studierte sie Bibliothekswesen und begann 2016 damit, ihre eigenen Geschichten zu Papier zu bringen. In ihren Gay-Romance-Romanen geht es um Männer auf der Suche nach sich selbst, auffallend oft um Kaffee und Topfpflanzen und natürlich die ganz große Liebe.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum?
Ja, Tina Winter ist ein Pseudonym, allerdings ein offenes. Mein richtiger Name wird oft falsch verstanden und geschrieben, zudem möchte ich mein Autorinnen-Ich von meinem Alltags-Ich trennen.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben?
Ich lebe im wunderschönen Münster und fühle mich hier richtig wohl. Manchmal träume ich von einer Hütte im Wald, vielleicht in Norwegen oder Schweden oder meiner eigenen Burg! Aber ich glaube, in der Realität würde ich mich dort schnell langweilen. 😉
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein?
Ich bin ein durch und durch kreativer Mensch, der viel über sich und die Welt nachdenkt. Lange habe ich nach einem Ventil für diese kreative Energie gesucht und sie schließlich im Schreiben gefunden, wofür ich sehr dankbar bin. Für die Zukunft wünsche ich mir, weiterhin offen für neue Erfahrungen und neues Wissen zu sein.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben?
Mich motivieren meine Geschichten und der Wunsch, sie zu beenden und selbst zu lesen. Ich bin sozusagen meine eigene beste Kundin. *lach*
Wo oder in welchem Kontext schreibst du?
Ich schreibe meist zuhause, da ich mich hier am besten konzentrieren kann. Mein Rücken ist mir auch dankbar, wenn ich ihn nicht ungemütlichen Caféstühlen quäle.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren?
Das ist schwer zu sagen, da ich natürlich anders auf meine Texte schaue als ein*e Leser*in. Ich denke, es sind die Figuren. Ich schreibe Protagonisten, die auch mal anecken und auf dem Weg zu ihrem Happy End über sich selbst hinauswachsen müssen. Das fällt ihnen nicht immer leicht, aber so ist es schließlich auch im echten Leben, oder?
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen?
Weil meine Geschichten tiefgründig, lustig, dramatisch, heiß und romantisch sind – alles in einem Buch!
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman.
Mein letzter Roman „#vanlove: Ein Sommer mit dir“ ist eine sommerliche Gay Romance über den einsamen Wolf David und den quirligen Influencer Niklas, die einen gemeinsamen Roadtrip durch Schweden machen. So unterschiedlich, wie die beiden sind, fliegen dabei natürlich ordentlich die Fetzen, aber davon lässt sich die Liebe bekanntlich nicht aufhalten. 😉
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen?
Mein Debütroman „Pictures of you“, „Lügner & Feigling“ und „#vanlove“.
Woran arbeitest/schreibst du gerade?
Im Moment überarbeite ich einen Roman, den ich gerne im Winter veröffentlichen möchte. Außerdem schreibe ich an einer Kurzgeschichte.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast?
Grundsätzlich freue ich mich natürlich über jede Rückmeldung! Ganz besonders schön finde ich es aber, wenn mir Leser*innen schreiben, dass sie eine Figur wie David, der am Anfang sicher nicht der sympathischste Protagonist aller Zeiten ist, doch noch überzeugt hat. Das zeigt mir, dass ich meine Sache beim Schreiben gut gemacht habe.
Um dieses Buch bin ich nun lange herumgeschlichen, weil ich mich mit der Thematik nicht auseinandersetzen wollte. Es geht um die AIDS-Krise in den 1980er-Jahren und ich habe immer befürchtet, dass der Roman mich zu sehr berühren würde. Er hat mich tatsächlich berührt, aber auf eine völlig andere Weise als erwartet.
Rebecca Makkai erzählt die Geschichte einer schwulen Freundesgruppe in Chikago. Im Fokus steht der junge Kunstexperte Yale, der auf der Suche nach herausragenden Neuerwerbungen seiner Galerie sucht. Doch nicht nur die Kunst beschäftigt ihn, viel relevanter ist dieses neue Virus, mit dem sich nach und nach seine Freunde infizieren. Makkai beschreibt dabei sehr einfühlsam, wie das Virus die Menschen in Windeseile überfällt und viele von ihnen tötet. Parallel dazu führt ein Erzählstrang in die Gegenwart, in dem Fiona, die Schwester eines der AIDS-Opfer der 1980er, sich auf die Suche nach ihrer Tochter in Paris macht und dabei mit den Erinnerungen und den Menschen aus der Vergangenheit konfrontiert ist.
Dieses Buch ist keine leichte Kost. Aber die Autorin nimmt ihre Leser.innen sanft an der Hand und begleitet sie einfühlsam.
Lesen heißt immer auch lernen Ich habe nicht gewusst, wie massiv HIV damals in die schwule Szene eingedrungen ist. Ich habe nichts von dem unendlichen Leid geahnt. Ich habe das alles einfach nicht wissen wollen, weil mir das Thema viel zu nahe geht. Ich bin 1973 geboren, meine Pubertät einschließlich der Auseinandersetzung mit meiner Sexualität hat sich gegen Ende der 80er-Jahre abgespielt. Und genau in die Phase, in der ich mich an meine Homosexualität herangepirscht habe, waren die Medien voll mit den schockierenden Nachrichten über die Seuche, die Tausende Menschen qualvoll in den Tod gerissen hat. Genau erinnere ich mich noch an die Überlegungen der bayerischen Landesregierung, Quarantänelager für die Infizierten einzurichten. Das war ein Schock sondergleichen für den kurz vor dem Outing stehenden Jungen, der viel zu wenig Vorbilder für ein schwules Leben hatte. 1993 schockte die Modemarke Benetton zudem mit Bildern über AIDS-Kranke. Wie sollte ich damit umgehen? Wie konnte ich mich in dieser aufgeheizten Zeit outen? In den folgenden Jahren war ich immer wieder damit konfrontiert, dass ein Outing sofort die Verbindung zu HIV und AIDS nach sich zog. Das hat mein Leben nicht einfacher gemacht.
Das ist also der Hintergrund, das ist meine Erinnerung, die ich an diese Zeit habe. Ich war nicht richtig dabei, ich habe damals keine Freunde durch HIV verloren. Ich habe das Elend in der Community und den Familien nicht erlebt. Aber ich habe die Angst gespürt. Und ich habe mich selbst damit sehr schwer getan, zwischen Schwulsein und dem Virus zu abstrahieren. Ich war allein mit den damit verbundenen Ängsten und Unsicherheiten, denn wir hätte ich darüber sprechen sollen?
Gelassenheit durch Erfahrung Heute kann ich damit anders umgehen. Ich weiß, dass Homosexualität nicht mit dem Virus gleichzusetzen ist. Mittlerweile gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten und Therapien – auch wenn die weiterhin mit Einschränkungen der Lebensqualität einhergehen. Und vor allem kenne ich die Übertragungswege des Virus. Und nicht zuletzt gehe ich heute mit einem fundierten Rucksack an Lebenserfahrungen durch die Welt, der mit hilft, diese Dinge mit größerer Distanz und Gelassenheit zu betrachten.
Wir dürfen nicht vergessen, dass schwulen Männern in den 1980er- und 90er-Jahren immer noch mit großen Vorbehalten begegnet wurde. Der Paragraf 175 war in Deutschland bis 1994 in Kraft (auch wenn es in dieser Zeit keine Verurteilungen mehr gab) und stellte Schwule weiterhin automatisch an den Pranger. Spätestens mit der Einführung der Ehe für alle 2017 durch den Deutschen Bundestag hat ein Prozess der wirklichen Gleichstellung einen großen Schritt nach vorne gemacht. Und doch sind wir immer noch nicht am Ende des Kampfes angelangt.
Glück gehabt? Vielleicht wird aus all dem, was ich euch hier erzähle, klar, welche Ängste ein Roman wie der von Rebecca Makkai bei mir hätte antriggern können. Aber er hat es nicht getan. Vielmehr hat er mich in einen Frieden mit dem Thema gebracht. Ich verstehe jetzt viel besser, was damals mit mir passiert ist und ich bin plötzlich sehr froh, die Hochphase des Infektionsgeschehens nicht hautnah miterlebt zu haben. Wäre ich zehn Jahre früher geboren worden, hätte das ganz anders aussehen können.
Ich bin sehr glücklich, dass ich mich endlich an den Roman herangetraut und bei der Lektüre unfassbar viel gelernt habe. Über die Zeit, über Menschen und nicht zuletzt über mich selbst.
Der Autorschreibt seit seiner Jugend Geschichten und veröffentlicht seit August 2020 Romane im Gay Romance-Genre. Er lebt mit seinem Partner und ihren Hunden in einem Häuschen im beschaulichen Schleswig-Holstein. Wenn er nicht gerade mit der Gartenarbeit, den Haustieren oder dem Lesen eines guten Buchs beschäftigt ist, arbeitet er wahrscheinlich gerade an seinem nächsten Buchprojekt. Bisher sind von dem Autor sechs Romane in zwei unterschiedliche Reihen erschienen (»Love Tangle« und »Boys in Love«). Im März 2022 kam mit “Don’t Let Him Go” noch ein weiterer Roman hinzu, der zu keiner dieser Reihen gehört.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum?
Mein Pseudonym klingt viel schöner als meinen Realname. Außerdem schreibe ich Erotik, von daher finde ich ein Pseudonym sinnvoll.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben?
Ich lebe zusammen mit meinem Partner und unseren Hunden in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Wenn es so einfach wäre, würde ich lieber irgendwo leben, wo die Sonnenstunden pro Jahr viel höher sind. Vielleicht in Spanien oder irgendwo anders im Süden.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein?
Ich bin einfach ein Mann, der gern kreativ arbeitet und sich vielleicht noch verwirklichen möchte, auch wenn ich mittlerweile gelassener geworden bin und das Leben so nehme, wie es kommt. Man lernt jedoch nie aus und kann sich stets verbessern. Natürlich wäre ich gern selbstbewusster, jünger, sportlicher etc. Aber das alles macht einen nicht aus. Gut, an ersterem kann man noch arbeiten. ☺
Für wen schreibst du?
Ich schreibe für mich, weil es mir Spaß macht, aber auch für meine Leser.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben?
Mich motivieren Geschichten, die ich lese oder aufschnappe, ebenso motiviert mich die Möglichkeit, etwas selbst zu erschaffen, statt ausschließlich weisungsgebunden zu arbeiten, wie in den meisten Berufen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du?
Früher schrieb ich überall und nirgendwo. In der Bahn, in der Mittagspause im Café, auf dem Sofa, auf der Terrasse. Mittlerweile hauptsächlich in meinem heimischen Büro. Es ist alles etwas geordneter und ernsthafter geworden, was nicht heißen soll, dass nicht trotzdem mit Überraschungen und Stolpersteinen zu rechnen ist. Da muss wohl jeder Autor durch.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren?
Ich denke, das ist schwer zu beantworten und sollte lieber den Lesern überlassen werden. Aber ich mag (mittlerweile) meinen Schreibstil sehr, der sich im Laufe der Schreibtätigkeit enorm verbessert hat. Das Besondere ist sicherlich in jedem Roman was anderes. Manchmal blitzt Humor durch, dann geht es wieder heiß her und die Emotionen schäumen über. Die Charaktere müssen an den Herausforderungen wachsen, bevor sie das bekommen, was sie wollen.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen?
Wer Gay Romance mag, mal spannend und tiefgründig, dann wieder locker-flockig für zwischendurch sollte mal einen Blick auf meine Geschichten werfen. In erster Linie geht es in meinen Büchern natürlich um Liebe. Aber auch ernsthaftere Themen wie Coming-Out oder sich Herausforderungen zu stellen und über sich hinaus zu wachsen spielen in einigen davon eine Rolle.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman.
Mein letzter Roman heißt Vegas-Games und ist der Auftakt einer Dilogie. Die Protagonisten sind der in ärmlichen Verhältnissen lebenden Cam und der reiche Stripclubbesitzer Kingston, die aufgrund ihrer jeweiligen Vergangenheit bestimmte Erwartungen an sich selbst und ihre Mitmenschen haben. Auch an den jeweils anderes. Es geht um Macht, Regeln, Anziehung, Lebensziele, Aufopferung für die Familie und Kompromisse. Im Grunde ist es ein einziger Kampf zweier ebenbürtiger, wenn auch sehr unterschiedlicher Gegner, der aber durch zahlreiche interessante Nebencharaktere und aufkeimende Gefühle aufgelockert wird. Schließlich beginnen sich beide zu hinterfragen, wenn auch nur im Kleinen, aber die Fortsetzung wird da sicherlich noch anknüpfen.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen?
Insgesamt sind bisher acht Bücher von mir erschienen. Vier davon in der „LoveTangle-Reihe“ und zwei in der „Boys in Love-Reihe. Dieses Jahr sind ein Einzelroman „Dont Let Him Go“ und der Titel „Vegas – Games“ als Auftakt einer Dilogie hinzugekommen.
Woran arbeitest/schreibst du gerade?
Aktuell sitze ich an der Fortsetzung der Vegas-Reihe.
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast?
Natürlich ist es schön, wenn die Leser die Charaktere und die Story lieben. Aber vor allem Ersteres ist nicht immer leicht, da die Jungs Menschen mit Fehlern und Macken sind, die erst eine Entwicklung durchmachen müssen, um Sympathiepunkte zu erhalten. Am meisten freue ich mich daher, wenn Leser erkennen, wie sehr ich mich weiterentwickelt habe. Nicht jedes Projekt ist ein Marathon, aber hinter einigen steckt enorm viel Aufwand. Daher freut mich so eine Rückmeldung dann ganz besonders.
T. J. Klune: Mr. Parnassus´ Heim für magisch Begabte
In den vergangenen Wochen habe ich das Buch von T. J. Klune schon oft bei Instagram gesehen, bis ich es mir letzte Woche endlich ausgeliehen habe. (Am Rande: Das ist eine der wunderbaren Vorteile, wenn man einen Tolino hat und damit eBooks liest – ich habe mich an die Kölner Stadtbibliothek angehängt und kann über diesen Weg auf eine Unmenge Bücher zugreifen, die ich jederzeit und an jedem Ort ausleihen kann). Und ich muss sagen: Ich bin begeistert.
