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Die Ursprünge des CSD

Von Stonewall Inn zu politischen Konsequenzen

Der Christopher Street Day (CSD) hat sich im Laufe der Jahre zu einer weltweit bekannten Veranstaltung entwickelt, bei der die LGBTQ+-Community ihre Identität feiert und für Gleichberechtigung und Akzeptanz kämpft. Doch woher stammt der CSD eigentlich? In diesem Blogbeitrag werfen wir einen Blick auf die Ursprünge des CSD und die entscheidende Rolle, die das Stonewall Inn dabei spielte. Außerdem betrachten wir die politischen Konsequenzen, die aus den Ereignissen von damals resultierten.

Die Geburtsstunde des CSD: Stonewall Inn

Das Stonewall Inn war eine Bar im New Yorker Stadtteil Greenwich Village, die Ende der 1960er Jahre zum Zentrum der LGBTQ+-Community wurde. Die Bar wurde von marginalisierten Gruppen wie Transgender-Personen und Drag Queens besucht. Am 28. Juni 1969 kam es zu einer Polizeirazzia, die den Anstoß für die berühmten Stonewall-Unruhen gab. Die Besucher*innen des Stonewall Inn wehrten sich gegen die Schikanen der Polizei und setzten ein Zeichen für ihre Rechte.

Der Weg zur politischen Bewegung

Die Stonewall-Unruhen markierten den Wendepunkt für die LGBTQ+-Bewegung. Sie brachten die Gemeinschaft zusammen und inspirierten sie, für ihre Rechte einzustehen. In den folgenden Jahren bildeten sich zahlreiche Aktivistengruppen, die für die Abschaffung diskriminierender Gesetze und für die Gleichstellung von LGBTQ+ kämpften. Die politische Bewegung gewann an Fahrt und führte zur Entstehung des Christopher Street Day.

Die Entstehung des Christopher Street Day

Der Christopher Street Day leitet seinen Namen von der Straße ab, in der das Stonewall Inn liegt. Der erste CSD fand am 30. Juni 1970 in New York statt und war eine Gedenkveranstaltung für die Stonewall-Unruhen. In den darauffolgenden Jahren verbreitete sich der CSD in vielen Städten weltweit und entwickelte sich zu einem Symbol für die LGBTQ+-Bewegung.

Politische Konsequenzen und Errungenschaften

Der CSD hatte erhebliche politische Konsequenzen und trug zu bedeutenden Errungenschaften der LGBTQ+-Rechte bei. In den 1970er und 1980er Jahren wurden in verschiedenen Ländern Gesetze erlassen, um Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu verbieten. Die LGBTQ+-Bewegung gewann an Sichtbarkeit und setzte sich für die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Antidiskriminierungsgesetze und die Bekämpfung von HIV/AIDS ein.

Die weltweite Bedeutung des CSD

Heutzutage wird der CSD nicht nur in den USA gefeiert, sondern auch in vielen anderen Ländern weltweit. Der CSD dient als Plattform für politische Forderungen, aber auch als Feier der LGBTQ+-Identität und des Stolzes. Durch Paraden, Demonstrationen und kulturelle Veranstaltungen bringt der CSD Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen, Geschlechtsidentitäten und Hintergründe zusammen. Der CSD hat dazu beigetragen, dass LGBTQ+-Rechte in vielen Ländern anerkannt und geschützt werden.

Die Bedeutung von Sichtbarkeit und Akzeptanz

Eine der wichtigsten Auswirkungen des CSD ist die Sichtbarkeit und Akzeptanz von LGBTQ+-Menschen in der Gesellschaft. Durch öffentliche Veranstaltungen und Demonstrationen haben sich viele Menschen geoutet und ihr wahres Selbst gezeigt. Dies hat dazu beigetragen, dass Vorurteile und Diskriminierung reduziert werden konnten. Der CSD schafft eine Plattform für LGBTQ+-Menschen, um stolz auf ihre Identität zu sein und gleichzeitig für ihre Rechte zu kämpfen.

Herausforderungen und zukünftige Ziele

Obwohl der CSD viele Erfolge erzielt hat, stehen LGBTQ+-Menschen weltweit immer noch vor Herausforderungen. In einigen Ländern werden sie immer noch diskriminiert, verfolgt und mit Gewalt konfrontiert. Daher ist es wichtig, dass der CSD weiterhin als politische Bewegung fungiert und für die Gleichberechtigung und den Schutz von LGBTQ+-Rechten eintritt. Zu den zukünftigen Zielen gehören beispielsweise die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen in allen Ländern, die Bekämpfung von LGBTQ+-Feindlichkeit und die Förderung von Bildung und Aufklärung.

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Plädoyer für die eigene Stimme

Schon lange treibt mich ein Thema um, mit dem ich mich kaum aus der Deckung wage: Wieso schreiben eigentlich so viele (heterosexuelle) Frauen schwule Romane? Man mag jetzt vielleicht in einem ersten Impuls meinen, das sei doch alles gar nicht so wild und ich könne ja auch nicht erwarten, dass Thriller nur von Autor:innen geschrieben würden, die schon mal einen anderen Menschen umgebracht haben. Aber so einfach ist es dann doch nicht.

In den sozialen Medien habe ich mit diesem Text einen Orkan der Gefühle und Kommentare ausgelöst. Ich wollte niemandem zu nahe treten und keiner Autorin die Berechtigung absprechen, schwule Romane zu schreiben. Das ist mir wahrlich nicht gelungen. Nach langem Überlegen habe ich mich dennoch entschlossen, diesen Text mit einigen Korrekturen und Überarbeitungen wieder online zu stellen, weil ich das Thema für zu wichtig erachte, als dass ich mich von unangemessenen Kommentaren abschrecken lasse.

Kulturelle Aneignung
In der Kultur, in der Filmbranche, in den Theatern und auf den Bühnen der Welt gibt es einen sich allmählich durchsetzenden Konsens: Innuit und Ureinwohner, Ausländer und Rastafaris werden in der Regel nicht mehr von Menschen verkörpert, die diesen Gruppen nicht selbst angehören. Wir sprechen in diesen Fällen von kultureller Aneignung. Der Hintergrund dazu ist, dass diese Menschen durchweg in den oben genannten Bereichen unterrepräsentiert sind, obwohl sie ja zu unserer Gesellschaft gehören. Und in vielen Fällen gehen beispielsweise mit der Darstellung eines Türken durch einen Deutschen eine Menge Stereotype einher, die nichts mit den betroffenen Gruppen zu tun haben. Und nicht zuletzt wird einem dunkelhäutigen Menschen auch noch der Weg zu Perspektive und Geld verbaut, indem jemand anderes seine Rolle übernimmt. Unsere Gesellschaft ändert sich, wenn auch nur sehr träge.

Vor einigen Tagen war dann Raul Krauthausen in einem Interview des NDR zu Gast und hat der Diskussion einen weiteren Aspekt hinzugefügt: Die Darstellung von Behinderten in Filmen. Wer Raul Krauthausen nicht kennt: Er ist Schauspieler und Autor und nicht zuletzt ein vehementer Kämpfer für die Rechte von behinderten Menschen. Er fordert für die Ausbildunge von Schauspieler:innen eine Quote, sodass Behinderte eine größere Chance haben, die Rollen, die sie repräsentieren, auch selbst zu spielen. Mich überzeugt dabei vor allem der Gedanke, dass man einem behinderten Schauspieler seine Rolle viel eher abnimmt, weil er sie glaubwürdiger und authentischer ausfüllt. (Das vollständige Interview kannst du dir HIER ansehen.)

Was ist mit der Literatur?
Ist es vor diesem Hintergrund nicht auch an der Zeit, die Literatur zu hinterfragen? Wenn ich einen Roman über einen afroamerikanschen Kommissar in Chicago lese, dann erwarte ich dahinter einen Autor, der aus eigener Erfahrung weiß, wie es sich anfühlt, als afroamerikanischer Mann in den USA zu leben. Wenn ich über die Herausforderung eines Mädchens lese, das die Pubertät durchlebt, dann gehe ich davon aus, dass die Autorin weiblich sein muss, denn wie sollte ein Mann die physischen und psychischen Veränderungen beschreiben, die mit der ersten Monatsblutung einhergehen? Wenn ich den Reisebericht eines querschnittsgelähmten Mannes durch die Sahara lese, dann möchte ich nicht hinterher erfahren, dass der Autor durchaus laufen kann und noch nie in einem Rollstuhl gesessen hat. Das zumindest sind meine Ansprüche an die Bücher, die ich lese.

Aber was ist dann mit schwuler Literatur? Ist Homosexualität einfach nur eine Variation des menschlichen Seins? Kann jede:r Autor:in darüber schreiben, wie es ist, sich vor den Eltern und den Freunden zu outen? Hat sich unsere Gesellschaft so weit geöffnet, dass es vollkommen egal ist, ob ich als Mann eine Frau oder einen anderen Mann liebe? Wir laufen immer wieder Gefahr, genau das zu denken. Ich zumindest. Denn ich lebe in einer gesellschaftlichen Blase, zu der viele Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen gehören. Ich habe mir mein Umfeld so gestaltet, dass es mit meiner Lebensweise vollkommen normal umgeht. Aber ich lebe auch in Köln. In einem der besseren Stadtviertel dieser Stadt. Ich bin umgeben von reflektierten und intelligenten Menschen. Aber das ist nicht der Normalfall. Der Durchschnitt der deutschen Gesellschaft ist anders. Sobald ich Köln verlasse und durch die Eifel oder das Bergische Land laufe, gucken mich die Leute ganz entgeistert an, wenn ich meinen Mann an der Hand halte. Und: Wenn sie nur gucken, dann haben wir Glück gehabt. Meist gehören auch verbale Äußerungen dazu.

Der lange Weg zur Selbstbestimmung
Um da zu stehen, wo ich heute stehe, mit meinem Selbstbewusstsein und der Überzeugung, das Richtige zu tun und zu leben, habe ich einen weiten Weg hinter mich gebracht. Ich musste mich mit mir und meiner Sexualität intensiv auseinandersetzen, habe ich mich gegen Vorurteile behauptet und Anfeindungen ertragen. Ich musste akzeptieren, dass Kinder nicht so selbstverständlich zu meinem Leben gehören, wie bei meinem Bruder. Ich durfte meinen heutigen Mann bis vor ein paar Jahren nicht heiraten, konnte nicht selbstverständlich erwarten, dass der Mensch, der mir am nächsten steht, auch die Entscheidungen für mich fällt, wenn ich das einmal nicht mehr kann. Mietrecht. Erbrecht. Adoptionsrecht. All diese Themen waren und sind teilweise immer noch mit großen Hürden verbunden. Einiges davon ist heute angeglichen und verbessert. Dafür haben viele Menschen lange gekämpft. Volker Beck und Hella von Sinnen, Rosa von Praunheim und Ralf König, selbst Guido Westerwelle und Klaus Wowereit haben dazu beigetragen, dass die Toleranz und der Respekt ausgeweitet, aber auch das politsche Fundament dazu gelegt wurde. Doch trotzdem sind auch heute immer noch Jugendliche und Erwachsene mit Beleidigungen, Ausgrenzungen konfrontiert, wenn sie sich als schwul, lesbisch, bi oder trans outen. Daran hat sich kaum etwas verändert. Wir müssen uns immer noch auseinandersetzen und erklären und verteidigen. Jeden Tag. Und diese Auseinandersetzungen haben einen großen Einfluss auf die Menschen, die dabei entstehen.

Was also geschieht, wenn ein:e Autor:in nichts von diesen Entwicklungen am eigenen Leib erfahren hat? Wenn sie sich nie zu einer Sexualität bekennen musste, die nicht der statistischen Norm entspricht. Wenn sie nie als „Schwuchtel“ oder „Homo“ beschimpft wurde. Kann sie dann einen schwulen Mann so beschreiben, der als authentisch und glaubwürdig wahrgenommen wird? Ich behaupte, dass das schwierig ist. Ein Kritiker könnte jetzt wieder mit der Protagonistin in einem Thriller kommen: Kann denn nur eine Autorin, die selbst schon einen Menschen brutal abgeschlachtet hat, über eine Serienkillerin schreiben? Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Themen: Es gibt da draußen viele Schwule (von denen auch einige ganz gut schreiben können). Wir kennen diese Menschen und erleben sie. Wir können also die fiktionale Figur in einem Roman mit der Realität abgleichen. Bei einem Serienmörder ist das anders: Ich zumindest weiß in meinem Freundeskreis von keinem Killer. Also weiß ich auch nicht, wie ein Killer in der Realtät durch die Welt läuft, wie er denkt, fühlt, handelt. In der Folge kann ich über sein Seelenleben nur spekulieren. Einen Rollstuhlfahrer hingegen kenne ich und kann ihn im Zweifelsfall fragen, wie er eine Reise durch die Sahara gestalten würde.

Über die alltäglichen Erfahrungen hinaus gibt es noch einen weiteren Aspekt in schwulen Romanen, der für nicht-schwule Autor:innen eine Herausforderung darstellen sollte: der Sex. In den letzten Jahren habe ich viele Texte gelesen, in denen ich über zum Teil recht skurrile Vorstellungen von männlicher und schwuler Sexualität gestolpert bin. Aber selbstverständlich gibt es wirklich tolle Autorinnen, die diese Szenen gut beschreiben. Ich selbst würde allerdings niemals über weibliche Sexualität schreiben, weil mir persönlich einfach der Bezug dazu fehlt und ich sicher bin, furchtbar peinliche Dinge zu schreiben.

Ablehnung als System
Und noch ein Gedanke: Über viele Jahre hinweg wurden die Manuskripte engagierter schwuler Autoren umgehend abgelehnt, wenn eine schwule Hauptfigur darin vorkam. Uns Autoren war jahrelang der Weg, über das zu schreiben, was unserer Lebensrealität entspricht, verschlossen. Lediglich in Nischenverlagen konnten wir authentisch publizieren. Uns wurde eine wahrhafte Beteiligung an der literarischen Welt systematisch verwehrt. Wir kamen darin nicht vor, wir wurden nicht breit erwähnt und in der Folge konnten wir auch kein Geld mit unseren Texten verdienen. Jetzt ändert sich die Stimmung langsam. Sehr langsam. Aber noch immer werden Projekte von mir mit der Begründung abgelehnt, dass „der Markt noch nicht für einen schwulen Kommissar bereit“ sei. Geschehen ist dies im Frühjahr 2023! Aber: Es bewegt sich etwas.

Nun stellt sich uns die Herausforderung, dass wir uns um die wenigen Programmplätze kloppen dürfen. Das Problem sind hier nicht die Autorinnen, die über schwule Themen schreiben, sondern das Problem ist der Buchmarkt, der sich viel zu langsam bewegt. Wenn der Markt sich endlich wirklich öffnen würde, gäbe es deutlich mehr Programmplätze für diverse Texte. Wir werden also alle in eine Situation gezwungen, auf die wir keine Lust haben.

#OwnVoice
Ich bin fest davon überzeugt, dass wesentliche Teile der schwulen Literatur auch von Schwulen geschaffen werden sollten, damit sie authentisch sind. Damit keine Stereotype in die Welt hinausgetragen werden. So wie wir die authentischen Stimmen von Frauen und Afroamerikanern brauchen, von Rollstuhlfahrern und Flüchtlingen, genauso brauchen wir die originären Stimmen von queeren Menschen, von Schwulen, Lesben und Transgender.

Weiterführende Literatur
Authentisch über andere schreiben
Wieso Own Voices Bücher so wichtig sind
#ownvoices sind wichtig


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Ein Leben auf dem Seerosenblatt

Hiro ist die Marionette ihrer Charaktere

Ich hasse Tomaten und ich bin nicht gut im Erklären. Daher habe ich mich hingesetzt und geschrieben und geschrieben. Ich bin nicht gut im Reden, daher wollte ich unbedingt lernen, mich besser auszudrücken und …
Plötzlich sind da diese Charaktere in meinem Kopf entstanden, die mich lautstark genervt oder mir eine Mappe über den Kopf gezogen haben, damit ich endlich ihre Geschichte schreibe.
Eigentlich bin ich nur deren Marionette und werde so lange fertig gemacht, bis ich liefere. Hilfe!


Schreibst du unter Pseudonym? Und wenn ja: Warum?
Jaein. Seit mindestens 6 Jahren kennen mich viele Leute unter dem Namen Hiro und für mich ist es total selbstverständlich so angesprochen zu werden. Daher dachte ich bei meinem ersten Buch dann so: „Hey, dann nehm ich einfach Hiro!“

Wo lebst du oder wo würdest du gerne leben?
Ich wohne in der Nähe von Köln und obwohl ich früher immer weg wollte, will ich inzwischen gar nicht mehr woanders hin. 

Wer bist du oder wer würdest du gerne sein?
Ich bin Hiro und wenn es ginge, wäre ich gerne ein Frosch, der auf einem Seerosenblatt wohnt. Am besten in einem Ghibli Film. ?

Für wen schreibst du?
Für mich. Ich kann nur schreiben, was ich mit ganzem Herzen fühle. Zwar schlägt das nicht bei der großen Masse ein, aber ich kann nur diese Sorte Buch schreiben. Wenn es dann noch Leser*innen findet, schmelze ich innerlich, weil es mich so freut, dass jemand Mein Buch liebt! Das ist so ein Wahnsinnsgefühl.
Daher: tut mir leid, dass ich keine Bücher schreiben kann, die gefragt sind, aber ich kann euch 100% Hiro Bücher versprechen. ☺️

Wer oder was motiviert dich zum Schreiben?
Das Leben, meine Charaktere im Kopf, die plötzlich aufploppen…
Manchmal reicht es auch schon einen Namen zu hören und mein Kopfkino geht los … Es ist nicht aufzuhalten.

Wo oder in welchem Kontext schreibst du?
Ich schreibe queere Liebesromane. Vor allem mag ich es, auch Asexuellen eine Plattform zu bieten, da auch sie ihre Liebesgeschichten verdient haben. Denn auch, wenn es in vielen Büchern nicht benannt wird, schreibe ich meistens eine Person, die unter den Ace-Umbrella gehört.
Ansonsten ist es zu 100% mit M/M Protagonisten. Manchmal Liebe auf den ersten Blick und manchmal braucht es auch hundert Anläufe, bis die Protas erkennen, dass ihr Seelenverwandter direkt vor ihnen sitzt.

Was ist das Besondere an deinen Texten und Figuren?
Alle haben eine einzigartige Connection zu ihrem Love Interest. Außerdem sind mir Ecken und Kanten wichtig, denn niemand ist perfekt! Und wenn sie sich verlieben, dann mit Herzblut und sie würden alles stehen und liegen lassen für den anderen.  Man kann mit ihnen lachen, weinen und für immer ins Herz schließen. Außer Serik, sonst kommt Aleksei vorbei und das gibt Ärger!

Warum sollte ein.e Leser.in deine Bücher in die Hand nehmen?
Weil die Leser*innen viel aus meinen Büchern mitnehmen können. Von Asexualität, über Mental Health und den Umgang mit Unsicherheit und schwierigen Zeiten.
Meine Bücher erweitern den Horizont und den Blick auf die wahre Welt. Außerdem können die Leser*innen in die Liebesgeschichten eintauchen und diese besondere Bindung mit den Protagonisten teilen. Durch dick und dünn, Streit und Kummer zu einem Happy End.

Erzähl doch bitte ein wenig über das Buch, das du von deinen Büchern am liebsten magst
Das ist super schwer und emotionsabhängig bei mir. Im Moment ist es aber „Meermannkuss“, weil mein Meermann Edin so voller Liebe für die Menschen und die kleinen Dinge im Leben ist, dass mich das einfach ansteckt. Manchmal möchte ich die Welt auch durch seine Augen sehen und die Wunder erkennen, die wir für selbstverständlich halten.

Welche Bücher sind von dir bereits erschienen?
Ein Spatz auf dem Eis
Meermannkuss
Zirkuslichter 1 (Teil 2 kommt bald)
Hand in Hand den Bach runter

Woran arbeitest/schreibst du gerade?
Im Moment sitze ich an Teil 3 & 4 der Zirkuslichter Reihe! 

Was ist die schönste Rückmeldung eines/einer Leser.in gewesen, die du bekommen hast?
“Am besten hat mir gefallen, wie reich an Nuancen die Charaktere geschildert werden. Sie sind weit ab von Schwarzweiß-Malerei, sind Menschen mit guten und schlechten Eigenschaften, und wo sie schlecht sind, ist das auch erklärbar. Das heißt, auch ausgesprochene Fehltritte bedeuten nicht, dass die ganze Person verdammt wird. Keine Aufteilung in Opfer und barmherzige Samariter – ein Schema, das ich besonders kritisch sehe, ist hier nicht vorhanden. Die Personen sind aus eigener Verantwortung handelnde Helden oder auch das Gegenteil. Die Protagonisten sind so liebenswert, dass man gern mehr von ihnen lesen würde, denn es ist durchaus noch denkbar, dass ihre dramatischen Schicksale in der Vorgeschichte und auch die schillernden Nebenfiguren mehr Stoff hergeben könnten.”