Das Schöne an der Geschichte ist unter anderem der leichte Umgang mit diversen Menschen. Und damit meine ich nicht nur queere (im Speziellen: schwule) Menschen.
Gibt es Magie?
Klune erzählt die Geschichte des Sachbearbeiters Linus Baker, der für die Überwachung von Waisenhäusern zuständig ist. Diese Heime sind besonders, als dass dort Kinder untergebracht sind, die magische Fähigkeiten haben. Insofern haben wir es hier mit einem Fantasyroman zu tun, denn meines Wissens gibt es Magie nicht wirklich. Oder sollte ich mich täuschen?
Linus Baker wird ganz elegant als schwuler Mann eingeführt, ohne diese Begrifflichkeit explizit zu benennen. Er hat als Kind schon Jungs nachgeguckt. So ist das eben. Daraus entsteht kein Problemkontext, sondern das ist einfach etwas, das zu ihm gehört. So wie das saubere Hemd und die ordentliche Wohnung. Und schon das freut mich ungemein, denn hier wird ein Umgang mit dem Thema Homosexualität geprägt, den ich mir seit Langem wünsche.
Überraschung bei der Ankunft
Der Sachbearbeiter bekommt im Laufe der Handlung eine Spezialaufgabe: Er soll ein ganz besonderes Heim besuchen und dort überprüfen, ob alles den Gesetzen und Regeln gemäß abläuft. Weitere Informationen erhält er nicht, sondern er wird in einen Zug gesetzt, der ihn in eine weit abgelegene Gegend führt. Erst bei Ankunft am Ziel darf er die Akte, die er ausgehändigt bekommen hat, öffnen. Selbstverständlich hält er sich als treuer Staatsbediensteter an diese Vorgabe. Doch als er schließlich den Aktendeckel hebt und die ersten Worte liest, verliert er erst Mal das Bewusstsein, denn eines der Kinder – ein sechsjähriger Junge mit dem Namen Lucy – ist der Sohn Satans. Er ist Lucifer. Damit nimmt die Handlung ihren Lauf.
Neben vielen sehr schrägen Figuren, die mit ihren Eigenarten angeblich nicht für die Konfrontation mit der Durchschnittsbevölkerung befähigt sein sollen, steht dem Waisenhaus Mr. Parnassus vor. Er leitet das Heim für magisch Begabte seit Jahren und hat eine ganz eigene und wunderliche Vergangenheit. Er steht letztlich auch im Zentrum der Untersuchung, für die Linus auf die Insel geschickt wurde, auf der das Heim steht. Und er wird nach und nach eine immer wichtigere Rolle für Linus übernehmen, auf die ich hier allerdings nicht genauer eingehen möchte, um nicht zu spoilern.
Das Besondere im Absonderlichen
Die Bilder, die Klune in seinem Roman aufmacht, sind offensichtlich: Es gibt in jeder Gesellschaft Menschen, die anscheinend nicht in die gängigen Schemata passen. Sie werden abgesondert und speziell überwacht. Auch in unserer Gesellschaft ist das so – man denke an Menschen mit körperlichen, geistigen, seelischen und psychischen Besonderheiten. Immer noch werden sie in speziellen Schulen untergebracht, in Heimen betreut und können in vielen Fällen nicht selbstverständlich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Aber auch die Parallele zu queeren Menschen ist nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn Schwule und Lesben mittlerweile heiraten dürfen, werden doch immer noch Schubladen aufgemacht, sobald sich jemand outet.
Ich selbst lebe in einer Blase, in einer heilen Welt, in der meine Sexualität respektiert, akzeptiert und als normal angesehen wird. Aber sobald ich meinen Stadtteil verlasse, in die Provinz fahre oder sogar die Grenze überschreite, befinde ich mich in einem ununterbrochenen Alarmzustand. Ich frage mich sofort, ob ich an diesem Ort mit meinem Mann Hand in Hand durch einen Ort gehen kann, ob ich beobachtet werde und vor allem, wie die Menschen um mich herum reagieren.
Fazit
T. J. Klune schafft es auf wunderbar elegante Weise, eine Welt zu schaffen, in der zwar ein schwuler Mann als weitgehend normal angesehen wird, die zugleich aber auch mit zahlreichen Vorbehalten und Ressentiments gegen alle Andersartigen spielt. Er zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen, indem er völlig schräge Charaktere agieren lässt und sie so einfühlsam beschreibt, dass ich mich sogar in den Sohn Satans verliebe. Ich bin sehr gespannt auf seine anderen Bücher.
Die Autorin produziert Liebesgeschichten aller Art, aber immer in queerem Kontext. Ihrer Website hat sie ein Zitat vorangestellt: »Jeder Mensch verdient ein Happy End«. Hier stellt sie sich meinen Fragen und gibt bereitwillig Antworten.
Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum?
Ja, Lili ist ein geschlossenes Pseudonym. Ich will mein Privat-, Hauptberufs- und Autorinnenleben so weit wie möglich trennen.
Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben?
Oh! Das ist eine schwierige Frage. Am liebsten würde ich meine Zeit aufteilen zwischen Japan, New York, Norwegen. Obwohl ich eigentlich sehr gerne lebe, wo ich lebe. Das ist am Rande von München. Ich glaube, ich wäre aber gerne etwas näher am Wasser.
Wer bist du oder wer würdest du gerne sein?
Ist das eine philosophische Frage? Ich will definitiv niemand anders sein als diejenige, die ich bin. Ich wüsste gar nicht, wie das geht. Es hat mich auch eine halbe Ewigkeit gekostet, bis ich wusste, wer ich bin und wie das geht. 😀
Für wen schreibst du?
Ich schreibe für mich und ich überarbeite für die Leser.
Wer oder was motiviert dich zum Schreiben?
Die Schreibmotivation ist tatsächlich intrinsisch. Sie kommt aus mir. Anders siehts mit der Überarbeitungsmotivation aus. Die … ist komplett künstlich auferlegt. Und mir hilft viel Kaffee, Tee, Musik, Deadlines um durchzukommen.
Wo oder in welchem Kontext schreibst du?
Ich schreibe hauptsächlich zu Hause. Meistens in Sichtweite zu den Kindern. Dieses Jahr habe ich mir aber vorgenommen, mir ein Schreibretreat zu schenken. Zwei Tage oder so in einem schnuckligen Hotel: nur ich und mein aktuelles Projekt.
Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren?
Ich nenne ja das, was ich schreibe „Rainbow Romance“. Selbst, wenn Charaktere in einer hetero Beziehung sind, hat die Geschichte einen queeren Kontext. Und es wird immer ein Happy End geben.
Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen?
Sie sind kurzweilig, es gibt immer ein bisschen mehr zu entdecken, als es der erste Anschein vermuten lässt, sie sind hoffnungsvoll und lassen eine:e mit einem positiven Gefühl zurück in die wirkliche Welt.
Erzähl doch bitte ein wenig über deinen letzten Roman (oder über das Buch, das du von deinen Büchern am liebsten magst).
Ich erzähle mal von dem Buch, das als nächstes veröffentlich werden soll: es ist ein Redemption – Buch. Ich wollte immer ein Buch, mit einem echten Fiesling schreiben, der eine richtige Wandlung und Reifung durchmacht. Und so bekommt Dennis, der Bösewicht aus „Luft an Land“ bald ein eigenes Buch. Es spielt in Regensburg, einer Stadt, die ich über alles liebe, übrigens. Es wird sehr emotional und Dennis darf viele wunderbare Erfahrungen machen, die ihn fordern und an den Rand seiner Kapazitäten bringen und er lernt, darüber hinaus zu gehen. Eine Testleserin, die Regensburg kennt, hat mir ein tolles Kompliment gemacht: das Gefühl des Sommers in dieser Stadt mit ihren mittelalterlichen Mauern, sei komplett eingefangen. Alek, der zweite Protagonist, hadert auch mit seiner Schuld. Gemeinsam finden sie – über Umwege – Möglichkeiten mit ihrer jeweiligen Vergangenheit, umzugehen.
Welche Bücher sind von dir bereits erschienen?
8 (7 Romane, 1 Kurzgeschichte)
Woran arbeitest/schreibst du gerade?
Ein Roman und zwei KGs sind im Lektorat. Ein weiterer Roman geht in den nächsten Tagen an die Testleser:innen. Woran ich gerade schreibe und komplett aufgehe, ist eine neue Reihe. Hier wage ich mich mal fern ab von der Realität. Vermutlich fällt das Buch in die Kategorie „Romantasy“, magical Realism, eine paar Geister, ein bisschen Zauber der ein oder anderen Art. Es spielt aber in einem zeitgenössischem urban Setting – New York und Tokio lassen grüßen. 😀 Ich freue mich schon mega auf die Bücher! Das Schreiben macht so einen Spaß!
Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast?
Auf „Geborgenheit sucht Reisepartner“ meinte ein:e Leser:in, dass er/sie sehr gezögert hat, das Buch zu lesen, da er/sie grundsätzlich keine „Halbwaisen-Geschichten“ liest, Henrys Geschichte er/sie aber zwar mitgenommen, aber hoffnungsvoll und zufrieden zurückgelassen hat. Wir haben uns intensiv über Verlust ausgetauscht und die Art, wie ich sie gewählt habe, im Buch umzusetzen. Das war so ergreifend und bereichernd, dass es mich nach wie vor tief berührt.
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Aristophanes und Ralf König: Lysistrata. Eine queere Kooperation.
Ich bin mir nicht mehr sicher, wie alt ich war, als ich in einer Inszenierung von Aristophanes´ LYSISTRATA in meiner Schule mitgespielt habe. Vermutlich dreizehn oder vierzehn. Ich wollte halt Theater spielen und es gab nur diese eine Schaupielgruppe an der Schule. Also habe ich eine kleine Nebenrolle bekommen und mich in die Proben geworfen. Ein bisschen komisch war das in dem Alter schon, sich nicht nur mit einem antiken Lustspiel zu beschäftigen, sondern vor allem auch mit der anzüglichen Story. Denn immerhin steht im Zentrum der Handlung die sexuelle Verweigerung aller Frauen aus Sparta und Athen mit dem Ziel, die Männer zum Ende des Krieges zu bewegen.
(Wenn ich mir das jetzt noch mal genau durch den Kopf gehen lasse, frage ich mich, warum die Frauen der Welt diese Taktik nicht einfach mal wieder aufleben lassen. Eine von Frauen dominierten Welt wäre vermutlich weitaus friedlicher als das männerdominierte Weltgeschehen…)
Aber zurück zu meinen eigenen Erfahrungen
Unter der Leitung von Lysistrata verweigern sich die Frauen und rufen natürlich erst den Spott und später die unbefriedigte Lust der Männer auf den Plan. Im Rückblick auf mein pubertierendes Ich muss ich schmunzeln, denn damals wird mich diese Geschichte vermutlich ziemlich durcheinandergebracht haben. Erst viele Jahre später habe ich eine von Aubrey Beardsley (1872 bis 1898) illustrierte Ausgabe des Lustspiels von Aristophanes (ca. 450 bis 380 v. Chr.) entdeckt. Die Bilder sind nicht nur für die damalige Zeit – wir sprechen vom Ende des 19. Jahrhunderts – erstaunlich. Damals haben sie Entsetzensstürme hervorgerufen, denn der Künstler zeigt in aller Deutlichkeit und Detailtreue vollkommen überdimensionierte Erektionen. Und auch heute sind die Abbildungen zumindest anrüchig, wenn nicht gar pornografisch. Aber sie rufen natürlich keine vergleichbare Reaktion mehr hervor.
Meine Mitwirkung in dem Theaterstück hatte allerdings auch noch eine vollkommen andere Folge: Ich kam zum ersten Mal mit einem Comic von Ralf König in Kontakt. Wer diesen Comic damals wem geschenkt hat, weiß ich heute nicht mehr. Auf der erste Seite steht der Name meines älteren Bruders, der ebenfalls in dem Theaterstück mitgespielt hat. Vielleicht habe ich es ihm geschenkt, oder er hat es von meinen Eltern bekommen. Oder ich habe es bekommen und er hat einfach nur seinen Namen reingeschrieben. Bei einer Sache bin ich mir allerdings sicher: Keiner in unserer Familie wird zu dem Zeitpunkt gewusst haben, wer Ralf König ist und womit er sich beschäftigt. Mir hat der Comic ein wenig mehr die Augen geöffnet.
Ralf König überträgt die Handlung in die Gegenwart
Ralf König setzt in seinem Comic LYSISTRATA die antike Geschichte von Aristophanes frei um. Zwar rufen auch hier die Frauen Spartas und Athens zur Verweigerung auf, aber die Schwulen beider Städte greifen im Comic ein und machen sich die phallischen Probleme der attraktiven Soldaten zunutze. Am Ende ist nicht nur der Krieg beendet, sondern das Schlachtfeld auch zusätzlich eine homoerotische Orgie. Die Frauen finden das natürlich ziemlich beschissen.
Dieser Comic war einer der vielen Schritte auf meinem Weg zur Selbstfindung. Auch wenn ich mich erst mit achtzehn geoutet habe, hatte ich durch die Lektüre schon mal einen ersten Kontakt zu dem Thema. Auf diese Weise konnte ich mich damit auseinandersetzen. Und das ist letztendlich einer der wichtigsten Gründe, warum ich heute noch immer jedes Mal auf die Zeichnungen von Ralf König anspringe. Seine Arbeit war ein wesentlicher Aspekt meines Weges zu mir selbst.
Klaus Mann: Der fromme Tanz. Homosexualität vor hundert Jahren.
Mit diesem Buch verbindet mich emotional sehr viel. Viel zu lange hatte ich im Grunde gar keinen Überblick über schwule Literatur. Ich hatte hier und da mal etwas gelesen, aber das Meiste war eher schlecht oder hatte mich gar nicht angesprochen. Doch dann bin ich während meines Studiums an einem Sonntag über einen der regelmäßigen Flohmärkte in Köln geschlendert und wie immer an den überbordenden Büchertischen stehengeblieben. Und da hat es mich erwischt: Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben auf den Namen Klaus Mann gestoßen und mir kam genau dieses Buch zwischen die Finger. Der Klappentext hat mich sofort angesprochen und aus dem Autorenprofil vorne im Buch habe ich entnommen, dass Klaus der älteste Sohn von Thomas Mann war. Damit hielt ich – davon war ich fest überzeugt – Qualität in den Händen. Ich hatte mich nicht getäuscht und eine große Liebe enttdeckt.
Die Anfänge schwuler Literatur in Deutschland
Der fromme Tanz er schien 1926 und gilt als einer der ersten deutschsprachigen Schwulen-Romane. Damit stellt er den Beginn einer langen Reihe von queeren Texten dar, die in den folgenden fast hundert Jahren auf den Markt kamen. Und damit ist er auch ein Muss für alle, die tiefer in dieses Genre einsteigen und sich mit den Ursprüngen schwuler Literatur beschäftigen. Der Autor outete sich seinerzeit mit der Veröffentlichung in einer Gesellschaft, die Homosexualität unter Strafe stellte (und daran sollte sich in der Folge auch lange nichts zu Positiven ändern). Die Reaktionen der Presse waren dementsprechend und da ist zum Beispiel von geschmackloser sexueller Ausschweifung die Rede. Dennoch wurde der Roman zu einem kleinen Erfolg für den erst 19jährigen Schriftsteller. Und zugleich war er schnell mit dem Vorwurf konfrontiert, nur deshalb erfolgreich zu sein, weil er der Sohn des geachteten Meisters Thomas Mann war. Zeitlebens hat Klaus Mann darunter gelitten, dass seine Literatur immer im Schatten seines Vaters stand und er nie unabhängig betrachtet wurde.
Ich war begeistert, als ich das Buch damals zum ersten Mal las, denn mir hat sich eine ganz neue Welt der Literatur eröffnet. Erst danach habe ich mich gezielter auf die Suche nach schwulen Büchern gemacht, von denen es in den 1990er-Jahren noch deutlich weniger gab, als heute. Und ich habe mich nach und nach durch die anderen Bücher Klaus Manns gewühlt und seine Sprache lieben gelernt. Sie wirkt heute manchmal etwas sperrig. Man spürt, dass der Autor in den 1920er-Jahren noch am Anfang seines Schaffens stand und ihm die Übung fehlte. Dennoch tauche ich jedes Mal wieder tief in das historische Geschehen ein. Denn dieser Roman ist auch ein Abbild der biederen Gesellschaft, in der es – abgesehen von wenigen subkulturellen Orten in den Metropolen wie Berlin und München – keinen Platz für queere Menschen gab.
Flucht aus der Enge der Familie
Im Zentrum der Handlung steht der der 18jährige Andreas aus großbürgerlichem Elternhaus, der aus der Enge seiner Famlie nach Berlin und später nach Paris flieht. Er verliebt sich unsterblich in einen anderen Jungen und zerbricht unter den Folgen dieser Liebe. So viel zur Story, die aus heutiger Sicht nicht viel Neues herzugeben scheint. Aber damals war das eine Sensation. Ein schwuler junger Mann findet seinen eigenen Weg. Das hatte es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben.
Immer wieder tauchen autobiografische Züge zwischen den Zeilen auf und der Autor macht wenig Hehl daraus, dass er sich in die Hauptfigur in Teilen selbst hineingeschrieben hat. Aber bei der literarischen Betrachtung eines Textes tritt der Autor ja meist in den Hintergrund und die Figur, der Plot und die Sprache sollen sich voll entfalten. Sprachlich ist der Roman sehr fein und einfühlsam. Mir macht es nach wie vor unheimlich viel Spaß, den verschlungenen Sätzen von Klaus Mann zu folgen und mich an einem Stil zu ergötzen, der im 21. Jahrhundert irgendwie altertümlich daher kommt.
Klaus Mann in meinem Studium
Wer Lust auf eine authentische Reise in die Weimarer Republik hat und sich nicht vor der Sprache dieser Zeit scheut, sollte sich dieses Buch unbedingt einmal zu Gemüte führen. Ich habe das intensiv getan und sogar einen Teil meiner Magisterprüfungen an der Uni Köln mit Klaus Mann bestritten. So wahnsinnig viel hat er allerdings auch nicht geschrieben.
Kleiner Fun-Fact am Rande: Im Vorwort schreibt Klaus Mann über die Menschen in seinem Alter Folgendes: „Zuweilen will es mir beinahe vorkommen, als sei es an sich und von vorneherein schon ein Zeichen von Rückständigkeit und Melancholie, als junger Menschen heute überhaupt noch Bücher zu schreiben. Das Interesse für Literatur bei der Jugend darf länger nicht überschätzt werden. Ich glaube, dass sich nur bei Vereinzelten noch Enthusiasmus für die Wichtigkeit und die Notwendigkeit des Buches findet. Andere Dinge sind es, die im Vordergrund stehen.“
So viel zu den Unkenrufen, Jugendliche läsen heute keine Bücher mehr. Genau das Gleich hat man offenbar auch schon vor hundert Jahren gesagt.
Mein erster Poetry Slam. Ich bin gespannt und ich habe – zugegebenerweise – meine Zweifel. Doch ich stelle schnell fest, dass ich nicht der erste bin, der zum ersten Mal eine solche Veranstaltung besucht. Und dann auch noch in der Südstadt. Im Odeon. Unter der Titel The Word Is Not Enough findet seit fünf Jahren jeden dritten Sonntag im Monat dieser Slam in der Kwartier-Lateng-Institution Blue Shell statt. Zum Jubiläum ziehen die Veranstalter in das Odeon-Lichtspieltheater um. Und sie füllen den Raum bis zum letzten Platz. Gespannte Erwartung von der ersten bis zur letzten Reihe. Noch vor Beginn werden Jurymitglieder aus dem Publikum ausgewählt, sieben Stück an der Zahl. Klar: Ein Slam ist eine Art Contest. Doch nicht das gesamte Publikum soll entscheiden, wer der beste Slammer des Abends ist, sondern des vereinfachten Procederes halber, nur ein paar wenige. Zwei Moderatoren betreten die Bühne, sehen aus wie Zwillinge: Rasierte Köpfe, schwarze Bärte. Der eine – Alexander Bach, der Veranstalter des Slams – gekleidet in einen schwarzen Anzug, der andere – Michael Schönen – in cooler Baggyjeans mit heraushängender Schlüsselkette. Die beiden Herren führen durch den Abend, beginnen mit einer langen Vorrede über die Historie des Slams, versuchen witzig zu sein, drehen sich jedoch eher selbstverliebt um sich selbst. Bach mokiert sich über die Abgründe der deutschen Sprache, darüber dass die Verlage Oetinger und Thienemann ihre Kinderbücher an die Gegenwart anpassen, ohne jedoch auf die medial geführte Diskussion reflektiert einzugehen. Schließlich versteigert er sich in die Bemerkung, er komme aus einer Generation, in der er noch „Negerküsse bis zur Vergasung“ gegessen habe. Autsch. Der Abend erreicht seinen ersten Tiefpunkt, als Philipp Schiemann als Sondergast außer Konkurrenz eine vulgäres Gedicht zweifelhafter literarischer Qualität zum Besten gibt. Er selber formuliert darin das Motto: „Der erste Text ist ein gottverdammter Jammer.“ Nach diesem ermüdenden Start, untermalt von einem Gedicht Michael Schönes und dem permanent ausfallenden Mikrofon, beginnt endlich der Hauptteil des Abends: Die fünf im Vorfeld ausgewählten Slammer dürfen nacheinander die Bühne betreten und ihre Texte vortragen. Leider schleicht sich der Gedanke ein, dass die Lesenden lediglich Dekoration der auf der Bühne sitzenden Moderatoren sind, die die Texte offenbar kennen und sich daher getrost miteinander unterhalten können. Das zieht die Konzentration von dem angeblichen Hauptact ab. Drei Männer, zwei Frauen. Florian Cieslik macht den Anfang mit gut gemeinter Sozialkritik in gereimter Form. Ihm folgt auf dem Fuße Jan Pilipp Zimny, der aus den fiktiven Tagebüchern seiner kleinen Schwester vorliest und damit einen ersten Höhepunkt des Abends setzt. Spontan möchte ich mehr von ihm hören, zumal er in einer Mischung aus gut geschriebenen Texten und gesunder Selbstironie eine sehr sehenswerte Comedy-Show abliefert. Nicht nur jetzt, sondern auch später, als die Slammer zur zweiten Runde auf die Bühne treten. Doch die Überraschung des Abends tritt dann nach vorne: Theresa Hahl. Zuerst scheucht sie die Moderatoren fort, die ihr das Mikro einstellen wollen: „Das kann ich schon selber. Ich sehe zwar aus wie 14, bin aber fast zehn Jahre älter.“ Und dann trägt sie vor. Den ersten nachdenklichen Text dieses Slams, der erste Text der tiefgründig und klug ist. Sie spricht schnell, routiniert, emotional. Erst ganz allmählich entfaltet sich der Humor, der auch ihren Texten inne ist: „Verloren gehen ist immerhin eine Art der Bewegung“ und „An den Schnittstellen der Wahrheit faltet man Origami.“ Viel zu früh macht sie Platz für die anderen Künstler. Der Name des nächstes Slammers macht mich nachdenklich: Wie kommt jemand auf die Idee, sich das Pseudonym Quichotte zu geben? Doch bevor ich darüber weiter nachdenken kann, trägt er seine durchaus amüsanten Texte vor. Bemerkenswert ist an seinem Auftritt zudem, dass er aus seiner Hosentasche wunderbar zerfledderte Zettel zieht, eingerissen und offenbar schon oft benutzt, von denen er seine Worte vorliest. Auch Anke Fuchs, die zweite Frau auf der Bühne, beschäftigt sich eher mit Tiefgründigem, Nachdenklichem. Sie spricht leise über Freundschaft und über den Verlust derselben. „Erinnerst du dich noch“ wirft sie immer wieder in den Raum und macht damit Lust auf mehr. Die Jury sieht das anders. Leider. Zwei Vorrunden gehen ins Land. Und meine Befürchtungen bestätigen sich: Lustige Texte setzen sich auf diesem Slam durch. Die Texte mit tieferer Bedeutung gehen im Rausch des Bedürfnisses, unterhalten zu werden, unter. Im Finale treten Zimny und Cieslik gegeneinander an. Letzterer entscheidet den Abend für sich. Die Entscheidung der Jury und meine persönlichen Vorlieben klaffen weit auseinander. Das unkonzentrierte Geplänkel der Moderatoren zieht die Veranstaltung unnötig in die Länge. Gerne hätte ich Theresa Hahl noch eine Weile gelauscht. Doch sie ist sowieso die Gewinnerin des Abends, denn ich bin sicher, dass wir von ihr zukünftig noch einiges hören werden.
Was geschieht, wenn ein schwules Paar einen Jungen adoptiert, der nicht anderthalb sondern 15 Jahre alt ist und sich als homophob entpuppt? Das klingt nach abendfüllendem Problemtheater. Doch das Stück Patrick anderthalb, das im Comedia Theater Premiere feierte, ist glücklicherweise ganz anders. Vielmehr reizt das Gesehene die Lachmuskeln – unter anderem, weil die Vorurteile aller Beteiligten so herrlich überzogen daherkommen, dass sie nun ganz absurd wirken. Und das sollen sie auch.
Die Beteiligten. Da ist zunächst einmal Göran (Knud Fehlauer), einer der Adoptiv-Väter, ein gnadenlos erfolgloser Erfinder abstruser Technik und gastronomischer Konzepte. In der Eingangsszene badet er – der erwachsene Mann – einem Meer aus Stofftieren, das natürlich für den eineinhalbjährigen Patrick, der für diesen Tag erwartet wird, gedacht ist. (Die Stofftiere sind übrigens durch einen Aufruf bei „Meine Südstadt“ ins Comedia Theater gekommen, und noch immer gehen weitere Spenden ein. Wenn Eure Kinder das wüssten…)
Herr Heimann ist der Schuldige an den entstehenden Verwicklungen, denn er ist krank und betritt die Bühne nie. Aber in seiner Funktion als Sachbearbeiter im Jugendamt war er für den Rechenfehler, der das Alter des Kindes verzehnfachte, verantwortlich. Da Herr Heimann im Bett liegt, ist Patrick, der 15 und nicht 1,5 Jahre alt ist, gezwungen, alleine sein neues Zuhause aufzusuchen.
Als Patrick (Luan Gummich) schließlich in der Wohnungstür erscheint, wird er von Göran für den neuen Postboten gehalten. Dabei ist er alles andere als das. Er ist unter anderem wegen Totschlags und diverser Drogendelikte vorbestraft und entspricht daher in keiner Weise dem Wunschkind des im spießigen bürgerlichen Mainstream lebenden schwulen Paares. Und für den Jugendlichen ist es eine absolute Zumutung, bei zwei Vätern unterzukommen. Schwule sind für ihn der Abschaum der Gesellschaft.
Sven (Manuel Moder), Görans Ehemann, ist Sozialarbeiter. Gerade hat er als Huhn verkleidet im Kinderkrankenhaus Ostereier verteilt und mit dem adoptierten Sohn Patrick ist er sich nur in einem einig: sie gehören nicht zusammen und sollten sich so schnell wie möglich wieder trennen. Leider ist das über die Feiertage nicht möglich. Erst danach kann eine Lösung durch das Jugendamt gefunden werden.
Die Handlung. Sie zoffen sich, sie hassen sich, sie schlagen sich beinahe. Doch die angespannte Situation führt zwangsläufig auch zu einer Auseinandersetzung miteinander. In manchmal etwas belehrender Form agieren und unterhalten sich die drei miteinander, erzählen sich von ihren Hintergründen, ihren Wünschen und Träumen. Patrick zeigt seine bedürftige und weiche Seite, Sven offenbart die Abgründe seiner Familie und Göran steht die meiste Zeit zwischen den Stühlen, da er es allen recht machen will. Die drei schwingen sich dabei in den Dialogen zu teils humoresken, teils bösartigen Wortspielen wie „Brokeback Chicken“ und anderen Anspielungen auf schwule Filme und Themen auf.