Hiroki Jäger im Internet

Website: hiroki-jaeger.de
Instagram: hiro_jaeger
Facebook: facebook.com/hirokijaeger


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Klingelingeling, TikTok

Meine Erfahrungen mit der Videoplattform.

Anfang Oktober erschien auf der Website der Tagesschau ein Artikel mit dem Titel „TikTok schränkt die Meinungsfreiheit ein“. Im Prinzip war diese Meldung erst Mal nichts Überraschendes. TikTok ist ein privates Unternehmen, so wie Facebook, Youtube und Instagram auch, und der Umgang mit Meinungen ist auf all diesen Plattformen diskussionswürdig. Und weil es ein privates Unternehmen ist, steht es der Unternehmensführung natürlich zunächst frei, die Bedingungen für das, was auf ihren Seiten geschieht, selbst festzulegen. Wir alle stimmen den Nutzungsbedingungen und anderen rechtlichen Grundlagen bei der Anmeldung auf diesen Plattformen mit einem Klick zu. Ohne diesen Klick können wir nicht am sozialen Medienwahnsinn teilnehmen.

Dass die Verbreitung von Kinderpornografie unterbunden werden muss, dass Geschäfte mit Drogen, Sklaven und Prostitution nicht gebilligt werden dürfen – all das steht außer Frage. Aber was ist mit Minderheiten und Randgruppen? Instagram und Facebook gerieren sich als weltoffene Unternehmen, in denen jeder zu seiner Art des Seins stehen darf und soll. Natürlich gibt es auch hier Einschränkungen, beispielsweise im Bereich Sex. Das kalifornische Unternehmen Meta, zu dem Instagram und Facebook gehören, begründet dies mit den amerikanischen Gesetzen, denn der Hauptsitz befindet sich nun mal auf amerikanischem Territorium.

Westen gegen Osten

Ähnlich sieht es bei TikTok aus. Auch hier gibt es Einschränkungen in dem, was die User posten und zeigen, sagen und schreiben dürfen. Aber dabei handelt es sich um Einschränkungen auf der Basis chinesischer Gesetze und chinesischer Moralvorstellungen. Denn schließlich ist TikTok ein chinesisches Unternehmen. Die Konsequenzen sind aber ungleich dramatischer als bei den amerikanischen Plattformen.

Zwar gibt es in China keiner Gesetze mehr, die homosexuelle Handlungen verbieten, aber in den Medien wird immer wieder gegen die LGBTQ-Community gehetzt. Darüber hinaus wird von Repressalien durch Polizei und Justiz gegen queere Menschen berichtet.

Im Prinzip reagieren wir in Europa ja auf Informationen dieser Art aus China erstmal relativ gelassen. China ist weit weg. Und kaum einer verlegt seinen Lebensmittelpunkt von hier aus so weit in den Osten. Wir beschäftigen uns ja auch nicht mit der Verfolgung queerer Menschen in Uganda und sprechen lieber nicht über die Situation in Russland. Und selbst die Entwicklungen in Ungarn und Polen lassen uns eher kalt. Das soll die Politik regeln. Wir leben ja in Mitteleuropa und sind zivilisiert.

Wer TikTok nutzt, lässt sich auf die chinesische Moral ein
Doch dann gibt es ja auch unter die Menschen – vor allem Jugendliche, Kinder und junge Erwachsene – die sich täglich viele Stunden bei TikTok aufhalten. Und bei TikTok prallen Orient und Okzident aufeinander, ohne dass uns das ständig bewusst ist. Wir surfen auf dieser Plattform zu chinesischen Konditionen. Wir akzeptieren die chinesischen Moralvorstellungen. Und dazu gehört unter anderem, dass bestimmte Worte und Formulierungen nicht benutzt werden sollten, denn verstößt man dagegen, werden die gedrehten Videos in der Auslieferung an die User.innen ausgebremst. So zumindest steht es im Artikel der Tagesschau, der auf einer gemeinsamen Recherche mit dem NDR basiert.

Ich bin bei TikTok. Denn dort ist ein Teil der Zielgruppe für meine GayStorys unterwegs. Und diese Menschen möchte ich erreichen. Also habe ich Filme hochgeladen und mich (noch vor Erscheinen des Artikels) manchmal gewundert, warum das eine Video besser lief und ein ähnliches schlechter. Also habe ich letzte Woche (nach der Lektüre des Artikels) die Probe aufs Exempel gemacht: Ich habe ein Video gedreht, im dem ich genau über diese Einschränkungen spreche. Ich habe dabei die verpönten Worte „gay“ und „schwul“ benutzt und diese auch in der Videobeschreibung mit Hashtags verlinkt. Den Button „Homophobie“ habe ich plakativ auf dem Vorschaubild platziert.

Was glaubst du, ist passiert?
Während meine bisherigen Videos immer ungefähr 250 Mal ausgespielt wurden, bis sie in der Welt des Vergessens versanken, wurde dieses Video exakt null mal gezeigt.

Zum Vergleich habe ich ein fast identisches Video hochgeladen, dabei keine verfänglichen Hashtags oder Buttons eingesetzt, mit dem Ergebnis, dass es immerhin 243 Mal ausgespielt wurde. Deutlicher kann man die Einschränkungen durch den Konzern TikTok nicht demonstrieren.

Ich musste mich nicht einmal aufregen, denn ich hatte ja quasi damit gerechnet, dass es so läuft. Wenn auch nicht in dieser deutlichen Diskrepanz.

Exkurs
Auf TikTok gibt es eine breite Community an queeren Menschen, die Filme über sich und ihr Leben drehen. Einige haben viele Tausend Follower und exponieren sich fast schon exibitionistisch. Mir ist es ein unfassbares Rätsel, wieso diese Videos ausgespielt werden. Denn das sind die mir vollkommen unverständlichen Gegenbeispiele für die Ergebnisse der Tagesschau-Untersuchung.
Exkurs Ende.

Aber jetzt habe ich ein Problem
Bei TikTok gibt es eine große Buchcommunity. Immer mehr Autor.innen legen sich Accounts zu, zeigen ihre Werke und selbst die oft sehr trägen deutschen Verlage steigen in das Geschäft mit den Videos ein. Mit meinen Themen MUSS ich quasi auf dieser Plattform präsent sein, wenn ich nicht auf einen Teil meiner Kundschaft verzichten möchte. Facebook ist längst tot, bei Instagram ist zwar noch Bewegung drin, aber Marc Zuckerbergs Neuerungen erscheinen immer häufiger wie ein Abklatsch von dem, was TikTok macht. Und dann gehen die Menschen vermutlich lieber zum Original, als zu der Kopie. TikTok ist also der neue Marketingkanal für jüngere Zielgruppen. Dem muss ich mich in gewisser Weise unterwerfen.

Allerdings treffen mich die oben erwähnten Einschränkungen ganz tief in meiner Ehre. Ich bin schwul. Ich habe dafür gekämpft, so sein zu können, wie ich bin. Und ich bin verdammt stolz darauf, dass ich meinen Weg bis zu dem Punkt, an dem ich heute stehe, (weitgehend) konsequent gegangen bin. Denn das war nicht immer leicht. Und ich möchte anderen Menschen mit meinen Büchern Mut machen, will sie überzeugen, zu sich zu stehen, ich will diejenigen, die sich für queere Menschen einsetzen, stärken. Und das kollidiert jetzt mit dem System TikTok.

Kann ich meine Bücher bei TikTok wirklich guten Gewissens anpreisen und damit Content für einen homophoben Konzern liefern? Ohne die User, die regelmäßig Tausende von Videos hochladen, könnten weder TikTok, noch Instagram, Facebook und Youtube überleben. Ich liefere TikTok also die Inhalte, damit das Unternehmen mit bezahlter Werbung Umsatz generiert.

Das tut mir jeden Tag aufs Neue weh.

Müsste ich nicht eigentlich meinen TikTok-Account löschen und zu meinen Idealen stehen?

Ich habe keine Lösung für mein Dilemma.

Was würdest du an meiner Stelle tun? Schreib mir bitte deine Meinung unten in die Kommentare. Vielleicht komme ich dabei ja auf neue Ideen.


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Bist du Autor.in?

Queere Autor.innen und Gay Romance- Schriftsteller.innen.

Du bist Autor.in, schreibst auf Deutsch im Bereich Gay Romance oder anderen Sparten der queeren Literatur? Du hast Lust, dich und deine Bücher in meinem Blog vorzustellen? Dann schreib mir eine Nachricht an post@stephano.eu

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Schwule Literatur oder Gay Romance?

Warum schreibe ich queere Literatur?

Ich wollte mich eigentlich nie in die Schublade des schwulen Autors stecken lassen, weil ich diese Form der Kategorisierung nicht mag. Vielleicht kennst du das, wenn dich jemand fragt woher du kommst (wenn du einen Migrationshintergrund hast), ob der Aktzeichenkurs ein schwuler ist (wenn du ein queerer Künstler bist) oder ob du allein aufs Klo gehen kannst (wenn du im Rollstuhl sitzt): Jedes Mal wirst du auf mehr oder weniger übergriffige Weise auf einen Teil deiner Identität zurückgeworfen, der dich gar nicht zentral ausmacht. Denn eigentlich verstehe ich mich in erster Linie als Schriftsteller, als liebevoller Freund und als konstruktiver Kollege (und vieles mehr). Und nur am Rande bin ich auch noch schwul. Meine Homosexualität gehört zu mir, sie prägt mein Leben entscheidend. Aber eben nicht immer und überall. Deshalb zucke ich jedes Mal zusammen, wenn mir durch meist nett gemeinte Fragen der Stempel aufgedrückt wird, dass ich eine absonderliche Spezies bin. Mich nervt das kolossal! Genau deshalb wollte ich nie rein schwule Bücher publizieren.

Doch es gibt noch eine andere Seite der Medaille: Ich freue mich über jeden Roman, in dem ein schwuler Charakter nicht nur eine spaßige Nebenrolle übernimmt, sondern im Fokus der Handlung steht. Wenn sich zwei Männer ineinander verlieben oder zumindest miteinander spielen. Aber von diesen Büchern gibt es viel zu wenige. Und eine Reihe dieser wenigen Titel sind leider erstaunlich schlecht geschrieben. Nicht nur im Selfpublishing, auch die Werke, die in etablierten Verlagen herauskommen, scheinen oft ohne fundiertes Lektorat oder literarischen Anspruch veröffentlicht zu werden. Und das ärgert mich noch mehr. Also schreibe ich dagegen an. Das ist mein Anteil an der queeren Bewegung unserer Gesellschaft.

Warum ist die Figur denn schwul?

Als ich dann vor ein paar Jahren mit einer Agentin darüber sprach, schwule Romane auf die Welt zu bringen, war die Reaktion irgendwas zwischen Desinteresse und Ablehnung. Ich musste mir anhören, dass es auf dem deutschen Buchmarkt keine Publikationsplätze für solche Titel gebe. Außerdem sollte ich begründen, warum die Hauptfigur in der Geschichte, die ich im Kopf hatte, schwul war. Das hat mich ehrlich gesagt ziemlich schockiert. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich als Autor eine Begründung für die sexuelle Orientierung meiner Protagonisten liefern sollte. Warum sollte die Homosexualität dann auch noch so sehr in den Fokus gerückt werden, dass sie das zentrale Problem der Handlung wurde? Der Grundgedanke dahinter war: Wenn die Hauptfigur einer Geschichte schwul ist, dann muss sie damit auch Probleme haben, anecken oder durch ihre Homosexualität an den gesellschaftlichen Bedingungen scheitern. Ein Krimi mit einem schwulen Kommissar, der die Morde an einem Politiker aufklärt, braucht zwingend eine Verquickung des Falls mit dem Thema Homosexualität. Sonst könnte der Kommissar ja auch hetero sein. Oder?

Immer noch werde ich total wütend, wenn ich an diese Reaktionen denke, die im Übrigen nicht nur von einer Agentur an mich herangetragen wurde. Bei einem heterosexuellen Mörder stellt sich ja auch nicht automatisch die Frage, warum er denn nicht schwul ist. Oder stehe ich auf dem Schlauch?

(unten gehts weiter)


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Die Bedeutung der queeren Literatur für das Selbstverständnis queerer Menschen

Dabei sind schwule und queere Bücher ein extrem wichtiger Teil des homosexuellen Selbstverständnisses. Nur durch Sichtbarkeit in allen Facetten des Lebens und an allen Orten unserer Gesellschaft kann ein Zustand von Gleichberechtigung und Anerkennung erreicht werden. Ich brauche Rollenmodelle und Vorbilder, um mich weiterzuentwickeln, um mich zu outen und um mich selbst als unaufgeregtes Mitglied dieser Gesellschaft zu fühlen. Wenn meine sexuelle Orientierung in der Literatur (und im Übrigen genauso im Film) ausgespart, in die Nebenrollen oder in Nischenprodukte verschoben wird, dann werde ich mich selbst immer wieder anzweifeln. Und wenn sich die schwule Literatur darauf konzentriert, ein Nischenprodukt zu sein, das nur von einer kleinen eingeschworenen Gemeinschaft gelesen wird, dann wird es auch auf lange Sicht viel zu wenig Publikationen in diesem Bereich geben. Denn auch queere Autor.innen müssten auf die Verkaufszahlen und die damit verbundenen Einkünfte gucken. Der Kühlschrank füllt sich nicht von selbst. Schwule Bücher gehören also in Buchhandlungen nicht in das Regal mit der Regenbogenflagge, sondern in die Abteilungen der Liebesromane, Krimis und Thriller. Sonst setzt sich die Entwicklung der Abstempelung bis in alle Ewigkeiten fort. Sonst werde ich auch in zehn Jahren noch begründen müssen, weshalb der Serienmörder in meinem Thriller Männer liebt.

Schreibe ich Gay Romance oder schwule Literatur?

Und was machte ich? Ich schreibe Bücher, in denen die Protagonisten schwul sind, in denen sich die Handlung mit der Konfrontation von homosexueller und heterosexueller Welt beschäftigt, in der ich in erster Linie darüber berichte, wie der Protagonist durch seine Homosexualität aneckt, ausgegrenzt wird und zuweilen scheitert. Asche über mein Haupt! Ich schreibe genau das, was ich oben kritisiere. Aber im Moment kann ich nicht anders. Vermutlich bin ich gerade in einer Phase der Auseinandersetzung mit mir selbst. Eine Art zweites (oder zwölftes?) Coming-out.

Doch zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass ich noch nicht am Ende meiner schriftstellerischen Karriere angekommen bin. Ich arbeite hart an mir. Jeden Tag. Und ich habe weiterhin ein klares Ziel vor Augen: Meine Bücher sollen über kurz oder lang immer mehr dem entsprechen, was ich oben gefordert habe. Sie sollen schwule Charaktere beinhalten, die einen Fall lösen, die Dramen erleben, die eine Weltreise unternehmen – ohne ihre Homosexualität in den Fokus zu stellen.

Meine aktuellen Romane veröffentliche ich noch unter dem Label Gay Romance, weil ich glaube, sie für die Leser.innen logisch einordnen zu müssen. Aber eigentlich fallen sie für mich eher in die Kategorie schwule Romane – mit der Bezeichnung fühle ich mich zumindest viel wohler. Vielleicht komme ich dann auch irgendwann an den Punkt, dass ich selbst ungezwungener und selbstverständlicher mit meinen Figuren umgehen kann, sodass sie ganz ohne Schubladen zum Leben erwachen und Teil der deutschen (und internationalen) Bücherregale werden. Meine Erfahrung zeigt mir ja jetzt schon, dass nicht in erster Linie Schwule zu meinen Lesern gehören. Ganz im Gegenteil: Viele meiner Leserinnen sind weiblich und vermutlich heterosexuell (Ich habe sie nie danach gefragt). Anfangs hat mich das erstaunt, aber nach und nach habe ich diesen Umstand akzeptiert. Das wird allerdings keinen Einfluss auf meine Art zu Schreiben oder meine Themen- und Charakterauswahl haben. Versprochen!


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Die Geschichte der gay Literatur

Eine Reise durch die Jahrhunderte

Die gay Literatur hat immer eine wichtige Rolle dabei gespielt, Tabus zu brechen und gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen. In diesem Blogbeitrag möchten wir uns der Geschichte der schwulen Literatur widmen und aufzeigen, wie diese Literatur das Verständnis von Sexualität und Identität beeinflusst hat.

I. Antike bis 19. Jahrhundert

Die schwule Literatur hat eine lange Geschichte und reicht bis in die Antike zurück. Eines der bekanntesten Werke ist “Symposium” von Platon, in dem verschiedene Charaktere ihre Ansichten über Liebe und Beziehungen äußern, darunter auch homosexuelle Beziehungen. In der Renaissance gab es zahlreiche homoerotische Schriften, wie beispielsweise die Gedichte von Michelangelo oder die Sonette von William Shakespeare.

Im 19. Jahrhundert wurde die schwule Literatur zunächst von der Zensur unterdrückt. Der britische Autor Oscar Wilde war einer der bekanntesten Vertreter der homosexuellen Literatur dieser Zeit und wurde wegen “Unzucht” zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sein Werk “The Picture of Dorian Gray” enthält zahlreiche homoerotische Anspielungen und ist ein Meisterwerk der schwulen Literatur.

II. 20. Jahrhundert

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es nur wenige Werke der schwulen Literatur, da diese nach wie vor tabuisiert war. Erst in den 1950er Jahren gab es eine Wiederbelebung der schwulen Literatur mit Werken wie “Giovanni’s Room” von James Baldwin oder “The City and the Pillar” von Gore Vidal.

In den 1970er Jahren erlebte die schwule Literatur einen Aufschwung durch die Schwulenbewegung. Werke wie “Rubyfruit Jungle” von Rita Mae Brown oder “Dancer from the Dance” von Andrew Holleran wurden zu Bestsellern und feierten die schwule Kultur.

III. 21. Jahrhundert

Im 21. Jahrhundert hat die schwule Literatur weiter an Bedeutung gewonnen. Werke wie “The Hours” von Michael Cunningham, “A Single Man” von Christopher Isherwood oder “Call Me by Your Name” von André Aciman wurden zu Bestsellern und später erfolgreich verfilmt. Auch die LGBTQ+ Literatur für Jugendliche hat in den letzten Jahren zugenommen, mit Werken wie “Simon vs. The Homo Sapiens Agenda” von Becky Albertalli oder “Aristotle and Dante Discover the Secrets of the Universe” von Benjamin Alire Sáenz.

IV. Fazit

Die Geschichte der gay Literatur zeigt, wie wichtig Literatur dabei ist, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen und Tabus zu brechen. Die schwule Literatur hat in den letzten Jahrhunderten viele Fortschritte gemacht, von den homoerotischen Schriften der Renaissance bis hin zu den erfolgreichen Bestsellern des 21. Jahrhunderts. Die schwule Literatur hat dazu beigetragen, die Akzeptanz und Toleranz von LGBTQ+ Personen zu fördern und dazu beigetragen, eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen.

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„Die Pantomime hat mich aufrecht gehalten“

Milan Sladek ist einer der großen Pantomime. 1938 in der Slowakei geboren, übernahm er nach einer Ausbildung zum Holzschnitzer und dem Studium an der Akademie für Musische Künste in Bratislava die Leitung des Theaterstudios in in der gleichen Stadt und errang große Erfolge mit seiner Kunst. Nach dem Prager Frühling emigrierte er zunächst nach Schweden und ließ sich 1970 in Köln nieder. 1974 gründete er hier das Theater “Kefka”. Von 1987 bis 1992 war er Professor an der Folkwang-Hochschule in Essen, 1994 bis 2002 Direktor des Theaters Arena, des Internationalen Instituts für Bewegungstheater in Bratislava.
Zurzeit erarbeitet Milan Sladek mit Studenten der Prager Akademie der Musischen Künste das antike Stück “Antigone”. Im März und im April 2014 wird er Marcel Duprés “Kreuzweg” in der Karthäuserkirche aufführen. Ich traf mich mit ihm, um mit ihm über die Kunst der Pantomime zu sprechen.

Was ist Pantomime?
Pantomime ist eine Kunst, die auf den menschlichen Fähigkeiten basiert, mit dem Körper zu reden.

Was bedeutet diese Form des Ausdrucks für Sie?
Ich bin ein wenig stolz, dass ich diese Kunst machen kann. Pantomime ist ein Konglomerat vieler Kunstgattungen. Sie müssen die Stücke selber schreiben. Sie müssen den Körper fast wie ein Tänzer beherrschen. Auf der Bühne agiert man wie eine bewegliche Statue. Die Bühne ist wie der Rahmen eines Bildes. Und schließlich ist man noch Schauspieler.