Sven und Patrick verändern sich durch die Auseinandersetzungen deutlich. Sie legen auch das Konzept des Stücks offen: Nur wenn sich die Menschen kennenlernen, sind sie in der Lage, Vorurteile abzubauen. Das gilt für Vorverurteilungen aus allen Richtungen. Und dies führt die Zuschauer zu sich selbst, denn sie werden sich fragen: Wie steht es denn mit meinen Vorurteilen? Das klassische Südstadt-Publikum wird sich fragen lassen müssen, wie es denn um sein Denken gegenüber sozial schlecht gestellten Jugendlichen bestellt ist. Das anvisierte Zielpublikum – Jugendliche ab 13 Jahren – wird wohl eher mit der Frage nach dem Umgang mit Schwulen beschäftigt sein. Beide Gruppen können aus dem Stück lernen – wenn sie sich denn darauf einlassen.
Die Schauspieler und die Regie. Manuel Moser ist den regelmäßigen Besuchern des Comedia Theaters wohl bekannt. Mit der von ihm bekannten Professionalität spielt er seine Rolle sehr ausdrucksstark und lässt gerade das jüngere Publikum dicht an sich heran. Die von Knud Fehlauer gemimte Figur des Göran bleibt leider relativ blass, doch das mag auch daran liegen, dass er als ausgleichendes Moment selten eine kontroverse Position bezieht, an denen sich seine innere Welt als Reibungspunkt abzeichnet. Luan Gummich als Patrick ist der hervorstechende Part in dieser Inszenierung. Der Schauspielschüler der Schule des Theaters spielt hier seine erste Rolle am Comedia Theater und geht darin so eindrucksvoll durch alle Emotionen, dass seine weitere Karriere mit Spannung zu beobachten sein wird.
Jens Dierkes inszeniert dieses Stück als ein Spiegelbild der Gesellschaft. Indem er Patrick so nah am Denken und Funktionieren 15-jähriger Pubertierender positioniert, holt er die Jugendlichen, an die sich das Stück in erster Linie richtet, in ihrer Lebenswelt ab und führt sie sanft und zugleich zielsicher in die Auseinandersetzung mit sich, der Gesellschaft und speziell der schwulen Subkultur.
Die Umbauten werden optisch und musikalisch für kurze Zwischenspiele genutzt. Besonders erwähnt sei dabei der Tanz der Hähnchen, der alle drei Beteiligten in geradezu absurden Bewegungen die Requisiten über die Bühne schieben lässt. Diese Szenen – und auch viele andere – sind unterlegt mit einem sehr passenden musikalischen Gesamtkonzept, für das Ralf Rotterdam verantwortlich ist. Die schlichte und zugleich sehr ansprechende Ausstattung fußt auf der Arbeit von Stephan Testi.
Der Hintergrund. Das aus dem Schwedischen übersetzte Stück thematisiert eines der letzten großen Themen im Spannungsbereich der rechtlichen Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare. Zum Zeitpunkt der Uraufführung (1994) war die Adoption durch Lesben und Schwule in Schweden noch lange nicht gesetzlich verankert. Erst seit 2002 ist es ihnen erlaubt, zu adoptieren. So kann dieses Stück als ein Wegbereiter angesehen werden. Warum soll in Deutschland nicht möglich sein, was in Schweden funktioniert?
++ Ruwenzori-Gebirge ++ Lage: an der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo ++ Höhe: Bis zu 5100 Meter ++ Ausdehnung: 160 Kilometer Nord-Süd, 50 Kilometer Ost-West ++ Touristische Erschließung: kaum ++ Wege: schlammig ++ Fortbewegung: zu Fuß ++ Steigung: steil! ++
Der 8000-Seelen-Ort Kilembe schmiegt sich in ein überbordend grünes Tal am Fuße des Ruwenzori. Die Straße ist vollständig mit Schlaglöchern gepierct, Kinder bevölkern die Wege und kleinen Häuseransammlungen. Bananenstauden und Bohnenanpflanzungen stellen die Existenzgrundlage dar. Ein kleines Backpackers ist der Ausgangspunkt einer Wanderung, von der im Vorfeld niemand ahnte, wie schwierig sie sein würde. Und das war auch gut so, denn sonst hätte keiner von uns die Strapazen des Aufstiegs auf sich genommen.
Sieben deutsche Touristen, drei ugandische Guides, 24 Träger. Acht Tage Fußmarsch liegen vor uns. 3175 Höhenmeter sollen überwunden werden. Quer durch den Dschungel und über steile Felswege.
Kilembe befindet sich bereits auf 1667 Metern Höhe und der erste Tag bringt einen Aufstieg über 1503 Meter mit sich. Während sich auf den ersten Metern noch Wiesen und Felder mit buntgefleckten Kühen, die sehr an Norddeutschland erinnern, erstrecken, tauchen wir bald in die afrikanische Graslandschaft ein. Papyrus, drei Meter hoch, streckt sich majestätisch der Sonne entgegen. Feuchtigkeit und Wärme lassen jede Pore des Körpers umgehend aktiv werden. Die teure Funktionskleidung verweigert bereits nach einer halben Stunde ihren Dienst, nur die festen Wanderschuhe halten das, was sie versprechen – noch, denn hier sind die Wege trocken.
Bald umfängt uns dichter Dschungel. Riesige Bäume, Farne mit über drei Meter langen Fächern, Lianen, die bis an den Boden reichen und faszinierende Flechten umgeben die Eindringlinge. Mit jedem Schritt wird der Weg steiler, doch der Blick in die von Grüntönen und Vogelgesang vollgestopfte Landschaft rechtfertigt die Anstrengungen. Der Weg ist im unteren Bereich noch gut ausgebaut, die Pflanzen, denen wir beim Wachsen beinahe zusehen können, werden mit Macheten im Zaum gehalten. Erster Nebel wabert gespenstisch auf uns zu und umgibt uns immer wieder vollständig.
In der Bambuszone, die sich wie ein Gürtel um das gesamte Gebirge schlingt, fliehen Schimpansen vor den ungewohnten Lauten der Menschen. Schillernd rote Vögel fliegen über unsere Köpfe. Der Weg erreicht eine Steigung von fast 45°, ohne Anstalten zu machen, sich hin und wieder abzuflachen. Die Träger, die wir hinter uns wussten, überholen uns mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen im Dauerlauf. Wir Europäer brauchen dringend eine Pause. 3000 Meter Höhe. Eine Rast unter knorrigen Bäumen, 15 Meter hoch, die sich als Pflanzen herausstellen, die ich von meinem Balkon kenne: Erika. Auch hier wieder Nebel, oder sind es schon Wolken? Die Stimmung wird gespenstisch. Auf einem kleinen Hügel tauchen plötzlich menschliche Bauwerke auf: Tunnelzelte. Und eine Holzhütte. Unser erstes Camp, das wir glücklich erreichen.
Die Nacht in der Höhe ist unruhig, die Luft zunehmend dünner. Ab 3000 Metern wird das Atmen schwieriger. Und der zweite Tag der Tour wird noch einmal über 400 Meter Aufstieg mit sich bringen. Die Guides raten uns zu Gummistiefeln. Von Stund an werden wir uns nur noch mit diesen fortbewegen. Die Pfade sind feucht, schmale Bäche kreuzen fortwährend unseren Weg. Schlamm vor uns, hinter uns und auch bald in den Stiefeln und an den Hosen, bis zu den Waden. Die Brücken über größere Wasserläufe bestehen nur mehr aus feucht-rutschigen Baumstämmen. Über lange Strecken begleiten uns die Erika-Bäume, dicht bewachsen mit Flechten und von Feuchtigkeit schweren Moosbüscheln. Jeder Blick zurück lässt das ohnehin schon arg beschäftigte Herz schneller schlagen: Berge überall. Nebel steigt aus den Tälern auf, in der Ferne ruhen ausgedehnte Seen, durchteilt von der ugandisch-kongolesischen Grenze.
Unser Weg führt uns an meterhohen Lobelien vorbei und scheint am Rande eines Sumpfes, der den Kessel eines flachen Tales füllt, zu Ende zu sein. Doch die Strünke riesiger Grasbüschel werden zum Steg, der durch teils waghalsige Sprünge gemeistert werden muss. Ein Schritt daneben bedeutet schnell, bis zum Knie im sumpfigen Wasser oder Schlamm zu versinken. Ist der Gummistiefel erst einmal verschwunden, dann gibt der Sumpf ihn nicht gerne zurück. Die Höhe wirkt sich nach und nach deutlich auf Fauna und Flora aus: Hier leben so gut wie keine Insekten mehr. Vögel sind kaum noch zu zu sehen oder hören. Blüten sehen wir selten. Die Landschaft wird mehr und mehr lebensfeindlich.
Das Erreichen des zweiten Camps ist mit dem Glücksgefühl der sicheren Landung nach einem Flug durch einen Sturm vergleichbar. Schuhe und Kleidung wechseln, essen, schlafen. Die Wünsche reduzieren sich auf ein Minimum. In der Nacht im Tunnelzelt unter einem enormen Felsvorsprung ist an Schlaf nicht zu denken. Das Herz rast, die Luft ist dünn, der Regen fällt prasselnd auf die glücklicherweise dichte Plane über meinem Kopf. Die Erschöpfung hat mich voll im Griff.
Tag drei. 442 Höhenmeter. Der Blick nach oben lässt die Muskeln zittern. Lobelien, Felsen, Moose, Wasser, Grasbüschel, Nebel. Feuchtigkeit dringt in alles ein. Jedes Tal, in das uns der Weg hinunter führt, verspricht einen steilen Aufstieg an seinem Ende. Eine weit ausgedehnte Hochebene empfängt uns unfreundlich mit seinen Sümpfen und dem kargen Bewuchs. Zunächst bemerke ich es kaum, doch der Weg scheint sich zu bewegen. Der Blick ist wie in einem Tunnel auf den nächsten Schritt konzentriert. Irgendwo vor mir sind meine Mitstreiter, der Abstand wird größer. Hinter mir beobachtet mich Edson, einer unserer Guides, aufmerksam. Vermutlich hat er es viel früher bemerkt als ich. Meine Schritte werden langsamer, ich nehme die Landschaft kaum noch wahr. Schwindel setzt ein.
Ich habe davon gehört, ich habe mich damit beschäftigt und zugleich habe ich gehofft, dass sie mich nicht erfasst. Die Höhenkrankheit. Wen sie erwischt, das weiß im Vorfeld niemand zu sagen. Und es gibt nur eine Heilmethode dagegen: Runter gehen. Mich irritiert, dass ich auf Schwedisch denke. Körperliche Anstrengung, dünne Luft, das Wissen, es weiter nach oben geht. Immer weiter hoch. Die Beine versagen ihren Dienst. Schlamm bedeckt die Hose bis zum Knie. Eine Talsenke. Die anderen warten, haben besorgte Gesichter. Nur nicht sprechen. Auf Grasbüscheln kann man auch sitzen. Irgendwie.
Die Guides entscheiden. Für mich ist die Wanderung hier zu Ende. Edson wird mich begleiten. Ein Träger eilt nach oben, ruft Mizuki zurück. Er hat meinen Rucksack. Ich gehe runter. Nicht zum letzten Camp zurück, sondern quer durch die Berge zum Camp sechs. Mit jedem Schritt fällt mir das Atmen leichter. Leben kehrt in meinen Geist zurück. Ich erreiche das Camp, bin erschöpft und heilfroh, nicht wieder nach oben zu müssen. Ausruhen, das ist alles, was ich mir wünsche.
Im Camp treffe ich auf Göran und Eva aus Stockholm. Sie haben die gesamte Route bewältigt und steigen schon wieder ab. Ich schließe mich ihnen an. Edson joggt am nächsten Morgen wieder nach oben zu meiner Gruppe. Von den Schweden erfahre ich Details über den Zustand der weiter oben liegenden Camps (große Zelte, hoch gefüllt mit Wasser, in denen Schaumstoffmatratzen schwimmen) den Wegen (steil, vereist, lebensgefährlich) und das Wetter (Schnee am Morgen, Regen tagsüber).
Der nun für mein Wohlbefinden zuständige Guide – Shawn – überredet uns, den Tag mit einem klitzekleinen Aufstieg zu beginnen. Der Matinda-Lookout liegt mit seinen 4000 Metern Höhe fast senkrecht über den Zelten des Camps. Wir nehmen ihn in Angriff. Ein Träger folgt uns, doch als er das mitgenommene Seil an einer steilen Stelle an einem Baum befestigt, höre ich Shawn hinter mir: „I think, they will handle it!“ Göran und Eva sind ein paar Jahre älter als ich. Pensionierte Weltenbummler. Triathleten. Sie meistern den Aufstieg erheblich geschickter als ich (dafür bin ich dann später beim Abstieg schneller). Bei strahlender Sonne steigen wir auf, der Blick von oben verspricht grandios zu werden. An einer Stelle erhebt sich der Felsen vor uns fast senkrecht nach oben. Krüppelige Bäume wachsen im rechten Winkel aus der Felswand. 15 Meter überwinden wir, indem wir durch das Geäst steigen. „Steph, whats up?“ erschallt es von unten. Shawn steht breit grinsend auf einem Ast unter mir. Wolken türmen sich düster vor uns auf. Der Gipfel empfängt uns mit einem Ausblick auf die weiße Feuchtigkeit, die uns auf allen Seiten umgibt. Keine freie Sicht für niemanden.
Der Abstieg zum Backpackers dauert zwei Tage. Jeder Schritt bringt mich der Zivilisation näher. Und der damit verbundenen Dusche. Trockene, saubere Kleidung wird zum größten Wunsch. Erika, Bambus, Dschungel und Graslandschaft fließen an mir vorbei. Der Blick wird klarer, die Sonne ist häufiger zu sehen, ein richtiges Bett steht am Ende der Tour. Ich habe es geschafft. Überlebt, ohne größeren Schaden zu nehmen. Alles was danach kommt, ist ein Spaziergang.