Wie unterscheidet sich Pantomime vom klassischen Theater?
Die Wurzeln sind gleich. Man entscheidet sich nur, nicht zu reden. Sie wählen Stoffe aus, die leicht zu begreifen und darzustellen sind. Sie agieren ausschließlich mit Gestik und Mimik. Aber eigentlich ist der größte Unterschied, dass die Pantomime ein Autorentheater ist: Wir haben keine Shakespeares, Molieres, Goethes, die für uns schreiben. Wir müssen das selbst tun.

Gibt es in Ihrer Arbeit eine gesellschaftliche oder politisch Ebene?
Eine ausgesprochen menschliche Tiefe. Wenn man den Psychologen glaubt, die sich mit Körpersprache beschäftigen, dann sind 70% unserer Kommunikation nonverbal und 30% verbal. Wenn wir einen Satz formulieren, arbeiten wir mit unserem Gehirn. Die Körpersprache entsteht oft ohne vorherige Formulierung, aus der Tiefe. Wir lernen zwar, uns zu beherrschen, aber auch Politiker, die gelernt haben, sich zu kontrollieren, brechen aus, wenn sie irritiert sind. Sie gestikulieren, können sich nicht beherrschen. Der Mime versucht, sich selbst und die anderen kennenzulernen, und dies als Material rational einzusetzen. Die Beobachtungen der Natur und der Umgebung in sich zu verarbeiten und weiterzugeben – das gehört zu den ältesten zivilisatorischen Bewegungen. Insoweit ist Pantomime auch etwas religiöses.
Sie offenbaren viel von sich.
In einem Psyochodrama könnte ich das nicht kontrollieren. Aber wenn ich Erfahrungen und Charaktereingenschaften bewusst einsetze, kann ich sie für eine bestimmte Aussage anwenden.

Wie haben Sie Ihre eigene Sprache der Pantomime entwickelt?
Eine Biografie über den großen Mimen Jean-Gaspard Deburau aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war für mich eine Offenbarung. In der Tschechoslowakei gab es damals keine Pantomimen. Nach der Kunstgewerbeschule habe ich die Akademie besucht und Sprechschauspiel gelernt. Mein Weg ist aber anders als der der französischen Pantomime, die sich stark um eine Abstraktion bemühen. Das versuche ich zwar auch, ich frage mich jedoch, ob die Art, wie man diese Kunst weitergibt, dazu führt, dass die Kunst so rar und unverstanden ist. Wenn ein Maestro sagt, nur das sei maßgebend, was er für richtig hält, und seinen eigenen als Stil als Maßstab setzt, dann ist das so, als hätte Picasso gesagt, alle müssten malen wie er. Dann hätten wir Chagall und andere Künstler nicht gehabt. Genau das ist in der Pantomime passiert. Heute schämen sich Manche dafür, dass sie Mimen sind. Sie wollen sich abgrenzen. Sie nennen es also Bewegungstheater, sind Clowns. Sie machen wunderbare Pantomime, aber unter einem anderen Namen.

Wie hat sich Ihre Kunst in den letzten Jahren weiterentwickelt?
Ich strebe nicht nach Veränderung. Ich strebe danach, die Sachen besser zu verstehen. In Interviews aus den 60er Jahren finde ich schon meine Gedanken von heute. Ich kann die Grenze für mich selber nur erweitern, wenn ich meinen Körper und meine Fähigkeiten, sich auszudrücken, begreife. Dann kann ich es wagen, weiter zu gehen.
Durch die feste Überzeugung von der Wichtigkeit und Richtigkeit dieser Kunst habe ich keine Angst, Grenzen zu überschreiten. Auf einer Seite werde ich als Klassiker betrachtet. Doch dann bin ich in der Grenzüberschreitung derjenige, der die Pantomime kaputt macht. Es war für mich immer sehr wichtig, nicht stehen zu bleiben.

Erzählen Sie uns etwas von Marcel Duprés Orgelwerk “Der Kreuzweg”.
Ich habe nie gedacht, dass ich einmal die letzte Phase Jesu Christi auf die Bühne bringe. Ich wurde von dem Düsseldorfer Orgelspieler Wolfgang Abendroth gefragt, ob ich mit ihm den Kreuzweg aufführe. Erst habe ich abgesagt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dieses Thema passend darzustellen. Aber als ich die Musik hörte, habe ich festgestellt, dass sie so erzählerisch und so voll Feinheiten und Ausdruck ist, dass ich mich damit beschäftige. Und mich hat überrascht, dass es eine absolut aktuelle Geschichte ist.

Was ist die Aktualität für Sie darin?
Da war ein Mensch, der von der Richtigkeit seines Weges so überzeugt war, dass er bereit war, sich dafür zu opfern. Bei bestimmten Szenen, in denen Jesus gequält wird, sind die Bilder von amerikanischen Soldaten, die Iraker quälen, vor mir aufgetaucht. Solche Bilder helfen, dem Ausdruck Glaubwürdigkeit zu verleihen. Vielen Szenen sind zugleich eine Auseinandersetzung mit dem, was man heute lebt. Wir sind zwar nicht gekreuzigt, werden aber bestraft, für etwas, woran man glaubt.

Was erzählt uns ein antiker Stoff heute noch?
Es ist wie eine Stafette, die durch die Geschichte geht. Manche Dinge haben nur Relevanz in ihrer Zeit. Andere haben Wichtigkeit bis heute. Bei der Antigone habe ich manchmal den Eindruck, dass sie heute geschrieben sein könnte.

Sie haben einen reichen und aufregenden Lebensweg hinter sich. Sie verließen die Tschechoslowakei nach dem Prager Frühling in Richtung Schweden und leben seit 1970 in Deutschland. Welche Erinnerungen sind für Sie heute im Rückblick relevant?
Man ist wie ein Spielball. Man befindet sich in einer Situation, die man anerkennen muss. Man muss sich anpassen und auseinandersetzen können. Trotzdem ist da etwas, was man verfolgt. Es sind dramatische Veränderungen, die ich erlebt habe, aber so ist das Leben. Man muss weitergehen, sich immer wieder selbst finden.
Ich wollte damals nicht emigrieren. Ich war im Ausland und bin mit einem Teil meiner Gruppe nach Schweden gegangen – in der Überzeugung, dass ich zurückkehre. Die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, fiel, weil sich in der Tschechoslowakei eine sogenannte Normalisierung vollzog, die mir Angst machte.
Köln hat mich schon bei meinem ersten Auftritt 1965 angesprochen. Ich kam 1970 ohne jegliche Kontakte hier hin. Es war die Pantomime, die mich über Wasser gehalten hat. Das Gründung des Theater “Kefka” war daher nicht nur ein künstlerischer Schritt, sondern auch eine Rettung des Selbst. Auf einmal habe ich wieder Boden unter den Füßen gefunden. Diese Kunst ist eine Philosophie, die man in sich trägt.

Was bedeutet das geeinte Europa vor diesem Hintergrund für Sie?
Es konnte nichts Besseres passieren. Während des Prager Frühlings wussten die Russen genau, warum sie eingegriffen haben. Und dann standen auf einmal ganze Ideologien auf wackeligen Beinen. Man kann heute von Österreich nach Bratislava reisen, ohne gestoppt zu werden. Die riesigen Hämmer und Sicheln aus Marmor sind verschwunden. Da fragen ich mich, wo die Werte geblieben sind, die damals eine Rolle spielten. Und es ist doch phantastisch, überall in der gleich Währung zu bezahlen oder dort zu studieren, wo man will. Europa sollte also noch näher zusammenrücken.

Wie erleben Sie Deutschland heute?
Deutschland spielt eine enorm große und positive Rolle. Man ist sich der eigenen Geschichte bewusst und man möchte sich von dem, was passiert ist, separieren. Man holt die positiven Aspekte der Nation hervor. Ich erinnere mich an meinen Professor in der Kunstgewerbeschule, der uns 1953 heimlich Deutsch beibrachte. Er hat positiv über die deutsche Kultur gesprochen, wenngleich er seine eigene Meinung über die Nazizeit hatte. Ich finde es also eine glaubwürdige Position, wenn Deutschland den Schulmeister spielt. Man darf nur nicht zu selbstgefällig sein.

Wie halten Sie sich fit?
Mich hält die innere Aufgabe aufrecht: Das gibt dem Körper Kraft. Und der Spaß an der Arbeit. Ich muss natürlich auch trainieren, aber nicht mehr so intensiv wie in den jüngeren Jahren. Die Aufführungen, in denen ich mich nicht schone, sind nicht nur eine künstlerische Aussage, sondern auch Training für mich.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch genommen haben.


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Flucht, Angst, Demütigung

Der lange Weg eines Afghanen nach Köln

Ismail möchte, dass die Menschen erfahren, was er in den letzten Jahren erlebt hat und wie es ihm damit ergangen ist. Sein Bericht über den langen Weg von Afghanistan nach Köln ist hörenswert – wenn auch manchmal erschreckend.

Ismail heißt anders, aber um seine Familie – die im Iran lebt – nicht zu gefährden, nennen wir ihn Ismail und publizieren keine Fotos von ihm. So lange seine Situation hier in Deutschland nicht abschließend geklärt ist und seine Familie durch den langen Arm des iranischen Regimes bedroht ist, möchte Ismail anonym bleiben. Zu seiner Unterstützung hat Islamil seinen Freund Heinz mitgebracht, den er kurz nach seiner Einreise nach Deutschland kennenlernte, und der ihn oft begleitet, um zu vermitteln.

Ismail ist Afghane. Schiitischer Afghane. Wann er geboren ist, weiß er nicht genau, denn in Afghanistan war es zur Zeit seiner Geburt nicht selbstverständlich üblich, jedem Neugeborenen eine Identität zu geben. Er schätzt sich selber auf 26 oder 27 Jahre. Die deutschen Behörden haben seinen Geburtstag auf den 1. Januar gelegt – so ergeht es allen Menschen, die wie Ismail keine Papiere vorlegen können und ihr Geburtsdatum nicht kennen.

Ismail bittet darum, sich setzen zu dürfen. Er kann sich sonst nicht konzentrieren. Seine Hände machen die Nervosität sichtbar, mit der er kämpft. Es fällt ihm schwer, Vertrauen zu einem Unbekannten aufzubauen. Heinz ist eine große Unterstützung für ihn.

Afghanistan – ein Land im Dauerkrieg

Mitte der 1980er Jahre befand sich Afghanistan im Krieg. Eigentlich schon seit Jahrzehnten. Die Sowjetunion versuchte, kommunistische Interessen in einem Land durchzusetzen, das schon ewig ein Spielball kolonialer Politik war. Mit dem Rückzug des sowjetischen Militärs 1989 wurde das Leben nicht besser: Es folgten die Mudschahedin, dann die Taliban. In den folgenden Jahren überzogen sie das Land mit Gewalttaten und Unterdrückung, um ihre islamistische Interpretation von Recht durchzusetzen. Im Herbst 2001 marschierten die USA in Afghanistan ein. Viel sicherer ist es seither am Hindukusch nicht geworden.

Inmitten dieser Welt lebte Ismail mit seinen Eltern und seinem Bruder. Zwei winzige Zimmer. Der Hunger allgegenwärtig. Wenn das Endes des Ramadans näher kam, wenn die Muslime sich eigentlich neu einkleiden, um das Zuckerfest zu feiern, dann hatte die Familie kein Geld für Hosen. Als Ismails Vater starb, entschied sich seine Mutter, mit den Söhnen über die Grenze in den Iran zu gehen, wo bereits die Töchter mit ihren Familien lebten. Die hatten erzählt, im Iran sei vieles besser, denn dort lebten mehr Schiiten – die in Afganistan immer wieder unter Verfolgung zu leiden haben.

Afghanen im iranischen Exil

In den Iran zu gehen, bedeutete für die Familie, keine Rechte mehr zu haben. Offiziell leben eine Million Afghanen im Iran, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Schulen dürfen ihre Kinder nicht besuchen, offiziell zu arbeiten ist den meisten verboten. Aber rechtlos zu sein war für Ismails Familie immer noch besser, als in einem Land zu Leben, das den Frieden nicht mehr kannte.

Ismail war acht oder zehn Jahre alt, als er die Grenze in den Iran überquert. Er erinnert sich, dass die Amerikaner damals noch nicht in Afghanistan einmarschiert waren. Seine Mutter arbeitete überall, wo es ein wenig Geld zu verdienen gab, richtete dabei ihre Gesundheit zugrunde. Ismail selber schlug sich als Schuhputzer durch, um ein wenig zum geringen Einkommen dazu zu verdienen.

Aufbruch in eine ungewisse Zukunkft

Als seine Mutter starb, packte Ismail seine Habseligkeiten zusammen und begab sich in die Hände von Schleusern. Für 3.500 Dollar versprachen sie ihm, ihn nach Griechenland zu bringen. Ungeheuer viel Geld. Sein Bruder half ihm, das Geld zusammenzubringen, und schließlich machte sich Ismail auf die Reise nach Europa. 2.500 Kilometer lagen vor ihm.

Sie waren 16 Afghanen. Die Berge auf der Grenze in die Türkei sind hoch. Sie überwanden sie weitgehend zu Fuß. Manchmal wurden sie ein paar Kilometer in einem Auto mitgenommen, über schmale Schotterpisten. Manchmal mussten sie eiskalte Flüsse durchschwimmen. Die türkische Polizei achtet scharf auf die Flüchtlinge, die sich ihren Weg quer durch ihr Land bahnen.

Istanbul lag auf dem Weg. Doch es war nur ein Zwischenstopp. Bis ans Ufer des Mariza, des Flusses, der die Türkei von Griechenland trennt. Hier erstreckt sich heute ein Grenzzaun, der sich mit seinem Vorbild zwischen den USA und Mexiko messen kann. Als Ismail an das Ufer trat, wurden Schlauchboote aufgeblasen, mit denen sie das Gewässer in ständiger Furcht vor den griechischen Grenzern überquerten. Auf der anderen Seite wartete die Polizei schon auf sie. Doch Ismail konnte fliehen. Quer durch das Land, das für uns in erster Linie ein Urlaubsziel ist.

Europa – das Paradies, das keins ist

Auch Athen war für den jungen Afghanen lediglich ein Durchgangsort. In der Stadt tummeln sich Flüchtlinge aus allen Nationen. Die meisten wollen weiter, nach Italien, Deutschland, Österreich und Schweden. Ismail arbeitete auf dem Land, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Zwiebeln und Oliven ernten. Während andere Arbeiter fünf Euro pro Stunde bekamen, wurden an die Flüchtlinge 20 Euro am Tag ausgezahlt. Fünf davon gingen an einen Vermittler.

Von seinem Bruder erhielt Ismail Geld aus dem Verkauf eines kleinen Grundstücks. Per Überweisung erreichte es ihn in Griechenland. Aber niemand, der auf der Straße lebt, sollte Geld bei sich tragen. Das wusste auch Ismail. Also deponierte er das Geld bei einem Mann, dem in diesen Tagen viele Gleichgesinnte vertrauten: Ein Grieche nahm von zahlreichen Flüchtlingen Geld an – und dann verschwand er spurlos. Ismail kontaktierte erneut seinen Bruder, der ihm noch einmal Geld schickte.

Überfüllung auf einem kleinen Boot

Ein Schleuser versprach Ismail, ihn auf einem Boot mit höchstens 35 Personen nach Italien zu bringen. Als Ismail mit einem Freund zum vereinbarten Treffpunkt an der Küste kam, warteten bereits 70 Menschen. Ismail hörte auf sein Bauchgefühl. Und das riet ihm von der Überfahrt ab. Frustriert kehrte er nach Athen zurück. Später erfuhr er, dass 250 Menschen das Boot bestiegen hatten. Vor der italienischen Küste brach es auseinander. Ein niederländischer Frachter nahm die Menschen auf. 70 Flüchtlinge ertranken bei dem Unglück.

Ein weiterer Schleuser verhalf Ismail zu einem gefälschten bulgarischen Pass, mit dem er ein Flugzeug nach Frankfurt besteigen konnte. Endlich. Nach zehn Monaten Stillstand in Athen. Den Pass sollte er nach der Ankunft in Deutschland sofort in der Toilette entsorgen. Aber Ismail wollte nicht mehr das tun, was ihm die Schleuser vorschrieben. Er behielt den Pass in der Hand, wurde zielsicher aus dem Strom der Einreisenden herausgefischt und gefragt, ob er Bulgarisch spreche. Er sagte sofort, dass er Afghane sei.

Deutschland – wieder ein Land, das ihn nicht haben will

Was folgte, ist die übliche Odyssee der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen. Ständig wechselnde Wohnheime, eines heruntergekommener als das andere. Trier, Bielefeld, Niederrhein. Schließlich Köln. Mülheim. Ein heruntergekommenes Wohnheim. Neben Ismail wohnten Alkoholiker und Drogenabhängige, die nachts um drei bei ihm klopften, ihn zum Feiern überreden wollten. Ismail schlief nicht mehr. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, hatte Depressionen.

Das einzig Gute in dieser Situation war die Strafe, zu der er wegen der Einreise mit seinem gefälschten Pass verurteilt wurde. Er konnte sich entscheiden, ob er eine Haftstrafe antrat oder Sozialstunden abarbeitete. Ismail wollte arbeiten und Menschen kennenlernen. Er wurde zur Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) geschickt, um seine Strafe abzuleisten. Beim SSM wurde er zum ersten Mal seit Jahren als Mensch anerkannt. Die Mitarbeiter und Kollegen waren freundlich zu ihm, hörten ihm zu und nahmen ihn ernst. Er arbeitete, und das tat er gerne. Und er traf auf Heinz, mit dem er sich anfreundete und der ihm seitdem bei vielen organisatorischen Dingen zur Seite gestanden hat.

Lernen und umziehen

Weil Ismail Deutsch lernen wollte, erkundigte sich Heinz nach Möglichkeiten dazu. Die VHS bietet Deutsch-Kurse an. 20 Stunden pro Woche. Im Quartal kostet der Kurs 400 Euro. Kölnpass-Besitzer zahlen die Hälfte. Für Asylbewerber reduzieren sich die Kosten erneut auf die Hälfte. Vier Kurse hat Heinz bereits für Ismail finanziert. Und dessen Deutsch ist weit fortgeschritten. Manchmal muss er nachfragen, um die Fragen richtig zu verstehen. Hin und wieder fehlen ihm Worte, um seine Erlebnisse zu beschreiben – was ein Schlauchboot ist oder als was er im Iran gearbeitet hat.

Seit zwei Monaten lebt er endlich in einem anderen Wohnheim. Auch dabei hat Heinz ihm geholfen. In dem neuen Heim ist es ruhiger. Zum ersten Mal seit langem kann er wieder schlafen. Viel mehr erwartet Ismail im Moment nicht. Denn sein Antrag auf Asyl ist mittlerweile abgelehnt. Sein Rechtsanwalt hat Klage erhoben. Niemand weiß, wann das Gericht über Ismails Zukunft entscheiden wird. Bis dahin muss ein psychologisches Gutachten vorliegen, das seine Situation beschreibt.

Ismail leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sollte er abgeschoben werden, ist mit einer Verschlimmerung zu rechnen. Zumal er nach Afghanistan gebracht würde und nicht in den Iran. In Afghanistan hat er allerdings keinerlei soziale Kontakte. Schließlich war er noch ein Kind, als er das Land zuletzt sah. Die beiden offiziellen Sprachen Afghanistans, Dari und Paschtu, spricht er fast gar nicht mehr. Farsi, die Sprache Irans, ist zu seiner Muttersprache geworden. Doch der Iran kommt als Zielland bei einer Abschiebung nicht in Frage.

Die Sorgen nehmen kein Ende

Ein psychologisches Gutachten kann durchaus 1000 Euro oder mehr kosten – Geld, das Ismail nicht zur Verfügung steht. Heinz versucht nun, in seinem Bekanntenkreis genügend Spenden aufzutreiben. Vor zwei Monaten ist dann auch noch Ismails Bruder an Krebs gestorben. Täglich haben die beiden miteinander telefoniert. Ismail wollte seinen Bruder noch einmal sehen. Aber er hätte niemals in den Iran einreisen können, wo sein Bruder lebte. Absolute Hilflosigkeit gegenüber dem Leiden des eigenen Bruders drückte Ismail immer wieder nieder.

Ismail hat eine lange Flucht hinter sich. Und immer wieder müssen wir uns in aller Deutlichkeit vor Augen führen, wie schlimm das Leben in seiner Heimat sein muss, als Afghane im Iran, dass ein Mensch diesen langen Weg auf sich nimmt, alles hinter sich lässt, was ihm jemals etwas bedeutet hat. Wir müssen uns fragen, was wir in einer solchen Situation tun würden. Hätten wir die Kraft, den Mut, die Ausdauer, diese Strapazen auf uns zu nehmen? Würden wir nicht alles daran setzen, zu überleben und unsere Situation zu verbessern?