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Ganz im Südwesten Ugandas erwartet uns nach den Strapazen der Ruwenzori-Wanderung eines der großen Highlights des Landes: wild lebende Berggorillas. Ja, die knuffigen Wesen aus „Gorillas im Nebel“. Tiere, die uns Menschen genetisch sehr nahe sind, riesig an Gestalt, massig im Gewicht und leider vom Aussterben bedroht. 700 Tiere gibt es noch. Alle leben in dem Grenzgebiet zwischen Uganda, Ruanda und Kongo. Manche lassen sich nicht von den menschlichen Grenzziehungen beeindrucken, viele scheuen den Menschen, doch ein paar Gruppen sind habituiert, das heißt, die sind in einem langwierigen Prozess an die Nähe der Menschen gewöhnt. Und das hat nicht nur touristische Hintergründe. Durch den mit dem Gorilla-Tracking verbundenen Tourismus strömt Geld ins Land. Schutzgebiete werden eingerichtet, die Bewohner der Umgebung mit der Wichtigkeit des Schutzes vertraut gemacht und Schulen finanziert, da die Menschen nur mit einer guten Ausbildung die Relevanz von Umwelt- und Tierschutz begreifen können. Hier wie dort.
Der Vormittag beginnt mit einer Aufklärung über das Verhalten im Wald. Wir sind zu acht. Drei aus unserer Reisegruppe, zwei aus Kanada, drei Italien. Keine lauten Gespräche im Wald. Keine hastigen Bewegungen. Kein Blitzlicht. Einem Silberrücken niemals in die Augen blicken. Sieben Meter Abstand einhalten. Gut, näher will ich auch erst mal nicht an die Tiere ran. Aus Respekt. Schließlich hat ein Gorilla etwa das zehnfache an Kraft in seinem Arm – im Vergleich zum Menschen. Bis zu 250 Kilo bringt ein ausgewachsenes Männchen auf die Waage. Da empfinde ich den Abstand von sieben Metern durchaus als angemessen.
Ein Gruppe afrikanischer Ranger geht weit vor uns zum letzten Nachtnest der Berggorillas voraus. Sie stehen in ständigem Funkkontakt zu unseren Rangern, die uns erst einmal über einen großzügig frei gehaltenen Weg führen. Doch schließlich bekommen sie die Mitteilung, wo sich die anvisierte Gorillagruppe aufhält und wir verlassen den luxuriösen Weg zugunsten eines schmalen Trampelpfades quer durch den dichten Dschungel.
Ranken ziehen an meinem T-Shirt, feuchte Luft schlägt mir entgegen, der Weg ist rutschig und die Aufregung steigt, als wir die ersten Spuren der Berggorillas entdecken: In Ermangelung natürlicher Feinde machen die Tiere aus ihrer Anwesenheit keinen Hehl. Wenn sie sich fortbewegen, brechen sie eine breite Schneise in das Gebüsch, fressen die Pflanzen zu beiden Seiten und hinterlassen das, was ihr Verdauungsprozess übrig lässt. Fliegen und Mücken säumen ihren Weg. Und wir folgen ihnen. Vorne die Ranger mit Macheten, hinten ein Ranger mit einem Gewehr auf der Schulter. Angeblich zum Schutz vor anderen wilden Tieren. Die Spuren der Waldelefanten werden wir noch entdecken, und auch mit denen ist nicht zu spaßen, wenn man sie zufällig überrascht.
An einem Hang bleiben unsere Ranger plötzlich stehen. Hier sind sie. Sagen sie. Um uns herum Gestrüpp, zwei bis drei Meter hoch. Ein schmaler Pfad schlängelt sich den Berg hoch. Drei sollen es sein. Wir sehen nichts. Doch dann, mit einem Mal, eine Bewegung. Fünfzehn Meter entfernt. Ein schwarzer behaarter Arm. Dann ein Rücken. Schließlich der Kopf. Etwas gelangweilt blicken uns die dunklen Augen an. Ein Schwarzrücken sitzt im Gebüsch, stopft sich mit Blättern voll. Ein riesiger Schwarm Fliegen umgibt ihn. Wir sind gebannt. Ein zweiter Gorilla bricht durch das Unterholz. Noch ein Schwarzrücken. Und dann der dritte. Ein Silberrücken. Jüngere, aber schon ausgewachsene Männchen sind auf dem Rücken schwarz behaart, erst mit höherem Alter färben sich diese Haare silbrig-weiß. Sie beobachten uns hin und wieder mal, lassen sich aber ansonsten nicht beim Fressen stören.
Nach einer Weile beschließen die Ranger, dass wir den Hang erklimmen werden, denn hinter dem kleinen Bergrücken ist der Rest des 17-köpfigen Clans. Doch gerade als wir losgehen wollen, setzt sich der eine Schwarzrücken in Bewegung. Ich kann nicht schnell genug zur Kamera greifen, da ist er schon bei uns. Wir weichen respektvoll in die Sträucher zurück, um ihn vorbei zu lassen. 15 Zentimeter trennen mich von ihm, als er an uns vorbei jagt. Er holt aus. Ein kleiner Stupser für einen Gorilla. Ein schwerer Schlag auf den Oberschenkel für meine Mitreisende direkt neben mir. Weg ist sie. Wir finden sie zwei Meter hinter uns im Gesträuch wieder. Sie lacht, der Puls rast. Der Gorilla hat es sich dreißig Meter weiter mitten auf dem Pfad gemütlich gemacht. Es muss ein riesiger Spaß für ihn sein, Touristen zu ärgern.
Wir bahnen uns einen Weg an ihm vorbei, schlagen uns durch die Büsche. Wir überqueren den Hügel und steigen in das kleine Tal hinab. Hinter uns die drei vom tierischen Empfangsteam. Vor uns eine freie Fläche, auf der drei, vier, sieben oder mehr Gorillas unterschiedlichen Alters und Geschlechts rasten. Wir staunen, fotografieren wie wild. Freuen uns und sind völlig in den Bann dieser Tiere gezogen. Ein Jungtier tollt einmal quer durch die Talsenke. Tiefe Spuren der Waldelefanten künden von ihrer Anwesenheit vor nicht allzu vielen Stunden genau an dieser Stelle. Hinter uns der Hang, an dem sich einer der Schwarzrücken den Weg zu uns herab bahnt. Helles Klopfen erschallt laut hörbar. Das Jungtier richtet sich auf und schlägt sich spielerisch auf die Brust. Die leise Antwort auf das Brustschlagen des Vaters. Ein, zwei, drei Bäume gehen lautstark am Hang zu Boden. Entweder reizten die frischen grünen Blätter an ihren Spitzen, oder sie standen einfach nur im Weg.
Eine Stunde ist schnell vorbei, dann müssen wir wieder gehen. Noch einmal sehen wir den jungen Schwarzrücken, er schaut uns an, als frage er sich, warum wir eigentlich so interessiert gucken. Schließlich ist er doch immer hier.
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Seid ihr schon mal in Afrika gewesen? Ich meine damit nicht die nordafrikanischen Staaten, die in den Hochglanzkatalogen der Reiseanbieter standardmäßig zu finden sind. Ich spreche auch nicht von Südafrika, wohin die Touristen seit dem Ende der Apartheid wieder strömen. Ich spreche von Ostafrika. Von der Region, die nur dann in den Medien auftaucht, wenn es wieder einmal zu einer katastrophalen Hungerkatastrophe oder zu anderem menschlichen Leid kommt. Eine Region, über die wir hier in Europa meist so gut wie nichts wissen und auch lieber nicht wissen wollen, denn ansonsten müssten wir viel zu viel von dem hinterfragen, was wir als selbstverständlich ansehen.
Ich war da. 14 Tage im Juni. Die Recherche für ein Buch hat mich dorthin verschlagen. Und am liebsten würde ich sofort meine Koffer wieder packen und zurück fliegen.
Uganda – Eintauchen in eine fremde Kultur
++ Uganda ++ Lage: Ostafrika ++ Kein Zugang zum Meer ++ Im Westen: Die Demokratische Republik Kongo ++ Im Norden: Seit kurzem Südsudan ++ Im Osten: Kenia ++ Im Süden: Ruanda, Tansania und der Victoriasee ++ Quer durch: der Äquator ++ Hauptstadt: Kampala ++ Einwohner: über 30 Millionen, Tendenz: stark steigend ++ Fläche: 240.000 km² (das entspricht der Größe Westdeutschlands vor 1990) ++
Teil I – Armut in überbordender Landschaft
Wenn man sich entscheidet, einen bislang nicht selbst erkundeten Kontinent zu betreten, dann bietet es sich zuweilen an, in einer Gruppe zu reisen, die von einem guten Guide geführt wird. Gleichermaßen empfiehlt es sich jedoch ab und an, den geschützten Rahmen der Gruppe zu verlassen und die neue Welt auf eigene Faust zu erkunden. Beides durfte ich erleben, als ich Anfang Juni zum ersten Mal meine Füße auf afrikanischen Boden setzte. In die Wiege der Menschheit. Ich kam nach Ostafrika.
Am Flughafen von Entebbe nahe Kampala schlägt mir die feuchte Hitze entgegen. Doch mit ihr dringt auch ein ganz spezifischer Geruch in meine Nase, der schwer zu beschreiben ist: Ich schmecke Sand und Wärme, da ist ein Hauch von Abenteuer, der Duft Tausender Blüten und eine Ahnung vom penetranten Gestank verbrennender Kohle und schmorendem Plastik. Burschikose Damen nehmen mir am Zoll 50 Dollar für das Visum ab und schießen mit einer billigen Webcam Fotos von mir. Sogar meine Fingerabdrücke werden gescannt. Ein modernes Land, diesen Eindruck will man offenbar vermitteln. Doch direkt nach diesen Formalitäten endet die Modernität auch schon und wird mir erst 14 Tage später bei der Ausreise wieder begegnen.
Uganda ist feucht. Immer und überall. Egal ob man sich in den Niederungen rund um die Hauptstadt oder im Gebirge auf 5000 Meter Höhe aufhält, egal ob es 40° oder 0° Celsius sind – die Luft ist von Feuchtigkeit geschwängert. Immer.
Der erste Abend in einer Lodge nahe des Flughafens ist geprägt von dem starken Drang, sich aus einem Klischee zu entfernen: Da sitzen wir weißen Europäer am fein gedeckten Tisch auf einer Terrasse mit Ausblick auf einen Pool und lassen uns von dunkelhäutigen Angestellten bedienen. Die Verhältnisse sind wie in der Kolonialzeit. Das ist der Deal, auf den ich mich eingelassen habe. Doch im Laufe der Tage werde ich mich daran gewöhnen, denn es ist ab jetzt überall das gleiche Bild: Europäer, Australier, Amerikaner kommen als Touristen in dieses von Armut und Korruption gebeutelte Land, bringen Devisen mit sich und erwarten dafür, dass die Einheimischen sie entsprechend bedienen. Da ist es gut zu wissen, dass eine Übernachtung in der Lodge dem Monatseinkommen der Angestellten entspricht.
Der folgende Tag führt uns stundenlang über sandige Pisten. Entlang der Hauptstraße quer durch das Land, die bei uns noch nicht einmal den Namen Landstraße verdient hätte, reihen sich wie Perlen kleine Dörfer aneinander. Die Menschen sind draußen, sie arbeiten und leben vor den Hütten und in den schmalen Gassen. Voluminöse Sessel und bunte Kleider, grüne Bananen und rohes Fleisch, geschmuggelte Kohle und Särge für Kinder – alles wird selbstverständlich unter freiem Himmel angeboten. Und immer wieder erstrecken sich dazwischen weite Steppen, durchsetzt mit Papyrussümpfen, Teeplantagen, Rinderherden und ganzen Schulklassen in rosa Uniformen. Meine Augen und Ohren, die Nase und der Fotoapparat kleben am Fenster oder strecken sich gleich aus diesem heraus.
Das Beeindruckende in Uganda scheint mir die Gelassenheit der Menschen zu sein: Sie sind zwar einerseits entsetzlich arm, doch zugleich strahlen sie eine unfassbare Zufriedenheit aus, von der wir ständig gehetzten Mitteleuropäer uns ruhig eine dicke Scheibe abschneiden könnten. Glück bekommt auf dieser Reise eine neue Definition.
Ja, die Ugander sind arm. Auf dem Land – und die meisten leben nicht in Städten – definiert sich Glück durch eine große Anzahl von Kindern. Sieben an der Zahl bringt eine durchschnittliche ugandische Frau auf die Welt. 13% von ihnen sterben jedoch bereits vor ihrem fünften Geburtstag. Über die Hälfte der Bevölkerung ist heute unter 15 Jahre alt – das bedeutet, dass die Straßen voll sind mit Kindern und Jugendlichen. Welch ein dramatischer Unterschied zu Deutschland!
Die holprige Straße windet sich von der 80.000-Seelen-Stadt Kasese langsam den Berg hinauf und endet mit seinen vielen Schlaglöchern in Kilembe. Hier leben 8.000 Menschen am Fuße des gewaltigen Ruwenzori-Gebirges. Ein paar wenige frei stehende Holzhäuser gibt es, doch die haben schon bessere Zeiten gesehen. Ein Kupfermine gab es, doch der Anteil an dem wertvollen Erz im Gebirge ist nicht hoch genug, damit sich der Abbau noch lohnt. Lediglich die verrotteten Industrieanlagen, die weithin sichtbaren Stolleneingänge, die bis ins 20 Kilometer entferne Kongo quer durch das Gebirge reichen sollen und die giftigen Abraumhalden, auf denen heute Mais angebaut wird, zeugen von dieser Zeit.
Die meisten Menschen leben in einer Art Reihenhaus – Reihenhütten eher – dicht an dicht aufgereiht, mit schmalen Wegen und kleinen Feldern dazwischen, auf denen Bananen und Mais angebaut werden. Die Kinder kommen sofort auf mich zu gerannt, als ich es wage, mit einem schwarzen Begleiter durch den Ort zu gehen. Kleine Hände schieben sich in meine Hand. Mzungu rufen sie sich zu. Weißer Mann. Und sie probieren ihr Englisch aus, immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn ich auf die Frage „How are you?“ mit „Fine, thank you, How are you?“ antworte, laufen sie laut lachend weg. Ich muss ein großer Spaß für sie sein. Fast wie Fernsehen.