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„An den Schnittstellen der Wahrheit faltet man Origami.“

Mein erster Poetry Slam. Ich bin gespannt und ich habe – zugegebenerweise – meine Zweifel. Doch ich stelle schnell fest, dass ich nicht der erste bin, der zum ersten Mal eine solche Veranstaltung besucht. Und dann auch noch in der Südstadt. Im Odeon.
Unter der Titel The Word Is Not Enough findet seit fünf Jahren jeden dritten Sonntag im Monat dieser Slam in der Kwartier-Lateng-Institution Blue Shell statt. Zum Jubiläum ziehen die Veranstalter in das Odeon-Lichtspieltheater um. Und sie füllen den Raum bis zum letzten Platz. Gespannte Erwartung von der ersten bis zur letzten Reihe.
Noch vor Beginn werden Jurymitglieder aus dem Publikum ausgewählt, sieben Stück an der Zahl. Klar: Ein Slam ist eine Art Contest. Doch nicht das gesamte Publikum soll entscheiden, wer der beste Slammer des Abends ist, sondern des vereinfachten Procederes halber, nur ein paar wenige.
Zwei Moderatoren betreten die Bühne, sehen aus wie Zwillinge: Rasierte Köpfe, schwarze Bärte. Der eine – Alexander Bach, der Veranstalter des Slams – gekleidet in einen schwarzen Anzug, der andere – Michael Schönen – in cooler Baggyjeans mit heraushängender Schlüsselkette. Die beiden Herren führen durch den Abend, beginnen mit einer langen Vorrede über die Historie des Slams, versuchen witzig zu sein, drehen sich jedoch eher selbstverliebt um sich selbst. Bach mokiert sich über die Abgründe der deutschen Sprache, darüber dass die Verlage Oetinger und Thienemann ihre Kinderbücher an die Gegenwart anpassen, ohne jedoch auf die medial geführte Diskussion reflektiert einzugehen. Schließlich versteigert er sich in die Bemerkung, er komme aus einer Generation, in der er noch „Negerküsse bis zur Vergasung“ gegessen habe. Autsch.
Der Abend erreicht seinen ersten Tiefpunkt, als Philipp Schiemann als Sondergast außer Konkurrenz eine vulgäres Gedicht zweifelhafter literarischer Qualität zum Besten gibt. Er selber formuliert darin das Motto: „Der erste Text ist ein gottverdammter Jammer.“
Nach diesem ermüdenden Start, untermalt von einem Gedicht Michael Schönes und dem permanent ausfallenden Mikrofon, beginnt endlich der Hauptteil des Abends: Die fünf im Vorfeld ausgewählten Slammer dürfen nacheinander die Bühne betreten und ihre Texte vortragen. Leider schleicht sich der Gedanke ein, dass die Lesenden lediglich Dekoration der auf der Bühne sitzenden Moderatoren sind, die die Texte offenbar kennen und sich daher getrost miteinander unterhalten können. Das zieht die Konzentration von dem angeblichen Hauptact ab.
Drei Männer, zwei Frauen. Florian Cieslik macht den Anfang mit gut gemeinter Sozialkritik in gereimter Form. Ihm folgt auf dem Fuße Jan Pilipp Zimny, der aus den fiktiven Tagebüchern seiner kleinen Schwester vorliest und damit einen ersten Höhepunkt des Abends setzt. Spontan möchte ich mehr von ihm hören, zumal er in einer Mischung aus gut geschriebenen Texten und gesunder Selbstironie eine sehr sehenswerte Comedy-Show abliefert. Nicht nur jetzt, sondern auch später, als die Slammer zur zweiten Runde auf die Bühne treten.
Doch die Überraschung des Abends tritt dann nach vorne: Theresa Hahl. Zuerst scheucht sie die Moderatoren fort, die ihr das Mikro einstellen wollen: „Das kann ich schon selber. Ich sehe zwar aus wie 14, bin aber fast zehn Jahre älter.“ Und dann trägt sie vor. Den ersten nachdenklichen Text dieses Slams, der erste Text der tiefgründig und klug ist. Sie spricht schnell, routiniert, emotional. Erst ganz allmählich entfaltet sich der Humor, der auch ihren Texten inne ist: „Verloren gehen ist immerhin eine Art der Bewegung“ und „An den Schnittstellen der Wahrheit faltet man Origami.“ Viel zu früh macht sie Platz für die anderen Künstler.
Der Name des nächstes Slammers macht mich nachdenklich: Wie kommt jemand auf die Idee, sich das Pseudonym Quichotte zu geben? Doch bevor ich darüber weiter nachdenken kann, trägt er seine durchaus amüsanten Texte vor. Bemerkenswert ist an seinem Auftritt zudem, dass er aus seiner Hosentasche wunderbar zerfledderte Zettel zieht, eingerissen und offenbar schon oft benutzt, von denen er seine Worte vorliest.
Auch Anke Fuchs, die zweite Frau auf der Bühne, beschäftigt sich eher mit Tiefgründigem, Nachdenklichem. Sie spricht leise über Freundschaft und über den Verlust derselben. „Erinnerst du dich noch“ wirft sie immer wieder in den Raum und macht damit Lust auf mehr. Die Jury sieht das anders. Leider.
Zwei Vorrunden gehen ins Land. Und meine Befürchtungen bestätigen sich: Lustige Texte setzen sich auf diesem Slam durch. Die Texte mit tieferer Bedeutung gehen im Rausch des Bedürfnisses, unterhalten zu werden, unter. Im Finale treten Zimny und Cieslik gegeneinander an. Letzterer entscheidet den Abend für sich. Die Entscheidung der Jury und meine persönlichen Vorlieben klaffen weit auseinander.
Das unkonzentrierte Geplänkel der Moderatoren zieht die Veranstaltung unnötig in die Länge. Gerne hätte ich Theresa Hahl noch eine Weile gelauscht. Doch sie ist sowieso die Gewinnerin des Abends, denn ich bin sicher, dass wir von ihr zukünftig noch einiges hören werden.


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Brokeback Chicken für homophobe Jugendliche

Was geschieht, wenn ein schwules Paar einen Jungen adoptiert, der nicht anderthalb sondern 15 Jahre alt ist und sich als homophob entpuppt? Das klingt nach abendfüllendem Problemtheater. Doch das Stück Patrick anderthalb, das im Comedia Theater Premiere feierte, ist glücklicherweise ganz anders. Vielmehr reizt das Gesehene die Lachmuskeln – unter anderem, weil die Vorurteile aller Beteiligten so herrlich überzogen daherkommen, dass sie nun ganz absurd wirken. Und das sollen sie auch.

Die Beteiligten.
Da ist zunächst einmal Göran (Knud Fehlauer), einer der Adoptiv-Väter, ein gnadenlos erfolgloser Erfinder abstruser Technik und gastronomischer Konzepte. In der Eingangsszene badet er – der erwachsene Mann – einem Meer aus Stofftieren, das natürlich für den eineinhalbjährigen Patrick, der für diesen Tag erwartet wird, gedacht ist. (Die Stofftiere sind übrigens durch einen Aufruf bei „Meine Südstadt“ ins Comedia Theater gekommen, und noch immer gehen weitere Spenden ein. Wenn Eure Kinder das wüssten…)

Herr Heimann ist der Schuldige an den entstehenden Verwicklungen, denn er ist krank und betritt die Bühne nie. Aber in seiner Funktion als Sachbearbeiter im Jugendamt war er für den Rechenfehler, der das Alter des Kindes verzehnfachte, verantwortlich. Da Herr Heimann im Bett liegt, ist Patrick, der 15 und nicht 1,5 Jahre alt ist, gezwungen, alleine sein neues Zuhause aufzusuchen.

Als Patrick (Luan Gummich) schließlich in der Wohnungstür erscheint, wird er von Göran für den neuen Postboten gehalten. Dabei ist er alles andere als das. Er ist unter anderem wegen Totschlags und diverser Drogendelikte vorbestraft und entspricht daher in keiner Weise dem Wunschkind des im spießigen bürgerlichen Mainstream lebenden schwulen Paares. Und für den Jugendlichen ist es eine absolute Zumutung, bei zwei Vätern unterzukommen. Schwule sind für ihn der Abschaum der Gesellschaft.

Sven (Manuel Moder), Görans Ehemann, ist Sozialarbeiter. Gerade hat er als Huhn verkleidet im Kinderkrankenhaus Ostereier verteilt und mit dem adoptierten Sohn Patrick ist er sich nur in einem einig: sie gehören nicht zusammen und sollten sich so schnell wie möglich wieder trennen. Leider ist das über die Feiertage nicht möglich. Erst danach kann eine Lösung durch das Jugendamt gefunden werden.

Die Handlung.
Sie zoffen sich, sie hassen sich, sie schlagen sich beinahe. Doch die angespannte Situation führt zwangsläufig auch zu einer Auseinandersetzung miteinander. In manchmal etwas belehrender Form agieren und unterhalten sich die drei miteinander, erzählen sich von ihren Hintergründen, ihren Wünschen und Träumen. Patrick zeigt seine bedürftige und weiche Seite, Sven offenbart die Abgründe seiner Familie und Göran steht die meiste Zeit zwischen den Stühlen, da er es allen recht machen will. Die drei schwingen sich dabei in den Dialogen zu teils humoresken, teils bösartigen Wortspielen wie „Brokeback Chicken“ und anderen Anspielungen auf schwule Filme und Themen auf.

Sven und Patrick verändern sich durch die Auseinandersetzungen deutlich. Sie legen auch das Konzept des Stücks offen: Nur wenn sich die Menschen kennenlernen, sind sie in der Lage, Vorurteile abzubauen. Das gilt für Vorverurteilungen aus allen Richtungen. Und dies führt die Zuschauer zu sich selbst, denn sie werden sich fragen: Wie steht es denn mit meinen Vorurteilen? Das klassische Südstadt-Publikum wird sich fragen lassen müssen, wie es denn um sein Denken gegenüber sozial schlecht gestellten Jugendlichen bestellt ist. Das anvisierte Zielpublikum – Jugendliche ab 13 Jahren – wird wohl eher mit der Frage nach dem Umgang mit Schwulen beschäftigt sein. Beide Gruppen können aus dem Stück lernen – wenn sie sich denn darauf einlassen.

Die Schauspieler und die Regie.
Manuel Moser ist den regelmäßigen Besuchern des Comedia Theaters wohl bekannt. Mit der von ihm bekannten Professionalität spielt er seine Rolle sehr ausdrucksstark und lässt gerade das jüngere Publikum dicht an sich heran. Die von Knud Fehlauer gemimte Figur des Göran bleibt leider relativ blass, doch das mag auch daran liegen, dass er als ausgleichendes Moment selten eine kontroverse Position bezieht, an denen sich seine innere Welt als Reibungspunkt abzeichnet. Luan Gummich als Patrick ist der hervorstechende Part in dieser Inszenierung. Der Schauspielschüler der Schule des Theaters spielt hier seine erste Rolle am Comedia Theater und geht darin so eindrucksvoll durch alle Emotionen, dass seine weitere Karriere mit Spannung zu beobachten sein wird.

Jens Dierkes inszeniert dieses Stück als ein Spiegelbild der Gesellschaft. Indem er Patrick so nah am Denken und Funktionieren 15-jähriger Pubertierender positioniert, holt er die Jugendlichen, an die sich das Stück in erster Linie richtet, in ihrer Lebenswelt ab und führt sie sanft und zugleich zielsicher in die Auseinandersetzung mit sich, der Gesellschaft und speziell der schwulen Subkultur.

Die Umbauten werden optisch und musikalisch für kurze Zwischenspiele genutzt. Besonders erwähnt sei dabei der Tanz der Hähnchen, der alle drei Beteiligten in geradezu absurden Bewegungen die Requisiten über die Bühne schieben lässt. Diese Szenen – und auch viele andere – sind unterlegt mit einem sehr passenden musikalischen Gesamtkonzept, für das Ralf Rotterdam verantwortlich ist. Die schlichte und zugleich sehr ansprechende Ausstattung fußt auf der Arbeit von Stephan Testi.

Der Hintergrund.
Das aus dem Schwedischen übersetzte Stück thematisiert eines der letzten großen Themen im Spannungsbereich der rechtlichen Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare. Zum Zeitpunkt der Uraufführung (1994) war die Adoption durch Lesben und Schwule in Schweden noch lange nicht gesetzlich verankert. Erst seit 2002 ist es ihnen erlaubt, zu adoptieren. So kann dieses Stück als ein Wegbereiter angesehen werden. Warum soll in Deutschland nicht möglich sein, was in Schweden funktioniert?


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Höhenluft und Gorillascheiße

Reise nach Uganda Teil 2

++ Ruwenzori-Gebirge ++ Lage: an der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo ++ Höhe: Bis zu 5100 Meter ++ Ausdehnung: 160 Kilometer Nord-Süd, 50 Kilometer Ost-West ++ Touristische Erschließung: kaum ++ Wege: schlammig ++ Fortbewegung: zu Fuß ++ Steigung: steil! ++

Der 8000-Seelen-Ort Kilembe schmiegt sich in ein überbordend grünes Tal am Fuße des Ruwenzori. Die Straße ist vollständig mit Schlaglöchern gepierct, Kinder bevölkern die Wege und kleinen Häuseransammlungen. Bananenstauden und Bohnenanpflanzungen stellen die Existenzgrundlage dar. Ein kleines Backpackers ist der Ausgangspunkt einer Wanderung, von der im Vorfeld niemand ahnte, wie schwierig sie sein würde. Und das war auch gut so, denn sonst hätte keiner von uns die Strapazen des Aufstiegs auf sich genommen.

Sieben deutsche Touristen, drei ugandische Guides, 24 Träger. Acht Tage Fußmarsch liegen vor uns. 3175 Höhenmeter sollen überwunden werden. Quer durch den Dschungel und über steile Felswege.

Kilembe befindet sich bereits auf 1667 Metern Höhe und der erste Tag bringt einen Aufstieg über 1503 Meter mit sich. Während sich auf den ersten Metern noch Wiesen und Felder mit buntgefleckten Kühen, die sehr an Norddeutschland erinnern, erstrecken, tauchen wir bald in die afrikanische Graslandschaft ein. Papyrus, drei Meter hoch, streckt sich majestätisch der Sonne entgegen. Feuchtigkeit und Wärme lassen jede Pore des Körpers umgehend aktiv werden. Die teure Funktionskleidung verweigert bereits nach einer halben Stunde ihren Dienst, nur die festen Wanderschuhe halten das, was sie versprechen – noch, denn hier sind die Wege trocken.

Bald umfängt uns dichter Dschungel. Riesige Bäume, Farne mit über drei Meter langen Fächern, Lianen, die bis an den Boden reichen und faszinierende Flechten umgeben die Eindringlinge. Mit jedem Schritt wird der Weg steiler, doch der Blick in die von Grüntönen und Vogelgesang vollgestopfte Landschaft rechtfertigt die Anstrengungen. Der Weg ist im unteren Bereich noch gut ausgebaut, die Pflanzen, denen wir beim Wachsen beinahe zusehen können, werden mit Macheten im Zaum gehalten. Erster Nebel wabert gespenstisch auf uns zu und umgibt uns immer wieder vollständig.

In der Bambuszone, die sich wie ein Gürtel um das gesamte Gebirge schlingt, fliehen Schimpansen vor den ungewohnten Lauten der Menschen. Schillernd rote Vögel fliegen über unsere Köpfe. Der Weg erreicht eine Steigung von fast 45°, ohne Anstalten zu machen, sich hin und wieder abzuflachen. Die Träger, die wir hinter uns wussten, überholen uns mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen im Dauerlauf. Wir Europäer brauchen dringend eine Pause. 3000 Meter Höhe. Eine Rast unter knorrigen Bäumen, 15 Meter hoch, die sich als Pflanzen herausstellen, die ich von meinem Balkon kenne: Erika. Auch hier wieder Nebel, oder sind es schon Wolken? Die Stimmung wird gespenstisch. Auf einem kleinen Hügel tauchen plötzlich menschliche Bauwerke auf: Tunnelzelte. Und eine Holzhütte. Unser erstes Camp, das wir glücklich erreichen.

Die Nacht in der Höhe ist unruhig, die Luft zunehmend dünner. Ab 3000 Metern wird das Atmen schwieriger. Und der zweite Tag der Tour wird noch einmal über 400 Meter Aufstieg mit sich bringen. Die Guides raten uns zu Gummistiefeln. Von Stund an werden wir uns nur noch mit diesen fortbewegen. Die Pfade sind feucht, schmale Bäche kreuzen fortwährend unseren Weg. Schlamm vor uns, hinter uns und auch bald in den Stiefeln und an den Hosen, bis zu den Waden. Die Brücken über größere Wasserläufe bestehen nur mehr aus feucht-rutschigen Baumstämmen. Über lange Strecken begleiten uns die Erika-Bäume, dicht bewachsen mit Flechten und von Feuchtigkeit schweren Moosbüscheln. Jeder Blick zurück lässt das ohnehin schon arg beschäftigte Herz schneller schlagen: Berge überall. Nebel steigt aus den Tälern auf, in der Ferne ruhen ausgedehnte Seen, durchteilt von der ugandisch-kongolesischen Grenze.

Unser Weg führt uns an meterhohen Lobelien vorbei und scheint am Rande eines Sumpfes, der den Kessel eines flachen Tales füllt, zu Ende zu sein. Doch die Strünke riesiger Grasbüschel werden zum Steg, der durch teils waghalsige Sprünge gemeistert werden muss. Ein Schritt daneben bedeutet schnell, bis zum Knie im sumpfigen Wasser oder Schlamm zu versinken. Ist der Gummistiefel erst einmal verschwunden, dann gibt der Sumpf ihn nicht gerne zurück. Die Höhe wirkt sich nach und nach deutlich auf Fauna und Flora aus: Hier leben so gut wie keine Insekten mehr. Vögel sind kaum noch zu zu sehen oder hören. Blüten sehen wir selten. Die Landschaft wird mehr und mehr lebensfeindlich.

Das Erreichen des zweiten Camps ist mit dem Glücksgefühl der sicheren Landung nach einem Flug durch einen Sturm vergleichbar. Schuhe und Kleidung wechseln, essen, schlafen. Die Wünsche reduzieren sich auf ein Minimum. In der Nacht im Tunnelzelt unter einem enormen Felsvorsprung ist an Schlaf nicht zu denken. Das Herz rast, die Luft ist dünn, der Regen fällt prasselnd auf die glücklicherweise dichte Plane über meinem Kopf. Die Erschöpfung hat mich voll im Griff.

Tag drei. 442 Höhenmeter. Der Blick nach oben lässt die Muskeln zittern. Lobelien, Felsen, Moose, Wasser, Grasbüschel, Nebel. Feuchtigkeit dringt in alles ein. Jedes Tal, in das uns der Weg hinunter führt, verspricht einen steilen Aufstieg an seinem Ende. Eine weit ausgedehnte Hochebene empfängt uns unfreundlich mit seinen Sümpfen und dem kargen Bewuchs. Zunächst bemerke ich es kaum, doch der Weg scheint sich zu bewegen. Der Blick ist wie in einem Tunnel auf den nächsten Schritt konzentriert. Irgendwo vor mir sind meine Mitstreiter, der Abstand wird größer. Hinter mir beobachtet mich Edson, einer unserer Guides, aufmerksam. Vermutlich hat er es viel früher bemerkt als ich. Meine Schritte werden langsamer, ich nehme die Landschaft kaum noch wahr. Schwindel setzt ein.

Ich habe davon gehört, ich habe mich damit beschäftigt und zugleich habe ich gehofft, dass sie mich nicht erfasst. Die Höhenkrankheit. Wen sie erwischt, das weiß im Vorfeld niemand zu sagen. Und es gibt nur eine Heilmethode dagegen: Runter gehen. Mich irritiert, dass ich auf Schwedisch denke. Körperliche Anstrengung, dünne Luft, das Wissen, es weiter nach oben geht. Immer weiter hoch. Die Beine versagen ihren Dienst. Schlamm bedeckt die Hose bis zum Knie. Eine Talsenke. Die anderen warten, haben besorgte Gesichter. Nur nicht sprechen. Auf Grasbüscheln kann man auch sitzen. Irgendwie.

Die Guides entscheiden. Für mich ist die Wanderung hier zu Ende. Edson wird mich begleiten. Ein Träger eilt nach oben, ruft Mizuki zurück. Er hat meinen Rucksack. Ich gehe runter. Nicht zum letzten Camp zurück, sondern quer durch die Berge zum Camp sechs. Mit jedem Schritt fällt mir das Atmen leichter. Leben kehrt in meinen Geist zurück. Ich erreiche das Camp, bin erschöpft und heilfroh, nicht wieder nach oben zu müssen. Ausruhen, das ist alles, was ich mir wünsche.

Im Camp treffe ich auf Göran und Eva aus Stockholm. Sie haben die gesamte Route bewältigt und steigen schon wieder ab. Ich schließe mich ihnen an. Edson joggt am nächsten Morgen wieder nach oben zu meiner Gruppe. Von den Schweden erfahre ich Details über den Zustand der weiter oben liegenden Camps (große Zelte, hoch gefüllt mit Wasser, in denen Schaumstoffmatratzen schwimmen) den Wegen (steil, vereist, lebensgefährlich) und das Wetter (Schnee am Morgen, Regen tagsüber).