Seit die Minen im Ort geschlossen sind, gibt es so gut wie keine Arbeit für die Männer mehr. Sie verdingen sich als Träger für die Touristen, die auf die idiotische Idee kommen, in den Ruwenzori hoch zu steigen. Was die anderen den Tag über tun, habe ich bis zum Abreisetag nicht in Erfahrung bringen können. Wer zu etwas Geld gekommen ist, kann sich ein kleines Stück Land auf den Hügeln rechts und links des Ortes kaufen, eine eigene Hütte darauf bauen und das Feld, das meist eine Steigung von mehr als 45° hat, bestellen. Mais, Bohnen, Bananen, Süßkartoffeln, Maniok – das sind die einträglichsten Produkte. Wer selber genug hat, kann auf dem regionalen Markt ein wenig davon verkaufen. Viel ist das jedoch meistens nicht. Die Menschen in Kasese leben von der Hand in den Mund.
Mit Shawn, einem einheimischen Guide, den ich auf einer Tour ins Gebirge kennenlerne, und Victoria besteige ich den Hügel rechter Hand. Die Wege sind keine Wege. Es sind lediglich schmale Pfade, die sich in einer Steigung nach oben winden, die ich mir bis dato nicht zugetraut hatte. Zwischen Avocadobäumen und Orchideen hindurch erkämpfe ich mir Meter für Meter nach oben. „Steff, what´s up?“, höre ich immer wieder den lachenden Ruf meines Führers, der diesen Weg ohne einen einzigen Schweißtropfen auf der Stirn zurücklegt. Mein T-Shirt ist nach zehn Minuten komplett nass. Wen wundert es da, dass hier oben eine Frau lebt, die nach der Geburt ihres dritten Kindes im Alter von 25 Jahren den Hügel nicht mehr verlassen hat. Heute ist sie 75.
Neben ihrem Haus sitzt eine Gruppe Kinder im Gras. Zwischen drei und acht Jahren sind sie alt. Sie gucken neugierig, als Shawn an ihnen vorbei geht, sie lachen, als Victoria sie grüßt, zwei von ihnen laufen laut weinend weg, als ich den Hof überquere. „They have never seen a man with a skin desease like you have“, spottet Shawn, als die Kids mir kurz darauf im Sicherheitsabstand von mindestens zwei Metern folgen. Ich muss auf sie wirken wie ein Geist. Wie einer der unter ihnen wohnenden Ahnen, von deren Existenz man hier überzeugt ist. Sobald ich stehen bleibe und ihnen den Kopf zuwende, rennen sie mit einem lauten Schrei weg, nur um ein paar Sekunden später wieder hinter mir zu stehen.
Shawn ist es auch, der mich und Ally, einen anderen Guide, an einem Abend in den schrottreifen Van bugsiert. „I´ll meet some friends in Kasese, playing pool billard, drinking beer. Let´s go!“ Noch ist es hell, doch ich habe gelernt, dass die Dunkelheit schlagartig kommt. Das ist die Nähe zum Äquator. Da spreche ich nur ein paar Minuten mit Shawn – der war wirklich hübsch, ich hätte meine Mutter für ihn verkauft – und plötzlich ist es draußen finster. Und finster bedeutet in Uganda nun mal stockdunkel. Man sieht nichts mehr! Wir fahren durch ein paar kleine Orte, überholen dabei reihenweise BodaBodas. Das sind kleine Motorräder mit einer etwas verlängerten Sitzfläche, auf denen bis zu fünf (!) Ugander hintereinander Platz finden. Frauen sitzen grundsätzlich seitlich. Alternativ kann man auf einem BodaBoda auch zwei Ugander mit einem hohen Stapel voller Eierpaletten, ein anderes BodaBoda quer oder Verletzte transportieren.
Die Stadt. Kasese. Auch hier gibt es in erster Linie Sandpisten. Die Gebäude sind niedrig. Hier wie auf allen Straßen des Landes sind unendlich viele Menschen unterwegs. Selbst in den abgelegendsten Gegenden habe ich doch immer noch Menschen gesehen, die Holz, Bananen oder Zuckerrohr transportierten. An allen Ecken der Stadt wird gegrillt, ganze Kompanien Hähnchen werden hier öffentlich kross gebraten. Selbstverständlich kommt der Grillmeister auf die Terrasse der Pool-Billard-Bar, bringt das Essen und hält mir eine Schüssel, eine Karaffe Wasser und ein Handtuch entgegen. Nur mit sauberen Fingern essen, klar. Die Identifikation des Essens fällt mir eher schwer, aber ich habe mich daran gewöhnt, dass man in Uganda einfach irgendeinen Teil des Geflügels auf den Teller bekommt, wenn man Hähnchen bestellt. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für andere Fleischsorten. Apropos Geflügel: Da die Müllabfuhr in Kasese und anderen ugandischen Städten ein Manko ist, toleriert man hier die Anwesenheit von Marabus – riesigen, etwas hässlichen Vögeln, die mit einer Flügelspannweite von mehr als drei Metern alles Aas der Stadt verputzen. Dafür sitzen sie dann in mehr oder weniger großen Gruppen auf allen Bäumen herum. Vor der Pool-Billard-Bar sind es 15 Tiere, die in der sich schnell über die Stadt senkenden Dunkelheit auf einem kleinen Baum übernachten. Ein faszinierender Anblick.
Die Rückfahrt durch die Dunkelheit Afrikas ist eine besondere Erwähnung wert: Rund um uns herum ist kein Licht zu sehen. Nur die Scheinwerfer des Vans geben einen vagen Eindruck von dem, was da auf uns zufliegt. Die Fenster haben wir herunter gelassen. Ich sitze auf dem Beifahrersitz, halte den linken Arm aus dem Fenster, der Fahrtwind zerrt an des Haaren, Ally hat sich bereit erklärt, wenig zu trinken und dafür zu fahren. Eine pechschwarze Hand reicht mir von hinten eine volle Flasche Whisky nach vorne. So rasen wir durch die ugandische Nacht. Wenn Muttern davon in diesem Moment wüsste, sie hätte sich vermutlich freiwillig verkaufen lassen.
Doch auch den problematischen Fragen will ich nicht aus dem Weg gehen. Womit war Unganda doch gleich im Frühsommer so oft in den Medien vertreten? Ach ja: Das Parlament plante die Einführung eines neuen Gesetzes, das die Todesstrafe für überführte Homosexuelle nach sich ziehen sollte. Das Gesetz wurde, vermutlich nach internationalen Protesten, nicht in die Kammer eingebracht, ist also lediglich verschoben, nicht aufgehoben. Meine Nachfragen zu diesem Thema brachten sehr unterschiedliche Positionen zutage: Die einen behaupteten schlicht, die Homosexualität gehöre nicht in ihre Kultur, die anderen konnten von den Bars in Kampala erzählen, die von Schwulen frequentiert wurden. Auch Bemerkungen wie „Some of the guys travel to Kampala and do homosexuality“ habe ich vernommen, doch das klang in meinen Ohren eher nach Prostitution.
Uganda ist auf einem schwierigen Weg, sich von Europa als Repräsentant ehemaliger Kolonialmächte abzuwenden und selbst zu finden, sich dabei aber auch nicht zu isolieren. Ein Mann hat sich schon vor langer Zeit mit sympathischen Gesten in dem Land eingekauft und wird daher allen politische Unbilden zum Trotz hoch verehrt: Gaddafi. Nicht nur in der Region Kasese, wo er den Palast des vor einigen Jahren erst wieder aus dem Exil zurückgekehrten Königs von seinem Geld bauen ließ, sondern auch in vielen anderen Regionen hat er seine Spuren hinterlassen. Über den ganzen afrikanischen Kontinent hat sich Gaddafi Sympathien erkauft. In Ländern, an denen Europa viele Jahre nicht das geringste Interesse hatte. Das prägt langfristig. Und das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Der Frühling ist da, die Sonnenstrahlen wärmen die vor den Cafés sitzenden Menschen, und mein Weg führt mich wie jeden Tag zunächst in den Friedenspark, der nun endlich seinem Namen gerecht wird. Denn hier ist es durch und durch friedlich. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie es war, als die Straßen von parkenden Autos gesäumt waren. Die Autos sind üppigen Blumenrabatten gewichen, haben Platz für Schatten spendende Bäume gemacht und den Kindern neuen Spielraum geschaffen.
Der riesige Rosengarten im Friedenspark ist zum Treffpunkt für die alten Damen aus dem nahe gelegenen Altenheim geworden, die hier in ihren Rollstühlen und mit ihren Gehilfen die bequemen Bänke mit Leben füllen. Auf dem Bauspielplatz sind schon wieder neue Hütten entstanden, in denen die Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Das Lachen schallt weit herüber und erfüllt die Luft mit seiner ungestörten Fröhlichkeit.
Doch es zieht mich zum Rhein. Ich muss das Wasser sehen. Also durchquere ich die Gänge zwischen den hohen Stauden, um mich in der Nähe der Südbrücke auf eine Bank zum Lesen zu setzen. Seit die Straße unter die Erde gelegt wurde und durch eine herrschaftlich angelegte Baumallee ersetzt wurde, haben die Menschen die Promenade am tradionsreichen Gewässer zurück erobert. Sie sind nicht länger durch die ehemals so stark befahrene Rheinuferstraße vom Wasser abgeschlossen.
Die kleinen Cafés laden zum Kaffee und zum Mokka ein, sie verführen mit ihren Düften aus dem Orient und dem Okzident. Die ganze Südstadt ist zu einem internationalen Gemenge an Speisen und Getränken geworden. Doch bevor ich mich setzen kann, zieht eine kleine Schaustellertruppe aus Rumänien meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie führen musikalisch untermalte Szenen aus ihrer Heimat auf, die auch ohne Worte zu verstehen sind. Wie ein glückseliger Stich geht mir die Freude durch den Magen. Endlich hat die Stadt wieder so viel Geld zur Verfügung, um selbst unbekannten Gruppen die künstlerische Existenz in den Straßen zu ermöglichen.
Die Unruhe treibt mich wieder zurück ins Viertel. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Hungrig durchstreife ich die grünen Straßenzüge um den Ubierring, bis ich meinen Namen höre. Da sitzen sie. Vor dem Studentenwohnheim. Es war ja klar, dass das Frühstück hier nicht vor 10 Uhr eingenommen wird. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie zu dieser Jahreszeit schon den großen Tisch unter die Bäume vor ihrem Haus stellen. 15 Leute sitzen hier an einer langen Tafel, wo früher einmal Blech, Abgase und lautes Hupen die Umgebung verunstalteten. Ich setze mich dazu, die Sprachen fliegen wild über den Tisch. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Duftender Kaffee, frisches Obst, exotisches Gebäck. Wer sich an den Tisch setzt, bringt mit, was er zu Hause hatte. Politische Fragen werden wild gestikulierend erörtert. Doch wieder treibt es mich weiter. Wie weit ist man am Chlodwigplatz? Ich will es wissen.
Also spaziere ich den Ubierring hinunter. Hier ist nun in beinahe jedem Haus ein kleines Geschäft angesiedelt. Buchhandlungen und Pralinen, Gemüsehändler und Restaurants, Antiquare und Designerklamotten. Ich gehe am ehemaligen Rautenstrauch-Joest-Museum vorbei, aus dem nun die ohrenschmausenden Töne vieler Instrumente heraus schallen.
Am Chlodwigplatz angekommen stelle ich fest, dass die KVB tatsächlich fertig geworden ist. Die Zugänge zu der neuen U-Bahn-Station sind gestrichen. Auf dem freien Platz vor der Severinstorburg ergießen sich Blumen in blau, rot und gelb über die nach alten Bilder rekonstruierten Rabatten. Hier ist die Fressgasse der Südstadt. Während von der einen Seite indische Gewürze hinüber wehen und vor mir die exotisch anmutenden Fische für die Mittagsmenüs vorbereitet werden, bereitet sich unter der Torburg ein ukrainisches Streicherquartett auf den Tag vor.
Es hat dem Stadtteil gut getan, sich für den Erhalt der Fachhochschule einzusetzen. Wie trostlos war es doch in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, als die Studenten von den hohen Mieten vertrieben waren. Wie leer und langweilig ist es da gewesen. Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Die FH ist zu einem internationalen Anziehungspunkt geworden. Von überall her kommen die Studenten, um sich hier am Wissen zu ergötzen. Und welch eine Bereicherung stellen sie für uns dar.
Ein lauter Knall lässt mich zusammen zucken. Verschlafen reibe ich mir die Augen. Lautes Geschrei schallt von der Straße herauf. Wieder ein Unfall. Der Schnee auf den Straßen. Autos hupen. Der Geruch von Abgasen streift meine Nase. Mühsam quäle ich mich aus dem Bett, mache mir einen Kaffee und versuche mich zu erinnern, was ich geträumt habe. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass es ein schöner Traum war und lächele. Wer noch träumen kann, der kann über die kleinen Fehler der Mensch hinwegsehen und danach streben, die Träume zur Wirklichkeit werden zu lassen.
In Stuttgart soll also ein Bahnhof unter die Erde gelegt werden. Spontan muss ich milde lächeln. Ein Bahnhof… unter die Erde… Wir Kölner legen ja auch gerne alles unter die Erde, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Eine ganze Stadtbahn-Linie zum Beispiel – von der bislang keiner so recht weiß, wofür wir sie eigentlich benötigen.
In Stuttgart soll also ein Bahnhof unter die Erde gelegt werden. Spontan muss ich milde lächeln. Ein Bahnhof… unter die Erde… Wir Kölner legen ja auch gerne alles unter die Erde, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Eine ganze Stadtbahn-Linie zum Beispiel – von der bislang keiner so recht weiß, wofür wir sie eigentlich benötigen.
Ja, werdet ihr sagen, ist der denn total bescheuert? Vor ein paar Wochen hat er einen Artikel über die U-Bahn-Station am Chlodwigplatz geschrieben, und jetzt das? Vollkommen richtig. Die neue Haltestelle, so wie sie dort unter der Erde entsteht, ist eine architektonische Meisterleistung. Niemand wollte sie haben, aber man muss das sportlich sehen: Diese Bahnstation ist wie ein Swimmingpool im Garten. Gebraucht wird auch der nicht, aber es ist doch ganz nett, wenn er da ist. Und wenn man den Pool schon einmal hat, dann soll er doch bitte auch etwas her machen. Dass man die neuen Tunnel ebenfalls unter Wasser setzen kann, das wissen wir ja mittlerweile. Im Zweifelsfall legen wir sogar ein ganzes Archiv unter die Erde, um es danach zu fluten. Darüber muss man sich nicht gleich aufregen.
Nun gut. In Stuttgart wird viel Geld ausgegeben. Jetzt muss ich lachen. Ja, ja, das können wir auch. Bei uns ist es dann auch ganz ähnlich wie bei den Schwaben: Die Kosten steigen immer weiter. Und noch etwas haben wir gemein: Die Baukosten werden sowohl aus öffentlichen Töpfen (Bund, Land, Kommune) als auch durch Unternehmen (Deutsche Bahn, KVB) bestritten. Dass die Kassen der Kommunen, der Länder und natürlich auch des Bundes mittlerweile nur noch gähnende Leere aufweisen, das scheint in Köln jedoch niemanden so recht zu stören – in Stuttgart hingegen schon. Komisch, nicht wahr?
Spätestens wenn wir endlich alle Theater der Stadt geschlossen haben (abgesehen natürlich vom neuen Schauspielhaus, in dem dann jedoch aus Kostengründen nicht mehr Dostojewskis Idiot, sondern Hugs Elende gespielt werden), werden wir wohl feststellen, dass es viel mehr Spaß macht, abends für fünf Euro eine Runde Bahn zu fahren, als das Hirn mit anstrengender Kultur zu belasten. Ok, abgehakt. Aber was ist mit den Bäumen? Im Stuttgarter Schlossgarten sollen ein paar von ihnen fallen. Das können wir ebenfalls: stattliche 300 Bäume sind es im Ländle, aber immerhin auch 150 bei uns an der Rheinuferstraße. Sie sollen für den sechsspurigen Ausbau weichen, weil den Planern irgendwann eingefallen ist, dass die neue Bahn diese unwichtige Straße am Rhein queren muss.
Jetzt kommen wir zur Kalkulation der Bauzeit. Während in Stuttgart der Bau kurzerhand vorgezogen wurde. Dadurch erhoffte man sich, fälschlicherweise, geringere Proteste. In Köln verschiebt er sich hingegen immer weiter nach hinten. Vielleicht inspiriert das ja die Sportfreunde Stiller oder BAP oder die Bläck Fööss demnächst mal zu diesem Lied:
3 und 2 und 1 und 2010, 2012, 2015, 2017 ja so stimmen wir alle ein. Mit dem Herz in der Hose und der Leidenschaft am Rhein werden wir bald pleite sein.
Nun aber die entscheidende Frage: Warum gehen in Stuttgart so viele Menschen auf die Straße? Das ist doch klar: Denen fehlt ganz einfach der rheinische Sinn für Humor: „Et kütt wie et kütt“ ist eben etwas anderes als „Schaffe, schaffe, Bänle baue“. Was können wir denn schon tun? Dank unseres Klüngels kommt es doch sowieso anders, als wir es uns wünschen. Gegen solch ein undurchsichtiges Geflecht von Interessen können wir schließlich nichts unternehmen. So denken wir, schimpfen kurz darüber – und wenden uns ab.
Die Gründe für unser Verhalten sind einfach: Wir haben durch unsere progressiven Taten (Kreuzchen bei Barbara Moritz) längst für politische Konstellationen gesorgt, die alles Menschenmögliche in Bewegung setzen. Außerdem ist der Job zur Zeit so anstrengend. Und seit die Kleine in den Kindergarten gekommen ist, braucht sie besondere Aufmerksamkeit. Zudem geht’s Muttern ja auch gerade nicht so gut…
Das ist bei den Schwaben schließlich etwas ganz anderes: Die haben bestimmt keine Probleme mit den Jobs. Mercedes geht’s sicher besser als Ford. Schwäbische Kinder sind glücklicher. Und die Mütter gesund … Wenn das bei uns so wäre, ja, dann würden wir etwas tun. Ganz bestimmt. Schließlich ist gerade die Südstadt bekannt dafür, dass sie immer deutlich ihre Meinung sagt.
So setzen wir uns schnell in ein beschauliches Café, trinken einen großen Latte mit wenig Macchiato. Dort angekommen regen wir uns ein bisschen darüber auf, dass die Jugendlichen auf dem Eierplätzchen während der Herbstferien nachts Krach machen. Aber wirklich mal etwas auf die Beine stellen? Wie die Stuttgarter endlich unserem Protest Ausdruck verleihen – das haben wir nicht nötig. Ansonsten müssten wir uns ja eingestehen, politikverdrossen zu sein. Außerdem ist es doch so schön, zu reden, sich über „die da oben“ zu echauffieren und lieber den Politikern die Schuld an allem zu geben.
So sind wir Südstädter heute nun mal: Unkritisch, still und ein bisschen faul.
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Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?
Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?
Wie sagte doch der Vizechef der türkischen Zentralbank, Ibrahim Turhan, angesichts der Sarrazinschen Integrationsunfähigkeit arabischer und türkischer Einwanderer so schön: „Allah möge ihm mehr Verstand geben.“ Das war 2009. In der Zwischenzeit hat Thilo Sarrazin ein Buch geschrieben, das sich die gesamte linksalternative Fraktion nun umsatzsteigernd zulegt, weil sie in ihrem kritischen Denken erst einmal nicht glaubt, was die Presse schreibt. Prinzipiell ein guter Ansatz. In der Praxis nicht förderlich, denn so wird die Publikation von Thesen honoriert, die mich schwer schlucken lassen. Da kommt ein Mann daher und will unter anderem junge Akademikerinnen für die Geburt eines Kindes finanziell belohnen, unter der Maßgabe, dass sie den richtigen Genpool haben.
Autsch!
Das will ich nicht schlucken, das kommt ja direkt wieder nach oben. Man stelle sich das doch bitte einmal bildlich vor: Der Lebensborn wird wieder zum Leben erweckt. Blasse, ganz in grau gekleidete Herren schleichen ab sofort durch die tageslichtlosen Betonhallen der Kölner Universität und halten Ausschau nach reinrassigen deutschen Mädels. Sie pirschen sich von hinten an die kop(ul)ierenden Germanistinnen heran, hauchen ihnen Fragen nach der Herkunft ihrer Großeltern in den Nacken. Und wenn die Proseminarbesucherinnen schreckensstarr und angstverschwitzt die richtige Antwort gegeben haben (katholisch, in direkter Linie von Karl dem Großen abstammend, niemals Schweinkram mit einem Muslim oder gar Juden treibend), dann greift der vom Vater Staat bezahlte Fragenhaucher blitzschnell in die klitzekleine Handtasche und tauscht die 28 Tabletten zählende Pillenpackung gegen einen 1000-Euro-Schein aus. Und schon ist er wieder weg, lässt die verwirrt auf den Kopierer starrende, angehende Belletristiklektorin mit ihrem Schicksal zurück.
Und schon haben wir den Salat: Ab sofort wird unsere Umwelt übervölkert mit blassgesichtigen, in einem endlosen Reigen kopulierenden und sich reproduzierenden Germanistinnen. Eine herrliche Vorstellung vom Weltuntergang.
Aber das machen wir jetzt damit? Leider, leider müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.
Den Sarrazin und seine Thesen verdammen wir (ich zumindest, ob ihr das tut, sei euch selbst überlassen. Aber dieses „wir“ hört sich irgendwie kollektiver an…). Und zwar in Bausch und Bogen. Na gut, wir geben 22 Euro und 99 für das Buch aus (hier ist das „wir“ mal nicht auf mich bezogen), weil wir es ja genau wissen wollen. Blöderweise stolpern wir dann auf dem Weg von der Buchhandlung zum türkischen Gemüsehändler über diesen etwas streng riechenden minderjährigen Rumänen, der seit einer Woche vor dem Bankautomaten am Chlodwigplatz sitzt.
Da wir genau wissen, wie die rumänische Mafia arbeitet – der Vater parkt mit seinem Benz um die Ecke, nimmt seinem Sohn das Geld ab und hebt die Sozialhilfe, die jetzt nicht mehr Sozialhilfe und auch nicht Hart IV, sondern ganz banal ALG II heißt, vom Konto ab um danach seine Frau mit dem Säugling aus Stoff und die aggressiv bettelnde Tochter in der Schildergasse aufzulesen – blicken wir den Jungen verärgert an und geben ihm: Nichts. Dieses Verhalten wollen wir nicht auch noch unterstützen. Können die nicht woanders die Straße verunstalten?
Schnell steigen wir in die Bahn, um der Situation zu entkommen. In die 16. Einmal Mülheim und zurück. Nein, so weit brauchen wir gar nicht fahren. Denn schon auf halbem Weg steigen diese beiden etwas düster ausschauenden jungen Männer ein, die leise in einer slawischen Sprache miteinander reden. Da wir kein Wort verstehen, bleibt uns nur die Beobachtung und die Phantasie, um uns ein Urteil zu bilden. Der Kleidung, den Gesichtszügen und den Frisuren zufolge sind es wohl Russen. Oder Ukrainer. Wer kann die schon unterscheiden? Russlanddeutsche? Spätaussiedler? War da nicht mal dieser Skandal um Joschka Fischer und scheinbar willkürlich verteilte Visa? Dann sind die beiden bestimmt nicht legal hier. Wie die wohl ihren Lebensunterhalt verdienen? Unwillkürlich wird der Griff um die Tasche ein kleines Bisschen fester. Ist das Handy noch da? Und das Portmonee?
Und schon ist es passiert. Wir alle sind Sarrazin. Bei uns soll kein rumänischer Junge betteln. In der Innenstadt, ja, da ist das in Ordnung. Aber nicht bei uns am Chlodwigplatz. Außerdem wäre alles viel einfacher, wenn die beiden in der Bahn einfach Deutsch lernen würde. Dann wüssten wir, dass sie sich nur über ihre juristischen Hausarbeiten unterhalten.
Wir brauchen Thilo Sarrazin, um dem Bösen, das in uns wohnt, ein Gesicht zu geben. Wir brauchen die Bilder von den sich ununterbrochen reproduzierenden Muslimen, um nicht auf die Gewalt unseres ureigenen bürgerlichen Antlitzes zu blicken.
Doch das ist fatal. Was wären wir ohne die Migranten? Wer würde die Arbeit machen, die wir heute nicht mehr selber machen wollen? Wer wird demnächst unsere Renten bezahlen, wenn sie Berechnungen der Demografen stimmen? Wir brauchen die Ausländer bei uns im Viertel, wenn wir nicht mittags bei Currywurst und Bratkartoffeln fett werden wollen. Wir brauchen sie auch, weil uns jede Begegnung mit einer rumänischen Frau im weiten Glockenrock vor Augen hält, dass die Menschen unterschiedlich sind. Dass es keinen Einheitsmenschen gibt und hoffentlich auch nie geben wird.
Für die Generation meiner Oma waren der Franzose der Erzfeind. Das ist gerade einmal 70 Jahre her. Heute ist ein gutes Essen ohne Merlot und Baguette kaum vorstellbar.
Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren unter anderem durch die hoch entwickelte Fähigkeit zur Kommunikation. Nutzen wir sie. Fragen wir die Rumänen und Russen, die Somalier und Türken, wie sie leben. Welche Träume sie haben. Und akzeptieren wir sie als eine Bereicherung unserer Gesellschaft, anstatt Angst vor ihnen zu haben und uns von Bundesbankern irrwitzige Ideen in den Kopf setzen zu lassen.
Ihr habt es ja so gewollt. Die Blumen habe ich gegossen, den Schlüssel wieder ordentlich unter der Fußmatte verstaut und Che und Ludwig, die beiden Urlaubs-Gast-Meersauen gefüttert. Dann konnte ich in den Zug nach Düsseldorf steigen. Das ist diese Fleck oben auf der Karte, neben Neuss.
Ihr habt es ja so gewollt. Die Blumen habe ich gegossen, den Schlüssel wieder ordentlich unter der Fußmatte verstaut und Che und Ludwig, die beiden Urlaubs-Gast-Meersauen gefüttert. Dann konnte ich in den Zug nach Düsseldorf steigen. Das ist diese Fleck oben auf der Karte, neben Neuss.
In Düsseldorf ist es wider Erwarten ganz schön. Zumindest, wenn man sich am Stadtrand aufhält. Ja, ich gebe zu, ich war nicht direkt Düsseldorf. Es war ein bisschen daneben. Aber jetzt mal der Reihe nach.
Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja: Ihr seid weggefahren, ich bin hier geblieben. Eure Balkonblumen versorge ich regelmäßig mit Wasser. Hin und wieder spreche ich mit ihnen. Das tue ich in erster Linie, um eure nette Nachbarin zu irritieren, die nicht weiß, dass ihr weggefahren seid. Mein Stimme kann ich gut verstellen. Von etwas unterhalb der Brüstung, versteckt, damit die Nachbarin mich nicht sehen kann, spreche ich mit den Blumen. Wundert euch also nicht, wenn die Nachbarin euch ab sofort für verrückt hält.
Die Schweine versorge ich noch ganz brav. Allerdings füttere ich sie jetzt nicht mehr dreimal am Tag. Morgens kriegen die einmal einen Berg Salat, Gurken und Möhren in den Käfig gekippt. Das soll reichen. Den Auslauf auf dem Balkon gestatte ich ihnen jetzt auch nicht mehr. Die beiden Viecher haben meine Pflanzen kahl gefressen. Innerhalb von zehn Minuten. Euren Pflanzen geht’s gut, meine sind tot. Schade.
Abends ist immer noch niemand da, der sich um mich kümmert. Außer den Sauen natürlich. Die Straßen der Stadt sind ausgestorben und ich habe mich auf Youtube-Videos verlegt. Am besten gefallen mir zur Zeit die Amateuraufnahmen von Katastrophen in Urlaubsregionen. Sintflutartige Regenfälle in Spanien, Erdbeben in der Türkei, Flugzeugabstürze in Indien. Brennende Hügelketten in Griechenland sind auch nicht zu unterschätzen. Und dazwischen laufen immer diese verzweifelten Touristen mit der fürchterlichen Panik in den Augen herum. So kann ich endlich komplett abschalten.
Dass ihr mittlerweile richtig im Urlaub angekommen seid, fällt mir in erster Linien daran auf, dass ihr offenbar festgestellt habt, dass das Surfen mit dem iPhone im Ausland Geld kostet – nachdem ihr seelenruhig den Spam aus eurem gmx-Postfach gelöscht habt. Geschieht euch recht! Facebook nun wie ausgestorben. Deshalb sehe ich mich gezwungen, auf die blauen Seiten zu gehen. Was soll ich denn sonst tun? Bücher lesen kann ich nicht mehr, seit ich das Buch mit einem Strand und den Strand mit einem Tsunami in Verbindung bringe.