Der nun für mein Wohlbefinden zuständige Guide – Shawn – überredet uns, den Tag mit einem klitzekleinen Aufstieg zu beginnen. Der Matinda-Lookout liegt mit seinen 4000 Metern Höhe fast senkrecht über den Zelten des Camps. Wir nehmen ihn in Angriff. Ein Träger folgt uns, doch als er das mitgenommene Seil an einer steilen Stelle an einem Baum befestigt, höre ich Shawn hinter mir: „I think, they will handle it!“ Göran und Eva sind ein paar Jahre älter als ich. Pensionierte Weltenbummler. Triathleten. Sie meistern den Aufstieg erheblich geschickter als ich (dafür bin ich dann später beim Abstieg schneller). Bei strahlender Sonne steigen wir auf, der Blick von oben verspricht grandios zu werden. An einer Stelle erhebt sich der Felsen vor uns fast senkrecht nach oben. Krüppelige Bäume wachsen im rechten Winkel aus der Felswand. 15 Meter überwinden wir, indem wir durch das Geäst steigen. „Steph, whats up?“ erschallt es von unten. Shawn steht breit grinsend auf einem Ast unter mir. Wolken türmen sich düster vor uns auf. Der Gipfel empfängt uns mit einem Ausblick auf die weiße Feuchtigkeit, die uns auf allen Seiten umgibt. Keine freie Sicht für niemanden.

Der Abstieg zum Backpackers dauert zwei Tage. Jeder Schritt bringt mich der Zivilisation näher. Und der damit verbundenen Dusche. Trockene, saubere Kleidung wird zum größten Wunsch. Erika, Bambus, Dschungel und Graslandschaft fließen an mir vorbei. Der Blick wird klarer, die Sonne ist häufiger zu sehen, ein richtiges Bett steht am Ende der Tour. Ich habe es geschafft. Überlebt, ohne größeren Schaden zu nehmen. Alles was danach kommt, ist ein Spaziergang.

—————————-

Ganz im Südwesten Ugandas erwartet uns nach den Strapazen der Ruwenzori-Wanderung eines der großen Highlights des Landes: wild lebende Berggorillas. Ja, die knuffigen Wesen aus „Gorillas im Nebel“. Tiere, die uns Menschen genetisch sehr nahe sind, riesig an Gestalt, massig im Gewicht und leider vom Aussterben bedroht. 700 Tiere gibt es noch. Alle leben in dem Grenzgebiet zwischen Uganda, Ruanda und Kongo. Manche lassen sich nicht von den menschlichen Grenzziehungen beeindrucken, viele scheuen den Menschen, doch ein paar Gruppen sind habituiert, das heißt, die sind in einem langwierigen Prozess an die Nähe der Menschen gewöhnt. Und das hat nicht nur touristische Hintergründe. Durch den mit dem Gorilla-Tracking verbundenen Tourismus strömt Geld ins Land. Schutzgebiete werden eingerichtet, die Bewohner der Umgebung mit der Wichtigkeit des Schutzes vertraut gemacht und Schulen finanziert, da die Menschen nur mit einer guten Ausbildung die Relevanz von Umwelt- und Tierschutz begreifen können. Hier wie dort.

Der Vormittag beginnt mit einer Aufklärung über das Verhalten im Wald. Wir sind zu acht. Drei aus unserer Reisegruppe, zwei aus Kanada, drei Italien. Keine lauten Gespräche im Wald. Keine hastigen Bewegungen. Kein Blitzlicht. Einem Silberrücken niemals in die Augen blicken. Sieben Meter Abstand einhalten. Gut, näher will ich auch erst mal nicht an die Tiere ran. Aus Respekt. Schließlich hat ein Gorilla etwa das zehnfache an Kraft in seinem Arm – im Vergleich zum Menschen. Bis zu 250 Kilo bringt ein ausgewachsenes Männchen auf die Waage. Da empfinde ich den Abstand von sieben Metern durchaus als angemessen.

Ein Gruppe afrikanischer Ranger geht weit vor uns zum letzten Nachtnest der Berggorillas voraus. Sie stehen in ständigem Funkkontakt zu unseren Rangern, die uns erst einmal über einen großzügig frei gehaltenen Weg führen. Doch schließlich bekommen sie die Mitteilung, wo sich die anvisierte Gorillagruppe aufhält und wir verlassen den luxuriösen Weg zugunsten eines schmalen Trampelpfades quer durch den dichten Dschungel.

Ranken ziehen an meinem T-Shirt, feuchte Luft schlägt mir entgegen, der Weg ist rutschig und die Aufregung steigt, als wir die ersten Spuren der Berggorillas entdecken: In Ermangelung natürlicher Feinde machen die Tiere aus ihrer Anwesenheit keinen Hehl. Wenn sie sich fortbewegen, brechen sie eine breite Schneise in das Gebüsch, fressen die Pflanzen zu beiden Seiten und hinterlassen das, was ihr Verdauungsprozess übrig lässt. Fliegen und Mücken säumen ihren Weg. Und wir folgen ihnen. Vorne die Ranger mit Macheten, hinten ein Ranger mit einem Gewehr auf der Schulter. Angeblich zum Schutz vor anderen wilden Tieren. Die Spuren der Waldelefanten werden wir noch entdecken, und auch mit denen ist nicht zu spaßen, wenn man sie zufällig überrascht.

An einem Hang bleiben unsere Ranger plötzlich stehen. Hier sind sie. Sagen sie. Um uns herum Gestrüpp, zwei bis drei Meter hoch. Ein schmaler Pfad schlängelt sich den Berg hoch. Drei sollen es sein. Wir sehen nichts. Doch dann, mit einem Mal, eine Bewegung. Fünfzehn Meter entfernt. Ein schwarzer behaarter Arm. Dann ein Rücken. Schließlich der Kopf. Etwas gelangweilt blicken uns die dunklen Augen an. Ein Schwarzrücken sitzt im Gebüsch, stopft sich mit Blättern voll. Ein riesiger Schwarm Fliegen umgibt ihn. Wir sind gebannt. Ein zweiter Gorilla bricht durch das Unterholz. Noch ein Schwarzrücken. Und dann der dritte. Ein Silberrücken. Jüngere, aber schon ausgewachsene Männchen sind auf dem Rücken schwarz behaart, erst mit höherem Alter färben sich diese Haare silbrig-weiß. Sie beobachten uns hin und wieder mal, lassen sich aber ansonsten nicht beim Fressen stören.

Nach einer Weile beschließen die Ranger, dass wir den Hang erklimmen werden, denn hinter dem kleinen Bergrücken ist der Rest des 17-köpfigen Clans. Doch gerade als wir losgehen wollen, setzt sich der eine Schwarzrücken in Bewegung. Ich kann nicht schnell genug zur Kamera greifen, da ist er schon bei uns. Wir weichen respektvoll in die Sträucher zurück, um ihn vorbei zu lassen. 15 Zentimeter trennen mich von ihm, als er an uns vorbei jagt. Er holt aus. Ein kleiner Stupser für einen Gorilla. Ein schwerer Schlag auf den Oberschenkel für meine Mitreisende direkt neben mir. Weg ist sie. Wir finden sie zwei Meter hinter uns im Gesträuch wieder. Sie lacht, der Puls rast. Der Gorilla hat es sich dreißig Meter weiter mitten auf dem Pfad gemütlich gemacht. Es muss ein riesiger Spaß für ihn sein, Touristen zu ärgern.

Wir bahnen uns einen Weg an ihm vorbei, schlagen uns durch die Büsche. Wir überqueren den Hügel und steigen in das kleine Tal hinab. Hinter uns die drei vom tierischen Empfangsteam. Vor uns eine freie Fläche, auf der drei, vier, sieben oder mehr Gorillas unterschiedlichen Alters und Geschlechts rasten. Wir staunen, fotografieren wie wild. Freuen uns und sind völlig in den Bann dieser Tiere gezogen. Ein Jungtier tollt einmal quer durch die Talsenke. Tiefe Spuren der Waldelefanten künden von ihrer Anwesenheit vor nicht allzu vielen Stunden genau an dieser Stelle. Hinter uns der Hang, an dem sich einer der Schwarzrücken den Weg zu uns herab bahnt. Helles Klopfen erschallt laut hörbar. Das Jungtier richtet sich auf und schlägt sich spielerisch auf die Brust. Die leise Antwort auf das Brustschlagen des Vaters. Ein, zwei, drei Bäume gehen lautstark am Hang zu Boden. Entweder reizten die frischen grünen Blätter an ihren Spitzen, oder sie standen einfach nur im Weg.

Eine Stunde ist schnell vorbei, dann müssen wir wieder gehen. Noch einmal sehen wir den jungen Schwarzrücken, er schaut uns an, als frage er sich, warum wir eigentlich so interessiert gucken. Schließlich ist er doch immer hier.


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Blick über den Tellerrand

Eine Reise nach Uganda, Teil 1

Seid ihr schon mal in Afrika gewesen? Ich meine damit nicht die nordafrikanischen Staaten, die in den Hochglanzkatalogen der Reiseanbieter standardmäßig zu finden sind. Ich spreche auch nicht von Südafrika, wohin die Touristen seit dem Ende der Apartheid wieder strömen. Ich spreche von Ostafrika. Von der Region, die nur dann in den Medien auftaucht, wenn es wieder einmal zu einer katastrophalen Hungerkatastrophe oder zu anderem menschlichen Leid kommt. Eine Region, über die wir hier in Europa meist so gut wie nichts wissen und auch lieber nicht wissen wollen, denn ansonsten müssten wir viel zu viel von dem hinterfragen, was wir als selbstverständlich ansehen.

Ich war da. 14 Tage im Juni. Die Recherche für ein Buch hat mich dorthin verschlagen. Und am liebsten würde ich sofort meine Koffer wieder packen und zurück fliegen.

Uganda – Eintauchen in eine fremde Kultur

++ Uganda ++ Lage: Ostafrika ++ Kein Zugang zum Meer ++ Im Westen: Die Demokratische Republik Kongo ++ Im Norden: Seit kurzem Südsudan ++ Im Osten: Kenia ++ Im Süden: Ruanda, Tansania und der Victoriasee ++ Quer durch: der Äquator ++ Hauptstadt: Kampala ++ Einwohner: über 30 Millionen, Tendenz: stark steigend ++ Fläche: 240.000 km² (das entspricht der Größe Westdeutschlands vor 1990) ++

Teil I – Armut in überbordender Landschaft

Wenn man sich entscheidet, einen bislang nicht selbst erkundeten Kontinent zu betreten, dann bietet es sich zuweilen an, in einer Gruppe zu reisen, die von einem guten Guide geführt wird. Gleichermaßen empfiehlt es sich jedoch ab und an, den geschützten Rahmen der Gruppe zu verlassen und die neue Welt auf eigene Faust zu erkunden. Beides durfte ich erleben, als ich Anfang Juni zum ersten Mal meine Füße auf afrikanischen Boden setzte. In die Wiege der Menschheit. Ich kam nach Ostafrika.

Am Flughafen von Entebbe nahe Kampala schlägt mir die feuchte Hitze entgegen. Doch mit ihr dringt auch ein ganz spezifischer Geruch in meine Nase, der schwer zu beschreiben ist: Ich schmecke Sand und Wärme, da ist ein Hauch von Abenteuer, der Duft Tausender Blüten und eine Ahnung vom penetranten Gestank verbrennender Kohle und schmorendem Plastik. Burschikose Damen nehmen mir am Zoll 50 Dollar für das Visum ab und schießen mit einer billigen Webcam Fotos von mir. Sogar meine Fingerabdrücke werden gescannt. Ein modernes Land, diesen Eindruck will man offenbar vermitteln. Doch direkt nach diesen Formalitäten endet die Modernität auch schon und wird mir erst 14 Tage später bei der Ausreise wieder begegnen.

Uganda ist feucht. Immer und überall. Egal ob man sich in den Niederungen rund um die Hauptstadt oder im Gebirge auf 5000 Meter Höhe aufhält, egal ob es 40° oder 0° Celsius sind – die Luft ist von Feuchtigkeit geschwängert. Immer.

Der erste Abend in einer Lodge nahe des Flughafens ist geprägt von dem starken Drang, sich aus einem Klischee zu entfernen: Da sitzen wir weißen Europäer am fein gedeckten Tisch auf einer Terrasse mit Ausblick auf einen Pool und lassen uns von dunkelhäutigen Angestellten bedienen. Die Verhältnisse sind wie in der Kolonialzeit. Das ist der Deal, auf den ich mich eingelassen habe. Doch im Laufe der Tage werde ich mich daran gewöhnen, denn es ist ab jetzt überall das gleiche Bild: Europäer, Australier, Amerikaner kommen als Touristen in dieses von Armut und Korruption gebeutelte Land, bringen Devisen mit sich und erwarten dafür, dass die Einheimischen sie entsprechend bedienen. Da ist es gut zu wissen, dass eine Übernachtung in der Lodge dem Monatseinkommen der Angestellten entspricht.

Der folgende Tag führt uns stundenlang über sandige Pisten. Entlang der Hauptstraße quer durch das Land, die bei uns noch nicht einmal den Namen Landstraße verdient hätte, reihen sich wie Perlen kleine Dörfer aneinander. Die Menschen sind draußen, sie arbeiten und leben vor den Hütten und in den schmalen Gassen. Voluminöse Sessel und bunte Kleider, grüne Bananen und rohes Fleisch, geschmuggelte Kohle und Särge für Kinder – alles wird selbstverständlich unter freiem Himmel angeboten. Und immer wieder erstrecken sich dazwischen weite Steppen, durchsetzt mit Papyrussümpfen, Teeplantagen, Rinderherden und ganzen Schulklassen in rosa Uniformen. Meine Augen und Ohren, die Nase und der Fotoapparat kleben am Fenster oder strecken sich gleich aus diesem heraus.

Das Beeindruckende in Uganda scheint mir die Gelassenheit der Menschen zu sein: Sie sind zwar einerseits entsetzlich arm, doch zugleich strahlen sie eine unfassbare Zufriedenheit aus, von der wir ständig gehetzten Mitteleuropäer uns ruhig eine dicke Scheibe abschneiden könnten. Glück bekommt auf dieser Reise eine neue Definition.

Ja, die Ugander sind arm. Auf dem Land – und die meisten leben nicht in Städten – definiert sich Glück durch eine große Anzahl von Kindern. Sieben an der Zahl bringt eine durchschnittliche ugandische Frau auf die Welt. 13% von ihnen sterben jedoch bereits vor ihrem fünften Geburtstag. Über die Hälfte der Bevölkerung ist heute unter 15 Jahre alt – das bedeutet, dass die Straßen voll sind mit Kindern und Jugendlichen. Welch ein dramatischer Unterschied zu Deutschland!

Die holprige Straße windet sich von der 80.000-Seelen-Stadt Kasese langsam den Berg hinauf und endet mit seinen vielen Schlaglöchern in Kilembe. Hier leben 8.000 Menschen am Fuße des gewaltigen Ruwenzori-Gebirges. Ein paar wenige frei stehende Holzhäuser gibt es, doch die haben schon bessere Zeiten gesehen. Ein Kupfermine gab es, doch der Anteil an dem wertvollen Erz im Gebirge ist nicht hoch genug, damit sich der Abbau noch lohnt. Lediglich die verrotteten Industrieanlagen, die weithin sichtbaren Stolleneingänge, die bis ins 20 Kilometer entferne Kongo quer durch das Gebirge reichen sollen und die giftigen Abraumhalden, auf denen heute Mais angebaut wird, zeugen von dieser Zeit.

Die meisten Menschen leben in einer Art Reihenhaus – Reihenhütten eher – dicht an dicht aufgereiht, mit schmalen Wegen und kleinen Feldern dazwischen, auf denen Bananen und Mais angebaut werden. Die Kinder kommen sofort auf mich zu gerannt, als ich es wage, mit einem schwarzen Begleiter durch den Ort zu gehen. Kleine Hände schieben sich in meine Hand. Mzungu rufen sie sich zu. Weißer Mann. Und sie probieren ihr Englisch aus, immer und immer wieder. Jedes Mal, wenn ich auf die Frage „How are you?“ mit „Fine, thank you, How are you?“ antworte, laufen sie laut lachend weg. Ich muss ein großer Spaß für sie sein. Fast wie Fernsehen.

Seit die Minen im Ort geschlossen sind, gibt es so gut wie keine Arbeit für die Männer mehr. Sie verdingen sich als Träger für die Touristen, die auf die idiotische Idee kommen, in den Ruwenzori hoch zu steigen. Was die anderen den Tag über tun, habe ich bis zum Abreisetag nicht in Erfahrung bringen können. Wer zu etwas Geld gekommen ist, kann sich ein kleines Stück Land auf den Hügeln rechts und links des Ortes kaufen, eine eigene Hütte darauf bauen und das Feld, das meist eine Steigung von mehr als 45° hat, bestellen. Mais, Bohnen, Bananen, Süßkartoffeln, Maniok – das sind die einträglichsten Produkte. Wer selber genug hat, kann auf dem regionalen Markt ein wenig davon verkaufen. Viel ist das jedoch meistens nicht. Die Menschen in Kasese leben von der Hand in den Mund.

Mit Shawn, einem einheimischen Guide, den ich auf einer Tour ins Gebirge kennenlerne, und Victoria besteige ich den Hügel rechter Hand. Die Wege sind keine Wege. Es sind lediglich schmale Pfade, die sich in einer Steigung nach oben winden, die ich mir bis dato nicht zugetraut hatte. Zwischen Avocadobäumen und Orchideen hindurch erkämpfe ich mir Meter für Meter nach oben. „Steff, what´s up?“, höre ich immer wieder den lachenden Ruf meines Führers, der diesen Weg ohne einen einzigen Schweißtropfen auf der Stirn zurücklegt. Mein T-Shirt ist nach zehn Minuten komplett nass. Wen wundert es da, dass hier oben eine Frau lebt, die nach der Geburt ihres dritten Kindes im Alter von 25 Jahren den Hügel nicht mehr verlassen hat. Heute ist sie 75.

Neben ihrem Haus sitzt eine Gruppe Kinder im Gras. Zwischen drei und acht Jahren sind sie alt. Sie gucken neugierig, als Shawn an ihnen vorbei geht, sie lachen, als Victoria sie grüßt, zwei von ihnen laufen laut weinend weg, als ich den Hof überquere. „They have never seen a man with a skin desease like you have“, spottet Shawn, als die Kids mir kurz darauf im Sicherheitsabstand von mindestens zwei Metern folgen. Ich muss auf sie wirken wie ein Geist. Wie einer der unter ihnen wohnenden Ahnen, von deren Existenz man hier überzeugt ist. Sobald ich stehen bleibe und ihnen den Kopf zuwende, rennen sie mit einem lauten Schrei weg, nur um ein paar Sekunden später wieder hinter mir zu stehen.

Shawn ist es auch, der mich und Ally, einen anderen Guide, an einem Abend in den schrottreifen Van bugsiert. „I´ll meet some friends in Kasese, playing pool billard, drinking beer. Let´s go!“ Noch ist es hell, doch ich habe gelernt, dass die Dunkelheit schlagartig kommt. Das ist die Nähe zum Äquator. Da spreche ich nur ein paar Minuten mit Shawn – der war wirklich hübsch, ich hätte meine Mutter für ihn verkauft – und plötzlich ist es draußen finster. Und finster bedeutet in Uganda nun mal stockdunkel. Man sieht nichts mehr! Wir fahren durch ein paar kleine Orte, überholen dabei reihenweise BodaBodas. Das sind kleine Motorräder mit einer etwas verlängerten Sitzfläche, auf denen bis zu fünf (!) Ugander hintereinander Platz finden. Frauen sitzen grundsätzlich seitlich. Alternativ kann man auf einem BodaBoda auch zwei Ugander mit einem hohen Stapel voller Eierpaletten, ein anderes BodaBoda quer oder Verletzte transportieren.

Die Stadt. Kasese. Auch hier gibt es in erster Linie Sandpisten. Die Gebäude sind niedrig. Hier wie auf allen Straßen des Landes sind unendlich viele Menschen unterwegs. Selbst in den abgelegendsten Gegenden habe ich doch immer noch Menschen gesehen, die Holz, Bananen oder Zuckerrohr transportierten. An allen Ecken der Stadt wird gegrillt, ganze Kompanien Hähnchen werden hier öffentlich kross gebraten. Selbstverständlich kommt der Grillmeister auf die Terrasse der Pool-Billard-Bar, bringt das Essen und hält mir eine Schüssel, eine Karaffe Wasser und ein Handtuch entgegen. Nur mit sauberen Fingern essen, klar. Die Identifikation des Essens fällt mir eher schwer, aber ich habe mich daran gewöhnt, dass man in Uganda einfach irgendeinen Teil des Geflügels auf den Teller bekommt, wenn man Hähnchen bestellt. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für andere Fleischsorten. Apropos Geflügel: Da die Müllabfuhr in Kasese und anderen ugandischen Städten ein Manko ist, toleriert man hier die Anwesenheit von Marabus – riesigen, etwas hässlichen Vögeln, die mit einer Flügelspannweite von mehr als drei Metern alles Aas der Stadt verputzen. Dafür sitzen sie dann in mehr oder weniger großen Gruppen auf allen Bäumen herum. Vor der Pool-Billard-Bar sind es 15 Tiere, die in der sich schnell über die Stadt senkenden Dunkelheit auf einem kleinen Baum übernachten. Ein faszinierender Anblick.

Die Rückfahrt durch die Dunkelheit Afrikas ist eine besondere Erwähnung wert: Rund um uns herum ist kein Licht zu sehen. Nur die Scheinwerfer des Vans geben einen vagen Eindruck von dem, was da auf uns zufliegt. Die Fenster haben wir herunter gelassen. Ich sitze auf dem Beifahrersitz, halte den linken Arm aus dem Fenster, der Fahrtwind zerrt an des Haaren, Ally hat sich bereit erklärt, wenig zu trinken und dafür zu fahren. Eine pechschwarze Hand reicht mir von hinten eine volle Flasche Whisky nach vorne. So rasen wir durch die ugandische Nacht. Wenn Muttern davon in diesem Moment wüsste, sie hätte sich vermutlich freiwillig verkaufen lassen.

Doch auch den problematischen Fragen will ich nicht aus dem Weg gehen. Womit war Unganda doch gleich im Frühsommer so oft in den Medien vertreten? Ach ja: Das Parlament plante die Einführung eines neuen Gesetzes, das die Todesstrafe für überführte Homosexuelle nach sich ziehen sollte. Das Gesetz wurde, vermutlich nach internationalen Protesten, nicht in die Kammer eingebracht, ist also lediglich verschoben, nicht aufgehoben. Meine Nachfragen zu diesem Thema brachten sehr unterschiedliche Positionen zutage: Die einen behaupteten schlicht, die Homosexualität gehöre nicht in ihre Kultur, die anderen konnten von den Bars in Kampala erzählen, die von Schwulen frequentiert wurden. Auch Bemerkungen wie „Some of the guys travel to Kampala and do homosexuality“ habe ich vernommen, doch das klang in meinen Ohren eher nach Prostitution.

Uganda ist auf einem schwierigen Weg, sich von Europa als Repräsentant ehemaliger Kolonialmächte abzuwenden und selbst zu finden, sich dabei aber auch nicht zu isolieren. Ein Mann hat sich schon vor langer Zeit mit sympathischen Gesten in dem Land eingekauft und wird daher allen politische Unbilden zum Trotz hoch verehrt: Gaddafi. Nicht nur in der Region Kasese, wo er den Palast des vor einigen Jahren erst wieder aus dem Exil zurückgekehrten Königs von seinem Geld bauen ließ, sondern auch in vielen anderen Regionen hat er seine Spuren hinterlassen. Über den ganzen afrikanischen Kontinent hat sich Gaddafi Sympathien erkauft. In Ländern, an denen Europa viele Jahre nicht das geringste Interesse hatte. Das prägt langfristig. Und das ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.


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Welche Südstadt wollen wir?

Wie soll die Südstadt sein? Heute, in einem Jahr, in zehn Jahren. Wollen wir den intellektuell-künstlerischen Stadtteil der 1980er Jahre zurück, von dem viele der Kölner Initiativen ausgingen? Oder wollen wir das ruhige, gesattelte Leben ausbauen, das in den letzten Jahren entstanden ist?

Ein schizophrener Traum
Die Basis der Traumvorstellung von der Südstadt sind die Menschen, die hier leben, die hier bleiben wollen. Sie haben aus dem Stadtteil das gemacht, was wir heute vorfinden. Viele waren an den Friedensprotesten und der Anti-Atom-Bewegung vor 30 Jahren aktiv und initiativ beteiligt. Sie haben die Straßen mit Leben gefüllt, Feste gefeiert und Musik gespielt. Auf den Straßen und in den Häusern.
Neu-Südstädter sollen natürlich möglichst so sein wie wir. Also: alternativ denkende, aggressionsfreie und intellektuell beflissene Menschen. Junge Familien wünschen wir uns und einen moderaten Anteil an Migranten, die sich möglichst nicht in autarke Gruppen zurückziehen, sondern die Straßen und Cafés mit ihrer Anwesenheit zieren.
Gleichzeitig gibt es diejenigen, die wir hier nicht haben wollen. Man denke an rechtspopulistisch aufgeheizte Menschen oder zu Geld gekommene Neureiche. Ganz zu schweigen von in Arbeit untergehenden Medienschaffenden, die nur noch zum Schlafen in den Süden kommen.
Darüber hinaus wollen wir natürlich bezahlbare Mieten, schöne Parks, saubere Fußwege und einen Stellplatz für unser Auto. Viele Cafés und Kneipen mit sympathischen Menschen sollen uns das Gefühl von Geborgenheit geben, kleine Theater und Kinos uns kulturell auf der Höhe halten, günstige internationale Restaurants unsere Gaumen auf das Feinste verwöhnen.

Der Sog in den Süden
Doch es gibt da ein klitzekleines Problem: Diesen Traum träumen viele. Da die Südstadt diesen zumindest in Teilen repräsentiert, zieht sie auch viele Menschen an. Mehr als Kalk, Porz und Zollstock. Die Folge: Die Zeiten, in denen man bei der Berechnung der Warmmiete noch mit zehn Euro pro Quadratmeter rechnen konnte, sind längst passé. Wer sich höhere Mieten nicht leisten kann muss wohl oder übel weg ziehen oder kommt gar nicht erst rein. Kann man es den Vermietern verübeln, dass sie Geld verdienen wollen? Die Nachfrage bestimmt den Preis. Und den kann sich nur noch ein ausgewähltes Publikum leisten. Studenten? Man sucht sie mit der Lupe! Künstler? Soll ich lachen? Familien mit mehr als einem Kind? Es gibt sie – vereinzelt – noch …

Die Südstadt ist schon lange auf dem Weg in eine spießige Wohlfühlgesellschaft der Besserverdienenden. In der sich die Boutiquen und Feinkostläden demnächst aneinander reihen werden. Wo neu Zugezogene kritisch beäugt werden, um abzugleichen, ob sie aus dem gleichen Stall kommen wie man selber.

Fakten vs. Traum
Fakt ist: Wenn ich von meinem Balkon auf die Straße schaue, dann stehen da mittlerweile regelmäßig zwei Jaguars, diverse SUVs und andere schick in der Sonne glänzende fahrbare Untersätze.
Und Fakt ist: Wenn die Häuser unserer Stadt so aussehen sollen, wie heute, dann kostet das Geld. Viel Geld. Die Fassadensanierung eines Altbaus? 200.000 Euro müsst ihr dafür etwa investieren. Das geht nicht ohne eine Erhöhung der Mieten.
Fakt ist aber auch: In den 1980ern ging es in der Südstadt bestimmt nicht so ruhig zu wie heute. Die Mainzer Straße zum Beispiel – heute die Vorzeigestraße für elegantes Wohnen im historischen Altbau – beherbergte einen gut frequentierten Straßenstrich. Auch auf der Bonner Straße war Prostitution nichts Ungewöhnliches. Und: Wo viele Studenten, Künstler und Kneipen waren, da war das Leben interessant. Da kamen die Menschen aus dem Umland und den anderen Stadtteilen gerne, um an dem Leben hier Teil zu haben. Wer will mir da erzählen, dass es ruhig zuging?

Mein persönlicher Traum
Autofreiheit! Mich nerven diese lauten Dinger, die jede Straße und jeden Gehweg zuparken. Sie sind eine tägliche Beleidigung für meine Augen. Argumente für ein Auto in der Stadt mag es geben. Ich brauche keins und ich will keins!
Mehr Grün! Ich will frei atmen können, ich will Lebendiges sehen und ich will Vögel um mich herum zwitschern. Mehr Bäume für ein besseres Klima und eine höhere Lebensqualität!
Mehr Kultur! Musik gehört auch auf die Straße und nicht nur in Konzertsäle. Kunst darf sich nicht verstecken, sondern muss die Menschen erreichen!
Günstige Wohnungen! Nur wenn die Mieten langfristig bezahlbar sind, können sich die Menschen frei entscheiden, hier zu leben. Solange die Vermieter primär an ihren Gewinn denken, sind sie es, die die Auswahl darüber treffen, wer sich das Leben hier leisten kann und wer nicht.

Auf in die Fremde
Welche Südstadt wollen wir also? Die pulsierdene, aufgeregte der Vergangenheit oder die gemäßigt, ruhige dieser Jahre? Die Entscheidung fällt schwer. Denn das, was sich wohl viele Südstädter wünschen ist ein schizophrener Traum, den unmöglich zu erreichen scheint. Die Gentrifizierung ist im Gange. Schon seit langem. Wir alle sind ein Teil davon. Die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung zu unterbrechen, besteht in einem Massenexodus. Kalk, Mülheim und Deutz entwickeln sich seit einiger Zeit zu spannenden Stadtteilen. Dort pulsiert das Leben.


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Ach, wie war es doch ehedem so trist und grau

Der Frühling ist da, die Sonnenstrahlen wärmen die vor den Cafés sitzenden Menschen, und mein Weg führt mich wie jeden Tag zunächst in den Friedenspark, der nun endlich seinem Namen gerecht wird. Denn hier ist es durch und durch friedlich. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie es war, als die Straßen von parkenden Autos gesäumt waren. Die Autos sind üppigen Blumenrabatten gewichen, haben Platz für Schatten spendende Bäume gemacht und den Kindern neuen Spielraum geschaffen.

Der riesige Rosengarten im Friedenspark ist zum Treffpunkt für die alten Damen aus dem nahe gelegenen Altenheim geworden, die hier in ihren Rollstühlen und mit ihren Gehilfen die bequemen Bänke mit Leben füllen. Auf dem Bauspielplatz sind schon wieder neue Hütten entstanden, in denen die Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Das Lachen schallt weit herüber und erfüllt die Luft mit seiner ungestörten Fröhlichkeit.

Doch es zieht mich zum Rhein. Ich muss das Wasser sehen. Also durchquere ich die Gänge zwischen den hohen Stauden, um mich in der Nähe der Südbrücke auf eine Bank zum Lesen zu setzen. Seit die Straße unter die Erde gelegt wurde und durch eine herrschaftlich angelegte Baumallee ersetzt wurde, haben die Menschen die Promenade am tradionsreichen Gewässer zurück erobert. Sie sind nicht länger durch die ehemals so stark befahrene Rheinuferstraße vom Wasser abgeschlossen.

Die kleinen Cafés laden zum Kaffee und zum Mokka ein, sie verführen mit ihren Düften aus dem Orient und dem Okzident. Die ganze Südstadt ist zu einem internationalen Gemenge an Speisen und Getränken geworden. Doch bevor ich mich setzen kann, zieht eine kleine Schaustellertruppe aus Rumänien meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie führen musikalisch untermalte Szenen aus ihrer Heimat auf, die auch ohne Worte zu verstehen sind. Wie ein glückseliger Stich geht mir die Freude durch den Magen. Endlich hat die Stadt wieder so viel Geld zur Verfügung, um selbst unbekannten Gruppen die künstlerische Existenz in den Straßen zu ermöglichen.

Die Unruhe treibt mich wieder zurück ins Viertel. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Hungrig durchstreife ich die grünen Straßenzüge um den Ubierring, bis ich meinen Namen höre. Da sitzen sie. Vor dem Studentenwohnheim. Es war ja klar, dass das Frühstück hier nicht vor 10 Uhr eingenommen wird. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie zu dieser Jahreszeit schon den großen Tisch unter die Bäume vor ihrem Haus stellen. 15 Leute sitzen hier an einer langen Tafel, wo früher einmal Blech, Abgase und lautes Hupen die Umgebung verunstalteten. Ich setze mich dazu, die Sprachen fliegen wild über den Tisch. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Duftender Kaffee, frisches Obst, exotisches Gebäck. Wer sich an den Tisch setzt, bringt mit, was er zu Hause hatte. Politische Fragen werden wild gestikulierend erörtert. Doch wieder treibt es mich weiter. Wie weit ist man am Chlodwigplatz? Ich will es wissen.

Also spaziere ich den Ubierring hinunter. Hier ist nun in beinahe jedem Haus ein kleines Geschäft angesiedelt. Buchhandlungen und Pralinen, Gemüsehändler und Restaurants, Antiquare und Designerklamotten. Ich gehe am ehemaligen Rautenstrauch-Joest-Museum vorbei, aus dem nun die ohrenschmausenden Töne vieler Instrumente heraus schallen.

Am Chlodwigplatz angekommen stelle ich fest, dass die KVB tatsächlich fertig geworden ist. Die Zugänge zu der neuen U-Bahn-Station sind gestrichen. Auf dem freien Platz vor der Severinstorburg ergießen sich Blumen in blau, rot und gelb über die nach alten Bilder rekonstruierten Rabatten. Hier ist die Fressgasse der Südstadt. Während von der einen Seite indische Gewürze hinüber wehen und vor mir die exotisch anmutenden Fische für die Mittagsmenüs vorbereitet werden, bereitet sich unter der Torburg ein ukrainisches Streicherquartett auf den Tag vor.

Es hat dem Stadtteil gut getan, sich für den Erhalt der Fachhochschule einzusetzen. Wie trostlos war es doch in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, als die Studenten von den hohen Mieten vertrieben waren. Wie leer und langweilig ist es da gewesen. Davon kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Die FH ist zu einem internationalen Anziehungspunkt geworden. Von überall her kommen die Studenten, um sich hier am Wissen zu ergötzen. Und welch eine Bereicherung stellen sie für uns dar.

Ein lauter Knall lässt mich zusammen zucken. Verschlafen reibe ich mir die Augen. Lautes Geschrei schallt von der Straße herauf. Wieder ein Unfall. Der Schnee auf den Straßen. Autos hupen. Der Geruch von Abgasen streift meine Nase. Mühsam quäle ich mich aus dem Bett, mache mir einen Kaffee und versuche mich zu erinnern, was ich geträumt habe. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich, dass es ein schöner Traum war und lächele. Wer noch träumen kann, der kann über die kleinen Fehler der Mensch hinwegsehen und danach streben, die Träume zur Wirklichkeit werden zu lassen.


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Was die Kölner von den Schwaben lernen können

Stuttgart 21 versus Köln 17 !

In Stuttgart soll also ein Bahnhof unter die Erde gelegt werden. Spontan muss ich milde lächeln. Ein Bahnhof… unter die Erde… Wir Kölner legen ja auch gerne alles unter die Erde, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Eine ganze Stadtbahn-Linie zum Beispiel – von der bislang keiner so recht weiß, wofür wir sie eigentlich benötigen.

In Stuttgart soll also ein Bahnhof unter die Erde gelegt werden. Spontan muss ich milde lächeln. Ein Bahnhof… unter die Erde… Wir Kölner legen ja auch gerne alles unter die Erde, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Eine ganze Stadtbahn-Linie zum Beispiel – von der bislang keiner so recht weiß, wofür wir sie eigentlich benötigen.

Ja, werdet ihr sagen, ist der denn total bescheuert? Vor ein paar Wochen hat er einen Artikel über die U-Bahn-Station am Chlodwigplatz geschrieben, und jetzt das? Vollkommen richtig.

Die neue Haltestelle, so wie sie dort unter der Erde entsteht, ist eine architektonische Meisterleistung. Niemand wollte sie haben, aber man muss das sportlich sehen: Diese Bahnstation ist wie ein Swimmingpool im Garten. Gebraucht wird auch der nicht, aber es ist doch ganz nett, wenn er da ist. Und wenn man den Pool schon einmal hat, dann soll er doch bitte auch etwas her machen. Dass man die neuen Tunnel ebenfalls unter Wasser setzen kann, das wissen wir ja mittlerweile. Im Zweifelsfall legen wir sogar ein ganzes Archiv unter die Erde, um es danach zu fluten. Darüber muss man sich nicht gleich aufregen.

Nun gut. In Stuttgart wird viel Geld ausgegeben. Jetzt muss ich lachen. Ja, ja, das können wir auch. Bei uns ist es dann auch ganz ähnlich wie bei den Schwaben: Die Kosten steigen immer weiter. Und noch etwas haben wir gemein: Die Baukosten werden sowohl aus öffentlichen Töpfen (Bund, Land, Kommune) als auch durch Unternehmen (Deutsche Bahn, KVB) bestritten. Dass die Kassen der Kommunen, der Länder und natürlich auch des Bundes mittlerweile nur noch gähnende Leere aufweisen, das scheint in Köln jedoch niemanden so recht zu stören – in Stuttgart hingegen schon. Komisch, nicht wahr?

Spätestens wenn wir endlich alle Theater der Stadt geschlossen haben (abgesehen natürlich vom neuen Schauspielhaus, in dem dann jedoch aus Kostengründen nicht mehr Dostojewskis Idiot, sondern Hugs Elende gespielt werden), werden wir wohl feststellen, dass es viel mehr Spaß macht, abends für fünf Euro eine Runde Bahn zu fahren, als das Hirn mit anstrengender Kultur zu belasten.

Ok, abgehakt. Aber was ist mit den Bäumen? Im Stuttgarter Schlossgarten sollen ein paar von ihnen fallen. Das können wir ebenfalls: stattliche 300 Bäume sind es im Ländle, aber immerhin auch 150 bei uns an der Rheinuferstraße. Sie sollen für den sechsspurigen Ausbau weichen, weil den Planern irgendwann eingefallen ist, dass die neue Bahn diese unwichtige Straße am Rhein queren muss.

Jetzt kommen wir zur Kalkulation der Bauzeit. Während in Stuttgart der Bau kurzerhand vorgezogen wurde. Dadurch erhoffte man sich, fälschlicherweise, geringere Proteste. In Köln verschiebt er sich hingegen immer weiter nach hinten. Vielleicht inspiriert das ja die Sportfreunde Stiller oder BAP oder die Bläck Fööss demnächst mal zu diesem Lied:

3 und 2 und 1 und
2010, 2012, 2015, 2017
ja so stimmen wir alle ein.
Mit dem Herz in der Hose
und der Leidenschaft am Rhein
werden wir bald pleite sein.

Nun aber die entscheidende Frage: Warum gehen in Stuttgart so viele Menschen auf die Straße? Das ist doch klar: Denen fehlt ganz einfach der rheinische Sinn für Humor: „Et kütt wie et kütt“ ist eben etwas anderes als „Schaffe, schaffe, Bänle baue“. Was können wir denn schon tun? Dank unseres Klüngels kommt es doch sowieso anders, als wir es uns wünschen. Gegen solch ein undurchsichtiges Geflecht von Interessen können wir schließlich nichts unternehmen. So denken wir, schimpfen kurz darüber – und wenden uns ab.

Die Gründe für unser Verhalten sind einfach: Wir haben durch unsere progressiven Taten (Kreuzchen bei Barbara Moritz) längst für politische Konstellationen gesorgt, die alles Menschenmögliche in Bewegung setzen. Außerdem ist der Job zur Zeit so anstrengend. Und seit die Kleine in den Kindergarten gekommen ist, braucht sie besondere Aufmerksamkeit. Zudem geht’s Muttern ja auch gerade nicht so gut…

Das ist bei den Schwaben schließlich etwas ganz anderes: Die haben bestimmt keine Probleme mit den Jobs. Mercedes geht’s sicher besser als Ford. Schwäbische Kinder sind glücklicher. Und die Mütter gesund … Wenn das bei uns so wäre, ja, dann würden wir etwas tun. Ganz bestimmt. Schließlich ist gerade die Südstadt bekannt dafür, dass sie immer deutlich ihre Meinung sagt.

So setzen wir uns schnell in ein beschauliches Café, trinken einen großen Latte mit wenig Macchiato. Dort angekommen regen wir uns ein bisschen darüber auf, dass die Jugendlichen auf dem Eierplätzchen während der Herbstferien nachts Krach machen. Aber wirklich mal etwas auf die Beine stellen? Wie die Stuttgarter endlich unserem Protest Ausdruck verleihen – das haben wir nicht nötig. Ansonsten müssten wir uns ja eingestehen, politikverdrossen zu sein. Außerdem ist es doch so schön, zu reden, sich über „die da oben“ zu echauffieren und lieber den Politikern die Schuld an allem zu geben.

So sind wir Südstädter heute nun mal: Unkritisch, still und ein bisschen faul.


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Thilo Sarrazin in der Südstadt

Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?

Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?