Auf den blauen Seiten ist also glücklicherweise mehr los als bei facebook oder dem Kölner Süden, der eher wirkt wie eine unerforschte Insel bei Second Life. Hier sind die User zumeist nicht an die Schulferien gebunden. So passiert, was passieren muss: Ein nettes Gesicht. Eine Nachricht. Ein Wort gibt dem anderen die Hand.
Sympathiebekundungen wechseln die Seite. Und eh ich mich´s versehen, sitze ich im Zug nach Düsseldorf, lasse den Dom, Leverkusen, Benrath und schließlich sogar den Düsseldorfer Hauptbahnhof mit den durchnummerierten Prostituierten hinter mir. Was soll ich in der Südstadt, wenn außer mir niemand da ist?
Ein Flugzeug startet nur wenige Meter neben mir, als ich den Zug verlasse. Ich komme mir etwas fremd vor zwischen den großen Koffern. Ob in dem Flieger wohl schon die ersten Panikattacken ausgebrochen sind? Sind diese gelben Atemmasken schon aus ihren Verankerungen gestürzt? Ist das Rauchverbot schon aufgehoben, weil ja sowieso alles egal ist? Oder hat der Chefstuart das Luftschiff noch am Boden über die Notrutsche verlassen? Das Flugzeug taucht in den nahe gelegenen Wald ein und verschwindet. Ich hingegen tauche in den weißen Transporter ein und lasse mich zu dem kleinen Häuschen mit den Hunden, Ziegen und Hühnern entführen. Das Bad im angrenzenden See erfrischt die Sinne, das Lächeln neben mir verjüngt die Seele. Unter der Kastanie auf wackeligen Holzstühlen Kaffee trinken. Den Geruch des frisch gepflügten Feldes in der Nase. Die raue Zunge einer Ziege auf der Handfläche.
Das ist wie Urlaub. Wenn ich die Augen schließe verwandelt sich die Kastanie über mir in eine Akazie. Und im Grunde ist es viel besser als im Urlaub. Denn hier brennt nichts, nicht einmal die Haut. Hier bebt nichts, zumindest nichts, was nicht beben soll. Regen ist in dieser Region normal und die Bumsbomber nach Bangkok sind mindestens einen Kilometer entfernt.
Wie? … Euer Strand liegt genau in der Einflugschneise des Flughafens? … Was? … Die Landebahn beginnt direkt hinter der Schotterpiste? … Die Flieger gehen bis auf 30 Meter runter, wenn sie über euch sind? … Was? … Ich kann gerade nichts verstehen, bei euch ist es so laut … Na, da bleibe ich doch lieber in den Fängen Düsseldorfs. Schade nur, dass ich wieder zurück fahren muss. Die Schweine …
Aber den Pflanzen geht’s gut, keine Sorge. Und eure Nachbarin wird euch sofort etwas komisch angucken, wenn ihr zurück seid.
Ich will hier raus! Das Wetter ist schön, die Biergärten locken und Zeit habe ich auch. Ein kühles Alster auf einer groben Holzbank. Möglichkeiten finden sich dafür genügend. Doch es gibt einen elementaren Haken an der Idee: Es ist niemand da, der dieses Vergnügen mit mir teilt!
Ich will hier raus! Das Wetter ist schön, die Biergärten locken und Zeit habe ich auch. Ein kühles Alster auf einer groben Holzbank. Möglichkeiten finden sich dafür genügend. Doch es gibt einen elementaren Haken an der Idee: Es ist niemand da, der dieses Vergnügen mit mir teilt!
Die Anrufe bei einigen Freunden führen zu Frustration. Da erreiche ich beim ersten den Anrufbeantworter, beim nächsten ein langes, nicht enden wollendes Freizeichen. Also die Handtelefonnummern. Auch hier lange Freizeichen und viele automatisch generierte Antworten. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, seine Handtelefonanrufbeantworter nicht selber zu besprechen? „Dies ist der automatische Anrufbeantworter von…“ Pause „… Peter Lustig …“ Pause „Leider kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegen nehmen.“
Doch dann erreiche ich tatsächlich eine Freundin. Sie hört sich so an wie immer (das ist eine der Tücken der Technik: Sie gaukelt uns Nähe vor!) Wäre da nicht dieser leicht entspannte Ton in der Stimme. Und das leise Plätschern der Brandung im Hintergrund. Wie? Meeresrauschen in Köln? Ach, Gott, sie ist doch auf Ibiza. Das hatte ich vergessen. Nein, nein, es war nichts besonderes, ich wollte nur mal kurz… Ja klar, kann ich mich um die Blumen kümmern, dafür habe ich den Schlüssel ja… Nein, ich fahre nicht mehr weg… Ich wollte… Wie? Ihr bleibt dieses Jahr vier Wochen?… Nein, nein, es ist alles in Ordnung… Gute Erholung noch.
Einsam sitze ich auf meinem kleinen Balkon. Nur die beiden Meerschweine Che und Ludwig, die ich für 14 Tage zur (Urlaubs-)Pflege aufgenommen habe, quieken hin und wieder. Es ist nicht einmal mehr Bier im Kühlschrank. Kann ich mit den Birkenstockschuhen auf die Straße? Naja, es ist ja sowieso keiner in der Stadt, der mich erkennen würde. Schlüssel, Geld, Handtelefon (falls sich doch noch jemand meldet!), Treppe runter, einmal um die Ecke. Und dann er finale Schock: „Wir machen Urlaub“! Mein Kiosk macht Urlaub! Können die sich nicht um eine Vertretung kümmern? Glücklicherweise ist der nächste Kiosk in Köln nie weit. Das ist mir zwar wegen der Schuhe etwas peinlich, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern.
Zehn Minuten später bin ich zurück. Doch das Bier schmeckt so ohne Gesellschaft etwas fade. Die Schweine saufen nur Wasser und kauen an ihren Möhren. In meiner Verzweiflung begehe ich einen fatalen Fehler: Ich poste meine verzwickte Situation auf facebook! Dass das keine gute Idee war, wird mir eine halbe Stunde und ein Bier später klar: Meine Freunde antworten mir mit den Bildern ihres augenblicklichen Aufenthaltsortes. Strand, Meer, Urwald, Berge – eine dreiste Sammlung bunter Urlaubsimpressionen, die ich nicht sehen will. Haben die im Urlaub nichts anderes zu tun, als mit ihren schicken smartphones in Internetportalen zu surfen? Na wenigstens werden sie dann diesen Text lesen.
Der letzte Schritt, den ich wage, ist der auf die blauen Seiten. Angeblich ist gayromeo ja das schwule Einwohnermeldeamt. Doch kurz nachdem ich dort mein Begehr („Wer geht mit mir ein Bier trinken?“) veröffentlicht habe, bekomme ich so eindeutig zweideutige Antworten, zugeschickt dass ich dringend ein drittes Bier brauche, um den Abend zu überstehen.
Ihr Lieben! Kommt doch endlich zurück in die Stadt. Was kann es denn da draußen so Interessantes geben, im Ausland, auf den Bergen und im Meer? Ich bin doch auch hier. Kann mich eigentlich irgendjemand hören?
Im nächsten Jahr fahre ich in der Hochsaison weg. Es ist mir egal, wenn die Flüge teurer sind und ich eigentlich unabhängig von den Schulferien bin. Oder ich suche mir neue Freunde. Keine Lehrer und Erzieher, keine Eltern mit schulpflichtigen Kindern. Dann muss ich mir keine Gedanken darüber machen, ob mich der Sommer zum Alkoholiker macht!
Auf dem Weg aus der Innenstadt verschlägt es uns an die Biertische einer Kneipe, irgendwo in der Südstadt. Hier bin ich noch nie gewesen. Nett ist es. Man sitzt draußen, unter Bäumen, ein Brunnen plätschert (ja, tatsächlich, ein Kölner Brunnen, der Wasser führt). Und wie immer dieser Tage: Der Fernseher steht prominent eben uns. Der Bildschirm ist grün. Sehr grün.
Auf dem Weg aus der Innenstadt verschlägt es uns an die Biertische einer Kneipe, irgendwo in der Südstadt. Hier bin ich noch nie gewesen. Nett ist es. Man sitzt draußen, unter Bäumen, ein Brunnen plätschert (ja, tatsächlich, ein Kölner Brunnen, der Wasser führt). Und wie immer dieser Tage: Der Fernseher steht prominent eben uns. Der Bildschirm ist grün. Sehr grün. Ein unheimliches Gebrumme wie aus einem riesigen unterirdischen Hummelnest schallt heraus. Sehr überirdisch. Es ist WM. Alle Bildschirme sind Fußball. Bald sehen wir wohl auch auf den Überwachungsbildschirmen im Rewe die aktuellen Spiele.
Doch nicht die Spiele gehen mir auf die Nerven. Die Flaggen sind es. Die Farben. Schwarz. Breit. Äh… Rot. Gold. Nein. Geld… Gelb… Überall in der Kneipe stehen, liegen und hängen Flaggen, Wimpel und alles, was man auf irgendeine Weise schwarzrotgelb anmalen kann. Ich habe mich irgendwie nie mit der deutschen Nationalflagge identifizieren können. Die ist auf eigenartige Weise vorbelastet. Ja, natürlich ist mir die Tradition der Flagge bekannt. Aber auch über diese kann man sich getrost den einen oder anderen Abend bei Wein, Weib und Gesang streiten.
Nein, ich habe mich nie mit der gelbschwarzroten Flagge abgefunden. Und ich kann dem andauernden Flaggentrend nichts abgewinnen. Die deutsche Flagge ist für mich mit Volkstümelei und Nationalstolz verbunden. Bin ich jetzt intolerant? Volkstümelei finde ich zum Kotzen. Nationalstolz habe ich nie entwickeln können, wollen, dürfen. Nein, nein, ich will die Flagge nicht in Bausch und Bogen ablehnen. Ich wundere mich lediglich über die Massenbewegung, die seit der WM 2006 stetig anhält und offenbar zunimmt.
Jetzt stehen, laufen und hängen sie überall herum: Die Deutschlanddevotionalien. Rotschwarzgelbe Flaggen und Wimpel, schwarze Tischdeckchen mit roten Blümchen in gelben Väschen, leichte rote Hüte über schweren goldenen Ketten und luftigen schwarzen Kleidern, gelbe Lampen und rote Ampeln, selbstreinigende Klobrillen, hautenge T-Shirts, Autospiegelschoner, die wie Kondome in den Verkehr ragen, goldeselhafte Marienkäfer. Alles in gelbschwarzrotgelb, äh schwarz.. rot. Es ist eine eintönige Überfrachtung der Umwelt in drei Farben. Und offenbar vollkommen ohne jede Aussage. Denn was will mir der blumengirlandentragende, laut „Schland“ skandierende Milchbubi auf der Severinstraße erzählen? Dass er Deutschland liebt? Dass er Poldis ganzen Namen kennt? Wer hat ihm diese Art der Artikulation mitgegeben? Welch ein Trauerspiel!
Doch dann kommt er über mich: Der Schock. Die Erinnerung an die letzten Spiele unserer Jungs gegen… ja, gegen wen denn eigentlich noch? Ich sehe mich angespannt mitfiebernd mit einem güldenen Kölsch vor einer Kneipe sitzen, laut aufschreiend, als Poldi ein Tor schießt. Auf den Schwarzgekleideten schimpfend, als er Klose mit gelb-rot vom Platz schickt. Ich bin plötzlich schwarzrotgelb engagiert. Und dann wird diese Erinnerung überschattet von dem Grong Prie dö la Schongßong. Von Lena. Jedes Mal, wenn die zwölf Punkte an unser Mädchen aus Hannover gingen, habe ich gejubelt.
Wir sind also schwarzer Papst, güldene Lena und möglicherweise bald auch WM. Werde ich mir dann auch eine rotschwarzgelbe Flagge vom Balkon hängen? Mir wird übel. Die Flagge ist gesellschaftsfähig geworden. Wir dürfen offenbar wieder stolz darauf sein, deutsch zu sein. Jetzt halten Galle und Magensäure ein Stelldichein in meinem Hals. Der Prozess der Verdeutschlandisierung ist breit akzeptiert. Er ist da und er wird gepflegt. Man macht ihn einfach mit. Warum auch nicht? Fragt dann doch einmal jemand nach, wofür Schwarz und Rot und Gold stehen, dann ist der Fragende schnell in der Defensive.
Ich befinde mich in einer Generation der ausgleichenden Weichspüler. Es ist eine Wanderung auf schmalem Grat. Erwähne ich die Entwicklung nicht, dann fühle ich mich beim Anblick der Flaggen irgendwie fies. Lehne ich die Nationalflagge ab, dann wandere ich schnell in den Sumpf der moralinsauren Demagogie roter Aktivisten ab. Befürworte ich die bunten Aushänge, fühle ich mich irgendwie schwarz; zu schwarz, um in den Spiegel sehen zu können. Da gilt es, die goldene Mitte zu finden.
Stolz werde ich auf Deutschland wohl nie sein. Eine Deutschlandflagge werde ich mir nicht aus dem Fenster hängen. Doch wenn unsere Jungs spielen, dann brodelt es in mir über. Irgendetwas schlummert in mir, dass mich bei jedem Tor jubeln lässt. Und auf unheimliche Weise macht mir das Angst, denn ich stecke in einem Zwiespalt. Ich will mich über einen Sieg freuen können, doch ich vermiese mir die Stimmung sofort mit den Zweifeln. Der Wirt der Kneipe mit den vielen Deutschlanddevotionalien heißt übrigens Costas. Mein Sprachgefühl sagt mir, dass das kein typisch deutscher Name ist. Eher griechisch. Vielleicht sollte ich mir etwas von ihm abgucken: Ich hänge mir die schwedische Fahne vor die Tür, jubele bei jedem Tor für die blaugelbe Mannschaft und freue mich insgeheim, dass die Schweden eine Deutsche zu ihrer Königin machten. Ach, die Schweden sind gar nicht dabei? Mein Gott, ihr macht es einem aber auch nicht leicht.