Wie sagte doch der Vizechef der türkischen Zentralbank, Ibrahim Turhan, angesichts der Sarrazinschen Integrationsunfähigkeit arabischer und türkischer Einwanderer so schön: „Allah möge ihm mehr Verstand geben.“ Das war 2009. In der Zwischenzeit hat Thilo Sarrazin ein Buch geschrieben, das sich die gesamte linksalternative Fraktion nun umsatzsteigernd zulegt, weil sie in ihrem kritischen Denken erst einmal nicht glaubt, was die Presse schreibt. Prinzipiell ein guter Ansatz. In der Praxis nicht förderlich, denn so wird die Publikation von Thesen honoriert, die mich schwer schlucken lassen. Da kommt ein Mann daher und will unter anderem junge Akademikerinnen für die Geburt eines Kindes finanziell belohnen, unter der Maßgabe, dass sie den richtigen Genpool haben.

Autsch!

Das will ich nicht schlucken, das kommt ja direkt wieder nach oben. Man stelle sich das doch bitte einmal bildlich vor: Der Lebensborn wird wieder zum Leben erweckt. Blasse, ganz in grau gekleidete Herren schleichen ab sofort durch die tageslichtlosen Betonhallen der Kölner Universität und halten Ausschau nach reinrassigen deutschen Mädels. Sie pirschen sich von hinten an die kop(ul)ierenden Germanistinnen heran, hauchen ihnen Fragen nach der Herkunft ihrer Großeltern in den Nacken. Und wenn die Proseminarbesucherinnen schreckensstarr und angstverschwitzt die richtige Antwort gegeben haben (katholisch, in direkter Linie von Karl dem Großen abstammend, niemals Schweinkram mit einem Muslim oder gar Juden treibend), dann greift der vom Vater Staat bezahlte Fragenhaucher blitzschnell in die klitzekleine Handtasche und tauscht die 28 Tabletten zählende Pillenpackung gegen einen 1000-Euro-Schein aus. Und schon ist er wieder weg, lässt die verwirrt auf den Kopierer starrende, angehende Belletristiklektorin mit ihrem Schicksal zurück.

Und schon haben wir den Salat: Ab sofort wird unsere Umwelt übervölkert mit blassgesichtigen, in einem endlosen Reigen kopulierenden und sich reproduzierenden Germanistinnen. Eine herrliche Vorstellung vom Weltuntergang.

Aber das machen wir jetzt damit? Leider, leider müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.

Den Sarrazin und seine Thesen verdammen wir (ich zumindest, ob ihr das tut, sei euch selbst überlassen. Aber dieses „wir“ hört sich irgendwie kollektiver an…). Und zwar in Bausch und Bogen. Na gut, wir geben 22 Euro und 99 für das Buch aus (hier ist das „wir“ mal nicht auf mich bezogen), weil wir es ja genau wissen wollen. Blöderweise stolpern wir dann auf dem Weg von der Buchhandlung zum türkischen Gemüsehändler über diesen etwas streng riechenden minderjährigen Rumänen, der seit einer Woche vor dem Bankautomaten am Chlodwigplatz sitzt.

Da wir genau wissen, wie die rumänische Mafia arbeitet – der Vater parkt mit seinem Benz um die Ecke, nimmt seinem Sohn das Geld ab und hebt die Sozialhilfe, die jetzt nicht mehr Sozialhilfe und auch nicht Hart IV, sondern ganz banal ALG II heißt, vom Konto ab um danach seine Frau mit dem Säugling aus Stoff und die aggressiv bettelnde Tochter in der Schildergasse aufzulesen – blicken wir den Jungen verärgert an und geben ihm: Nichts. Dieses Verhalten wollen wir nicht auch noch unterstützen. Können die nicht woanders die Straße verunstalten?

Schnell steigen wir in die Bahn, um der Situation zu entkommen. In die 16. Einmal Mülheim und zurück. Nein, so weit brauchen wir gar nicht fahren. Denn schon auf halbem Weg steigen diese beiden etwas düster ausschauenden jungen Männer ein, die leise in einer slawischen Sprache miteinander reden. Da wir kein Wort verstehen, bleibt uns nur die Beobachtung und die Phantasie, um uns ein Urteil zu bilden. Der Kleidung, den Gesichtszügen und den Frisuren zufolge sind es wohl Russen. Oder Ukrainer. Wer kann die schon unterscheiden? Russlanddeutsche? Spätaussiedler? War da nicht mal dieser Skandal um Joschka Fischer und scheinbar willkürlich verteilte Visa? Dann sind die beiden bestimmt nicht legal hier. Wie die wohl ihren Lebensunterhalt verdienen? Unwillkürlich wird der Griff um die Tasche ein kleines Bisschen fester. Ist das Handy noch da? Und das Portmonee?

Und schon ist es passiert. Wir alle sind Sarrazin. Bei uns soll kein rumänischer Junge betteln. In der Innenstadt, ja, da ist das in Ordnung. Aber nicht bei uns am Chlodwigplatz. Außerdem wäre alles viel einfacher, wenn die beiden in der Bahn einfach Deutsch lernen würde. Dann wüssten wir, dass sie sich nur über ihre juristischen Hausarbeiten unterhalten.

Wir brauchen Thilo Sarrazin, um dem Bösen, das in uns wohnt, ein Gesicht zu geben. Wir brauchen die Bilder von den sich ununterbrochen reproduzierenden Muslimen, um nicht auf die Gewalt unseres ureigenen bürgerlichen Antlitzes zu blicken.

Doch das ist fatal. Was wären wir ohne die Migranten? Wer würde die Arbeit machen, die wir heute nicht mehr selber machen wollen? Wer wird demnächst unsere Renten bezahlen, wenn sie Berechnungen der Demografen stimmen? Wir brauchen die Ausländer bei uns im Viertel, wenn wir nicht mittags bei Currywurst und Bratkartoffeln fett werden wollen. Wir brauchen sie auch, weil uns jede Begegnung mit einer rumänischen Frau im weiten Glockenrock vor Augen hält, dass die Menschen unterschiedlich sind. Dass es keinen Einheitsmenschen gibt und hoffentlich auch nie geben wird.

Für die Generation meiner Oma waren der Franzose der Erzfeind. Das ist gerade einmal 70 Jahre her. Heute ist ein gutes Essen ohne Merlot und Baguette kaum vorstellbar.

Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren unter anderem durch die hoch entwickelte Fähigkeit zur Kommunikation. Nutzen wir sie. Fragen wir die Rumänen und Russen, die Somalier und Türken, wie sie leben. Welche Träume sie haben. Und akzeptieren wir sie als eine Bereicherung unserer Gesellschaft, anstatt Angst vor ihnen zu haben und uns von Bundesbankern irrwitzige Ideen in den Kopf setzen zu lassen.


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Die letzte Woche der Ferien in der Südstadt

Ihr habt es ja so gewollt. Die Blumen habe ich gegossen, den Schlüssel wieder ordentlich unter der Fußmatte verstaut und Che und Ludwig, die beiden Urlaubs-Gast-Meersauen gefüttert. Dann konnte ich in den Zug nach Düsseldorf steigen. Das ist diese Fleck oben auf der Karte, neben Neuss.

Ihr habt es ja so gewollt. Die Blumen habe ich gegossen, den Schlüssel wieder ordentlich unter der Fußmatte verstaut und Che und Ludwig, die beiden Urlaubs-Gast-Meersauen gefüttert. Dann konnte ich in den Zug nach Düsseldorf steigen. Das ist diese Fleck oben auf der Karte, neben Neuss.

In Düsseldorf ist es wider Erwarten ganz schön. Zumindest, wenn man sich am Stadtrand aufhält. Ja, ich gebe zu, ich war nicht direkt Düsseldorf. Es war ein bisschen daneben.
Aber jetzt mal der Reihe nach.

Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja: Ihr seid weggefahren, ich bin hier geblieben. Eure Balkonblumen versorge ich regelmäßig mit Wasser. Hin und wieder spreche ich mit ihnen. Das tue ich in erster Linie, um eure nette Nachbarin zu irritieren, die nicht weiß, dass ihr weggefahren seid. Mein Stimme kann ich gut verstellen. Von etwas unterhalb der Brüstung, versteckt, damit die Nachbarin mich nicht sehen kann, spreche ich mit den Blumen. Wundert euch also nicht, wenn die Nachbarin euch ab sofort für verrückt hält.

Die Schweine versorge ich noch ganz brav. Allerdings füttere ich sie jetzt nicht mehr dreimal am Tag. Morgens kriegen die einmal einen Berg Salat, Gurken und Möhren in den Käfig gekippt. Das soll reichen. Den Auslauf auf dem Balkon gestatte ich ihnen jetzt auch nicht mehr. Die beiden Viecher haben meine Pflanzen kahl gefressen. Innerhalb von zehn Minuten. Euren Pflanzen geht’s gut, meine sind tot. Schade.

Abends ist immer noch niemand da, der sich um mich kümmert. Außer den Sauen natürlich. Die Straßen der Stadt sind ausgestorben und ich habe mich auf Youtube-Videos verlegt. Am besten gefallen mir zur Zeit die Amateuraufnahmen von Katastrophen in Urlaubsregionen. Sintflutartige Regenfälle in Spanien, Erdbeben in der Türkei, Flugzeugabstürze in Indien. Brennende Hügelketten in Griechenland sind auch nicht zu unterschätzen. Und dazwischen laufen immer diese verzweifelten Touristen mit der fürchterlichen Panik in den Augen herum. So kann ich endlich komplett abschalten.

Dass ihr mittlerweile richtig im Urlaub angekommen seid, fällt mir in erster Linien daran auf, dass ihr offenbar festgestellt habt, dass das Surfen mit dem iPhone im Ausland Geld kostet – nachdem ihr seelenruhig den Spam aus eurem gmx-Postfach gelöscht habt. Geschieht euch recht! Facebook nun wie ausgestorben. Deshalb sehe ich mich gezwungen, auf die blauen Seiten zu gehen. Was soll ich denn sonst tun? Bücher lesen kann ich nicht mehr, seit ich das Buch mit einem Strand und den Strand mit einem Tsunami in Verbindung bringe.

Auf den blauen Seiten ist also glücklicherweise mehr los als bei facebook oder dem Kölner Süden, der eher wirkt wie eine unerforschte Insel bei Second Life. Hier sind die User zumeist nicht an die Schulferien gebunden. So passiert, was passieren muss: Ein nettes Gesicht. Eine Nachricht. Ein Wort gibt dem anderen die Hand.

Sympathiebekundungen wechseln die Seite. Und eh ich mich´s versehen, sitze ich im Zug nach Düsseldorf, lasse den Dom, Leverkusen, Benrath und schließlich sogar den Düsseldorfer Hauptbahnhof mit den durchnummerierten Prostituierten hinter mir. Was soll ich in der Südstadt, wenn außer mir niemand da ist?

Ein Flugzeug startet nur wenige Meter neben mir, als ich den Zug verlasse. Ich komme mir etwas fremd vor zwischen den großen Koffern. Ob in dem Flieger wohl schon die ersten Panikattacken ausgebrochen sind? Sind diese gelben Atemmasken schon aus ihren Verankerungen gestürzt? Ist das Rauchverbot schon aufgehoben, weil ja sowieso alles egal ist? Oder hat der Chefstuart das Luftschiff noch am Boden über die Notrutsche verlassen? Das Flugzeug taucht in den nahe gelegenen Wald ein und verschwindet. Ich hingegen tauche in den weißen Transporter ein und lasse mich zu dem kleinen Häuschen mit den Hunden, Ziegen und Hühnern entführen. Das Bad im angrenzenden See erfrischt die Sinne, das Lächeln neben mir verjüngt die Seele. Unter der Kastanie auf wackeligen Holzstühlen Kaffee trinken. Den Geruch des frisch gepflügten Feldes in der Nase. Die raue Zunge einer Ziege auf der Handfläche.

Das ist wie Urlaub. Wenn ich die Augen schließe verwandelt sich die Kastanie über mir in eine Akazie. Und im Grunde ist es viel besser als im Urlaub. Denn hier brennt nichts, nicht einmal die Haut. Hier bebt nichts, zumindest nichts, was nicht beben soll. Regen ist in dieser Region normal und die Bumsbomber nach Bangkok sind mindestens einen Kilometer entfernt.

Wie? … Euer Strand liegt genau in der Einflugschneise des Flughafens? … Was? … Die Landebahn beginnt direkt hinter der Schotterpiste? … Die Flieger gehen bis auf 30 Meter runter, wenn sie über euch sind? … Was? … Ich kann gerade nichts verstehen, bei euch ist es so laut … Na, da bleibe ich doch lieber in den Fängen Düsseldorfs. Schade nur, dass ich wieder zurück fahren muss. Die Schweine …

Aber den Pflanzen geht’s gut, keine Sorge. Und eure Nachbarin wird euch sofort etwas komisch angucken, wenn ihr zurück seid.


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Summer in the city

Ich will hier raus! Das Wetter ist schön, die Biergärten locken und Zeit habe ich auch. Ein kühles Alster auf einer groben Holzbank. Möglichkeiten finden sich dafür genügend. Doch es gibt einen elementaren Haken an der Idee: Es ist niemand da, der dieses Vergnügen mit mir teilt!

Ich will hier raus! Das Wetter ist schön, die Biergärten locken und Zeit habe ich auch. Ein kühles Alster auf einer groben Holzbank. Möglichkeiten finden sich dafür genügend. Doch es gibt einen elementaren Haken an der Idee: Es ist niemand da, der dieses Vergnügen mit mir teilt!

Die Anrufe bei einigen Freunden führen zu Frustration. Da erreiche ich beim ersten den Anrufbeantworter, beim nächsten ein langes, nicht enden wollendes Freizeichen. Also die Handtelefonnummern. Auch hier lange Freizeichen und viele automatisch generierte Antworten. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, seine Handtelefonanrufbeantworter nicht selber zu besprechen? „Dies ist der automatische Anrufbeantworter von…“ Pause „… Peter Lustig …“ Pause „Leider kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegen nehmen.“

Doch dann erreiche ich tatsächlich eine Freundin. Sie hört sich so an wie immer (das ist eine der Tücken der Technik: Sie gaukelt uns Nähe vor!) Wäre da nicht dieser leicht entspannte Ton in der Stimme. Und das leise Plätschern der Brandung im Hintergrund. Wie? Meeresrauschen in Köln? Ach, Gott, sie ist doch auf Ibiza. Das hatte ich vergessen. Nein, nein, es war nichts besonderes, ich wollte nur mal kurz… Ja klar, kann ich mich um die Blumen kümmern, dafür habe ich den Schlüssel ja… Nein, ich fahre nicht mehr weg… Ich wollte… Wie? Ihr bleibt dieses Jahr vier Wochen?… Nein, nein, es ist alles in Ordnung… Gute Erholung noch.

Einsam sitze ich auf meinem kleinen Balkon. Nur die beiden Meerschweine Che und Ludwig, die ich für 14 Tage zur (Urlaubs-)Pflege aufgenommen habe, quieken hin und wieder. Es ist nicht einmal mehr Bier im Kühlschrank. Kann ich mit den Birkenstockschuhen auf die Straße? Naja, es ist ja sowieso keiner in der Stadt, der mich erkennen würde. Schlüssel, Geld, Handtelefon (falls sich doch noch jemand meldet!), Treppe runter, einmal um die Ecke. Und dann er finale Schock: „Wir machen Urlaub“! Mein Kiosk macht Urlaub! Können die sich nicht um eine Vertretung kümmern? Glücklicherweise ist der nächste Kiosk in Köln nie weit. Das ist mir zwar wegen der Schuhe etwas peinlich, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern.

Zehn Minuten später bin ich zurück. Doch das Bier schmeckt so ohne Gesellschaft etwas fade. Die Schweine saufen nur Wasser und kauen an ihren Möhren. In meiner Verzweiflung begehe ich einen fatalen Fehler: Ich poste meine verzwickte Situation auf facebook! Dass das keine gute Idee war, wird mir eine halbe Stunde und ein Bier später klar: Meine Freunde antworten mir mit den Bildern ihres augenblicklichen Aufenthaltsortes. Strand, Meer, Urwald, Berge – eine dreiste Sammlung bunter Urlaubsimpressionen, die ich nicht sehen will. Haben die im Urlaub nichts anderes zu tun, als mit ihren schicken smartphones in Internetportalen zu surfen? Na wenigstens werden sie dann diesen Text lesen.

Der letzte Schritt, den ich wage, ist der auf die blauen Seiten. Angeblich ist gayromeo ja das schwule Einwohnermeldeamt. Doch kurz nachdem ich dort mein Begehr („Wer geht mit mir ein Bier trinken?“) veröffentlicht habe, bekomme ich so eindeutig zweideutige Antworten, zugeschickt dass ich dringend ein drittes Bier brauche, um den Abend zu überstehen.

Ihr Lieben! Kommt doch endlich zurück in die Stadt. Was kann es denn da draußen so Interessantes geben, im Ausland, auf den Bergen und im Meer? Ich bin doch auch hier. Kann mich eigentlich irgendjemand hören?

Im nächsten Jahr fahre ich in der Hochsaison weg. Es ist mir egal, wenn die Flüge teurer sind und ich eigentlich unabhängig von den Schulferien bin. Oder ich suche mir neue Freunde. Keine Lehrer und Erzieher, keine Eltern mit schulpflichtigen Kindern. Dann muss ich mir keine Gedanken darüber machen, ob mich der Sommer zum Alkoholiker macht!


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„Ich komme aus Sülz und ich ben ene Kraat“

Jean Jülich ist einer der letzten Edelweißpiraten. 1929 wurde er geboren und ist in Sülz aufgewachsen. Ihm ging die Hitlerjugend mit ihren langweiligen Liedern und dem Gehorsam auf die Nerven. Er hat lieber mit seinen Freunden eigene Lieder gesungen. Die Konflikte mit dem NS-Regime waren vorprogrammiert. Er hat sich schließlich, als der Krieg nach Köln kam, im zerbombten Ehrenfeld versteckt, hat Juden und anderen Verfolgten Unterschlupf geboten, bis er schließlich doch verhaftet wurde. Er saß mehrere Jahre in Haft. Für seine Taten wurde er in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Bis heute muss er sich jedoch immer noch gegen den Vorwurf wehren, eigentlich nur ein Kleinkrimineller gewesen zu sein. Am 11. Juli findet im Friedenspark in der Südstadt das 6. Edelweißpiratenfestival statt. Aus diesem Anlass hat sich unser Redakteur Stephan Martin Meyer mit Jean Jülich zum Gespräch getroffen.

Herr Jülich, die historische Auseinandersetzung mit den Edelweißpiraten setzte erst sehr spät ein. Und lange wurden Sie noch offiziell als Krimineller bezeichnet. Was hat das in Ihnen ausgelöst?

Die Gruppe ist nach dem Krieg zusammengeblieben. Wir haben uns als erste deutsche Jugendgruppe zusammengeschlossen, nannten uns aber nicht mehr Edelweißpiraten sondern Fahrtenbund. Denn die Aufgabe der Edelweißpiraten war erledigt. In der zweiten Hälfte der 40er Jahre waren wir jedoch in erster Linie damit beschäftigt, etwas zu Essen zu finden. Wir hatten keine Zeit, uns mit den ehemaligen Gestapo-Leuten zu beschäftigen. Währenddessen haben sich die Gestapo-Leute und die in der Justiz gegenseitig Persilscheine ausgestellt.
Ende der 70er Jahre schloss sich in Ehrenfeld dann schließlich eine Gruppe zusammen, die sich wieder die Edelweißpiraten nannten. Die Städtischen Bühnen brachten ein Stück auf die Bühne, die Bläck Fööss sangen ein Lied über die Edelweißpiraten. Plötzlich waren wir wieder Thema. Trotzdem wurden wir weiterhin als Kriminelle angesehen.
Dr. Dette vom Amt für Wiedergutmachung, der den Verfolgten des NS-Regimes eigentlich helfen sollte, hat mich eines Tages zu sich gebeten. Er wollte wissen, warum ein Kleinkrimineller von Yad Vashem geehrt worden war. Er erzählte mir von einem Jungen, der von der HJ verprügelt worden war. Den hat er gefragt, warum der denn nicht zu den Edelweißpiraten gegangen sei. Der Junge hat geantwortet: Das sind doch alles Kraat“. Ich habe dem Dette daraufhin gesagt: „Sie haben einen Doktortitel, Sie waren auf dem Gymnasium und haben studiert. Dazu hatten Sie Geld, und das braune Umfeld musste stimmen. Vermutlich kommen Sie aus Lindenthal. Ich komme aus Sülz und ich ben ene Kraat.“ Damit war das Gespräch beendet.
Die Herren Wisskirchen und Daners vom Geschichtsverein Pulheim haben ein Buch herausgebracht: „Was in Brauweiler geschah: Die NS-Zeit und ihre Folgen in der Rheinischen Provinzial-Arbeitsanstalt.“ Eine an sich gute Dokumentation. Bloß bei der Vorstellung des Buches im ELDE-Haus waren wir nicht eingeladen. Wir sind dennoch hingegangen und haben dann gefragt, wo denn die Edelweißpiraten seien. Ja, so war die Antwort, das sind doch Kriminelle. Wir haben die Herren zur Rede gestellt und es ist eine Diskussion entstanden, bei der die richtig Zoppes gekriegt haben. Die sind dann voller Wut nach Hause gefahren.
Danach haben die den Volmer, den ehemaliger Kripochef, der Mitglied in ihrem Verein war, hochgewienert und ein paar Tage später stand in der Rundschau: „Ehrung in Yad Vashem erschlichen. Ex-Kripo-Chef hat neue Beweise.“ Es hieß weiter, Yad Vashem würde die Sache prüfen. Eine Journalistin vom WDR hat bei Yad Vashem angerufen und gefragt, was daran sei. Die wussten nichts davon. Die Frechheit, die Gemeinheit zu besitzen, zu schreiben, Yad Vashem würde die Sache prüfen – das ist eine Unverschämtheit. Ich musste einen Prozess führen, er musste widerrufen und musste die Kosten des Verfahrens tragen. Wir haben uns nicht klein kriegen lassen sondern weiter den Mund aufgemacht.
Seit wir uns Ende 70er Jahren wieder als Edelweißpiraten geoutet haben, wurden wir von den Betonköpfen und der Justiz diskriminiert. Mir wurden einmal in der Justiz Fotos von der Hinrichtung meiner Freunde in Ehrenfeld vorgelegt und ich sollte sagen, wer wer sei. Aber ich konnte das nicht, ich habe sie nicht erkannt. Da haben dir mir vorgeworfen, ich würde meine Freunde nicht wieder erkennen. Später habe ich dann erfahren, dass es sich um Fotos einer ganz anderen Hinrichtung handelte. Die wollten mich aufs Glatteis führen.

Beim Lesen der Texte über Sie stolpere ich immer wieder über die einerseits fröhliche Gruppe der Edelweißpiraten, die sich am Wochenende im Siebengebirge traf, um gemeinsam Lieder zu singen…


Wir waren ja im Jungvolk, das ging nicht anders. Wenn man auf den Jahn-Wiesen mit 20.000 Jungs steht und singt, das ging durch und durch. Einer meiner Freunde, der bei der HJ war, wurde dann mein Jungscharführer. Der hat mich zusammen gestaucht. Das war mir alles zu blöd. Samstags mussten wir immer marschieren. Da war ich ab sofort samstags immer krank. Ich konnte wunderschön simulieren. Die HJ-Führer haben mich dann eines Tages ins HJ-Heim gebeten, damit ich für sie unsere Lieder singe, denn die kannten ja auch nur diese Nazi-Lieder. Die wollten unsere romantischen Lieder hören. Und ich muss sagen, die haben mich nicht verpfiffen.

War es nicht schwer, sich gegen die HJ zu stellen? Sie waren ja doch auch äußerlich anders als die breite Masse. Wie schwer oder leicht war es damals, sich zu den Edelweißpiraten zu bekennen?

Aufgetakelt waren wir nur am Wochenende. Die anderen in meinem Alter waren ständig nach Geschlechtern getrennt: Durch den BDM und die HJ, die Mädchen- und Jungenklassen. Wir hingegen hatten Mädchen dabei. Wir hatten unsere Freundinnen dabei, so wie die Jugendlichen heute auch.

Wie sind Sie mit der HJ umgegangen?

Es gab da immer wieder Kloppereien. Aber die Pimpfe waren uns nicht gewachsen. Das waren ja meist so ganz weiche Germanisten. Wir kamen aus der Arbeiterschicht und waren viel kräftiger als die. Aber das lief damals auf Augenhöhe und uns hat keiner verpfiffen.

Waren Ihnen die Konsequenzen bewusst? Sie hätten ohne Weiteres zu Tode kommen können, wie Ihre Freunde. Kamen die Hinrichtungen für Sie überraschend?

Als ich im Gefängnis war, saßen meine Freunde rechts und links von mir in anderen Zellen. Wir konnten uns über die Fenster unterhalten. Und eines Tages haben die beiden keine Handtücher bekommen, ich aber schon. Da haben wir uns gedacht, die beiden kämen ins KZ und mein Fall wäre abgeschlossen. Erst ein paar Tage später habe ich dann erfahren, dass sie an dem gleichen Tag in Ehrenfeld erhängt worden waren.

Begegnen Sie noch heute Menschen aus der Zeit, die damals auf der nationalsozialistischen Seite standen?

Nein. Ich war mit 15 Jahren der jüngste aus der Gruppe, der verhaftet wurde. Die jüngeren waren nicht so ekelhaft wie die Gestapo-Leute. Und die anderen waren etwa acht oder zehn Jahre älter als ich. Die sind inzwischen ausgestorben. Der Kütter, das war der grausamste. Ein Sadist. Sein Scherge, das war der Högen. Der hatte später, nach dem Krieg, in Weiden einen Obst- und Gemüsehandel. Das habe ich aber nicht gewusst. Zum Glück habe ich das nicht gewusst. Denn wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich mir noch eine Anklage wegen Körperverletzung eingehandelt. Und auch dieser Dr. Dette lebt wohl nicht mehr.

Wie ist es gewesen, nach Kriegsende nach Köln zurück zu kommen und dort auf die gleichen Menschen zu treffen, die ein paar Monate zuvor noch stramme Nazis waren?

Die strammen Nazis hatten sich nach Kriegsende erst mal für eine Weile aus Köln verdrückt. Wir haben uns zum Fahrtenbund zusammengeschlossen und eine der ersten Jugendgruppen aufgebaut. Wir waren ja als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Doch die Umstände waren so schwer, dass wir zunächst damit beschäftigt waren, etwas zu Essen zu besorgen.

Sind Sie jemals von einem ihrer ehemaligen Peiniger persönlich angesprochen und um Verzeihung gebeten worden?

Nein. Ich bin einmal in einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung gewesen. Da war ein ehemaliger Bannführer, er hatte also einige zigtausende Jungen befehligt. Der hat vor allen gesagt, dass es falsch war, was er gemacht hat. Aber mir gegenüber hat sich nie jemand persönlich entschuldigt. Schuld waren immer die anderen.

Sie waren in Ehrenfeld während der NS-Zeit. Haben Sie im Nachhinein von dem Überfall auf den damals 8-jährigen Hans Abraham Ochs in der Südstadt etwas mitbekommen? Sie waren ja in etwa gleich alt.

1936 ist mein Vater verhaftet worden, auf sehr brutale Weise. Meine Mutter war sehr arm. Ich bin dann in den Klapperhof gekommen. Zu den katholischen Nonnen. Die haben uns immer wieder in den Waschräumen windelweich geschlagen. Da habe ich von den anderen Dingen nichts mitbekommen.

Die Kölner, insbesondere die Südstädter, sehen sich wahnsinnig gerne in der Tradition des Widerstandes. Was ist dran an dem Bild? Waren die Proteste in Köln massiver als in anderen Städten?

Unsere rheinische Mentalität ist ja nicht preußisch. Stramm stehen und Gehorsam, das kennen wir nicht. Das hat eine lange Tradition. Die richtig strammen Nazis kamen aus Schlesien, der Mark Brandenburg, Niedersachsen, über all da her, wo einst die Grafen das Sagen hatten und wo es viele Leibeigene gegeben hatte. Die waren auf Gehorsam gedrillt. Hier gab es den Nährboden für den „heiß geliebten Führer“ nicht.
Adenauer hat sich ebenfalls immer auf das katholische Köln bezogen. Aber wir hatten hier auch viele überzeugte Nazis, die von ihrem Recht, Nazis zu sein, Gebrauch machten. Alle anderen waren Duckmäuser und Feiglinge. Die Kommunisten, die sich 1933 mit der SA geprügelt haben, waren als erste weg. Sie sind alle verhaftet worden oder konnten fliehen. Ich habe meinen Vater einmal gefragt: „Warum bist du denn nicht auch getürmt, so wie die anderen?“ Er hat mir geantwortet: „Ein paar mussten doch bleiben. Es mussten doch ein paar Mann darauf achten, dass alles in der Reihe ist.“ Obwohl er wusste, was ihm passieren konnte. Zehn Jahre hat er Zuchthaus gesessen, das ist schlimm. Er war damals erst 35 Jahre alt. Und das Zuchthaus ist das, was der Name sagt. Ansonsten waren keine anderen mehr da. Es war alles gleich geschaltet. Und dieser Massenhysterie konnte man sich nicht erwehren. Nur die rote Frontkämpferfront war nicht ohne.

Es wächst die erste Generation heran, die keine Großeltern mehr hat, die ihnen aus der NS-Zeit erzählen können. Wie erleben Sie die Jugendlichen heute im Umgang mit dem Nationalsozialismus?

Ich habe mir gesagt, wenn du 80 bist, dann hörst du auf. Aber ich war in so vielen Schulklassen. Und ich habe die Schüler immer gebeten, mir zu schreiben, wie die Begegnung mit mir war. Ich habe wunderschöne Briefe von den Jugendlichen bekommen. Nur Komplimente. Ich hatte die Gitarre immer dabei und habe die alten Lieder gespielt. Das hat ihnen gefallen. Aufgeschlossen sind die immer gewesen.

Am 11. Juli ist das sechste Edelweißpiratenfestival. Was werden Sie dort tun?

Ich wollte eigentlich gar nichts mehr machen. Aber wie das so ist…. Rolli Brings hat ein Lied über mich geschrieben. Und ich werde zum Ehrenbürger ernannt. Zudem spielt dort eine junge Gruppe, ein Streichquartett. Eine von denen hat mich gebeten, bei ihnen zu sein. Ich werde das Festival dann eröffnen.

Die ehemalige Hochburg der Protestbewegung wird zu einem Schickimicki-Stadtteil. Teure Wohnungen werden gebaut. Dicke Autos beherrschen die Straßen. Wie erleben Sie den Wandel in der Südstadt?

Ich bin als Kind in Sülz groß geworden. Da wohnte das Gesocks. Da waren auch die Kommunistenhochburgen. Heute sind da wundervolle schicke Wohngegenden. Und ich finde das auch gut, wenn das Lebensniveau allgemein etwas angehoben wird. Jetzt öffnet sich das alles. Das lockert sich langsam. Diese Entwicklung erhoffe ich mir das auch für das Severinsviertel. Wenn die erstmal mit ihrer U-Bahn fertig sind …


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„René Böll, zwischen Tusch- und Landschaftsmalerei“

René Böll ist bildender Künstler. Er ist Jahrgang 1948, gebürtiger Kölner, und lebt und arbeitet im Rheinauhafen. René Böll ist einer der Söhne von Heinrich Böll. Er verwaltet dessen Nachlass, der Anfang 2009 mitsamt dem Stadtarchiv in einem tiefen Krater auf der Severinstraße verschwand. Ich habe René Böll in seinem Atelier besucht und sich mit ihm über die Südstadt, den Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln und über seine Kunst unterhalten.

Welche Verbindungen haben Sie zur Südstadt?
Mich verbindet mit der Südstadt sehr viel. Schon mein Großvater lebte in der Vondelstraße und hatte dort auch seine Werkstatt. Er war Schreiner und Holzbildhauer und hat viel im neogotischen Bereich für die Kirche gemacht. Mein Vater ist deshalb in der Südstadt geboren und hat lange auch hier gewohnt. Ich selbst bin in Bayenthal geboren. Wir sind jedoch bald nach Müngersdorf gezogen, und erst vor vier Jahren hat es mich in die Südstadt gezogen. Wir wohnen jetzt im sogenannten „Siebengebirge“ und mein Atelier ist hier im Rhenania. Mein Bruder Raimund hat lange an der Bonner Straße gelebt, und ich habe in der ehemaligen Werkkunstschule am Ubierring studiert.

Durch den Einsturz des Stadtarchivs ist einiges in Bewegung gekommen. Woraus bestand der Nachlass Ihres Vaters, der sich im Kölner Stadtarchiv befand?
Etwa 99% des gesamten Nachlasses befanden sich Anfang 2009 im historischen Stadtarchiv auf der Severinstraße. Mein Vater hat bereits ab 1979 begonnen, Materialien an die Stadt Köln zu übergeben. Manuskripte, Briefe, Zeitungsausschnitte – insgesamt ca. 130 Regalmeter. Wenige Wochen vor dem Einsturz haben wir noch sehr viele Materialien an das Archiv abgegeben und nur ganz wenige Stücke für uns privat behalten. Darunter waren ca. 8000 Fotos, 2000 Briefe, mehrere hundert handgeschriebene Manuskripte aus der Vorkriegszeit und andere Materialien. Zum Glück waren viele der Manuskripte zum Zeitpunkt des Einsturzes gerade nicht im historischen Archiv. Das Heinrich-Böll-Archiv besteht nämlich aus zwei Teilen. Der eine ist in der Zentralbibliothek am Neumarkt, der andere war im ehemaligen historischen Archiv auf der Severinstraße untergebracht. Und ein Teil der Manuskripte war in der Zentralbibliothek, wo an der „Kölner Ausgabe“ der Werke meines Vaters gearbeitet wurde. Insgesamt nahm der Nachlass meines Vaters, der dann im Besitz der Stadt Köln war, ca. 200 Regalmeter ein.

In welcher Etage war der Nachlass untergebracht?
Der war leider in der ersten Etage, die wohl zum großen Teil ganz unten im Schacht gelandet und vermutlich bis heute noch nicht geborgen ist.

Ist vom Nachlass Ihres Vaters überhaupt etwas gefunden worden?
Es ist wohl einiges gefunden worden, aber wir haben darüber keinerlei Informationen. Wir wissen überhaupt nichts. Von keinem einzigen Blatt. Gar nichts.

Wo befinden sich die geborgenen Archivalien jetzt?
Nach der Bergung hat man sie grob von Schmutz gereinigt und die feuchten Unterlagen tiefgefroren. Danach hat man alles auf bundesweit 20 Archive verteilt.

Das bedeutet, Sie wissen nicht einmal, ob überhaupt etwas geborgen wurde?
Es sind Teile geborgen worden. Aber niemand weiß, welche Teile das sind und wo sie sich jetzt befinden. Man hat uns gesagt, es würde drei bis vier Jahre dauern, bis es einen Überblick über die gefundenen Stücke gibt. Die Restaurierung wird dann etwa 30 bis 40 Jahre dauern. Die Zahlen gehen dazu aber weit auseinander.

Wie ist die Informationspolitik der Stadt Köln?
Die ist eine Katastrophe. Wir werden überhaupt nicht informiert. Ich nehme an, die wissen selber nicht, wo was ist. Es gab in den letzten Monaten allerdings zwei Treffen mit Beteiligten. Denn im Stadtarchiv lagerten ja etwa 820 Nachlässe. Der Nachlass meines Vaters war ja nur einer davon.

Wie ist die Größenordnung einzusortieren? Ist der Nachlass Ihres Vaters einer der größten gewesen?
Das weiß ich nicht genau, aber ich denke schon. Zu dem Nachlass gehören ja auch etwa 40.000 Briefe, die mein Vater bekommen hat. Das war also unendlich viel Material. Die Archivare haben zwar gesagt, für sie wären alle Nachlässe gleichbedeutend. Aber das glaube ich nicht so recht.

Wer übernimmt nun die Verantwortung für den Einsturz?
Bisher niemand. Weder die Stadt noch der Bauträger. Die KVB schiebt es auf die Baufirma, die Baufirma schiebt es auf die KVB. Die staatsanwaltlichen Ermittlungen laufen wohl noch. Bevor die abgeschlossen sind, will sich niemand äußern.

Wer übernimmt die Kosten der Restaurierung?
Auch das ist noch völlig ungeklärt. Die Stadt hat für die Restaurierung zunächst eine Stiftung gegründet. Selber hat sie, so habe ich gehört, fünf Millionen Euro eingezahlt. Benötigt werden jedoch vermutlich 400 bis 500 Millionen Euro. Das ist eine vorläufige grobe Schätzung, die ich für realistisch halte. Genau kann das natürlich noch niemand beziffern.
Und niemand weiß, wer für die Folgen aufkommen wird. Von dem Einsturz sind ja nicht nur die verschütteten Gegenstände betroffen, sondern auch unsere Urheberrechte. Die Unterlagen können derzeit nicht ausgewertet werden. Dabei haben wir einen Vertrag mit der Stadt, der uns jederzeit auf die Archivalien zur Bearbeitung zugreifen lässt.

Was bedeutet das für die Heinrich-Böll-Forschung?
Das ist natürlich eine Katastrophe. Fast alle Originale sind weg.

Ist in den vergangenen Jahren etwas abfotografiert oder kopiert worden?
Wenn, dann nur ein sehr geringer Teil. Das war vom Umfang her nicht zu leisten.

Wie stehen Sie zu der Initiative des digitalen historischen Archivs von der Universität zu Köln?
Das ist urheberrechtlich ein problematisches Thema. Viele Nutzer des Internets haben keine Ahnung, was das bedeutet. Und dann kommt da diese Piratenpartei, die das Urheberrecht einfach aushebeln will. Aber es handelt sich nun mal um geltendes Recht. Natürlich ist das etwas anderes, wenn Sie ein Dokument aus dem Mittelalter haben. Aber bei den lebenden oder vor Kurzem verstorbenen Personen gilt weiterhin das Urheberrecht. Damit sind wir dauernd beschäftigt und gebend das im Falle des Falles direkt an einen Anwalt weiter.

Handelt es sich dabei um Zufallsfunde?
Nein, wir suchen schon gezielt nach Rechtsbrüchen. Ich habe z.B. bei Google ein Alert eingestellt, das zwar nicht alles findet, aber doch das meiste. Bisher liefen die daraus resultierenden Prozesse immer auf einen Vergleich hinaus.

Ihre aktuellen Bilder wirken auf mich düster, melancholisch. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?
Das stimmt zum Teil, trifft aber nicht auf alle meine Arbeiten zu, denn ich habe zwei ganz unterschiedliche Arbeitsbereiche. Auf der einen Seite stehen die Tuschmalerei und die Radierungen, auf der anderen die Landschaftsmalerei. Viele denken deshalb, dahinter stünden zwei Künstler.

Die Tuschmalerei ist stark chinesisch beeinflusst…
Durch die Technik und auch die dahinter stehende Philosophie ist sie chinesisch beeinflusst. Ich bin einer der wenigen Künstler in Europa, die in dieser modernen Art mit Tusche arbeiten. Schon seit über 40 Jahren beschäftige ich mich damit und habe mir die Technik der modernen Kalligraphie angeeignet. Die klassische Technik natürlich nicht, denn die ist für mich nicht so interessant. Die kann man heute nicht mehr umsetzen, denn man malt ja heute auch nicht mehr wie Rembrandt, obwohl die Kenntnisse dieser alten Techniken für einen Künstler weiterhin sehr wichtig sind.

Was genau interessiert Sie an der chinesischen Tuschmalerei?
Ohne die moderne Kalligrafie in China wäre ein Künstler wie Klee nicht denkbar. Wenn man einen Klee betrachtet, dann erkennt man schnell die Verbindung zur modernen Kalligrafie. Klee ist also stark von dieser Kunst beeinflusst. Ebenso wie Jackson Pollock und viele andere moderne Maler.

Was drückt die Beschäftigung mit der chinesischen Kalligrafie für Sie aus? Ist das die Nähe zu einer eher fremden Kultur?
Die chinesische Kultur ist uns eigentlich gar nicht so fremd. Man denkt das zwar oft, aber ich sehe das anders. Ich habe mir die Radierungen, Pinselzeichnungen und Ölbilder von Goya im Detail angesehen. Wenn man die Untermalungen genau betrachtet, dann erkennt man die Nähe zur chinesischen Tuschmalerei, z.B. zu den berühmten Meistern aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Bada Shanren und Shi Dao. Das drückt sich vor allem in der Spontaneität, dem Können und der Sicherheit aus. Daher ist uns die chinesische Malerei und Kalligrafie gar nicht so fremd. Das gleiche Phänomen findet man im Übrigen auch bei Rembrandt. Das Problem ist, dass die meisten Europäer meinen die chinesischen Bilder der Tuschmalerei seien alle sehr ähnlich. Aber das stimmt nicht. Die Unterschiede zur europäischen Kunst sind geringer, als man gemeinhin glaubt. Interessant ist die Schnelligkeit, die 100%ige Konzentration und auch die Körperbeherrschung bis hin zur Atemtechnik, die man für die Arbeit braucht. Man darf keinen Fehler machen. Sobald man zögert, ist das Bild kaputt, da es in einem Zug gemalt wird. Da spielen viele Komponenten wie Wasser, Geschwindigkeit, der Pinseldruck und vieles mehr eine Rolle. Das chinesische Papier reagiert ungeheuer sensibel darauf. Für mich ist es daher sehr wichtig, Tai Chi zu praktizieren. Dadurch gewinne ich die nötige Körperbeherrschung und das hilft mir sehr bei der Arbeit.

Wie viele Bilder machen Sie denn „kaputt“, bevor eines gut wird?
Weit über die Hälfte. Und das ist auch so üblich. Denn das Material ist unglaublich komplex. Erst wenn man sich damit beschäftigt, weiß man, wie kompliziert das ist. Ich benutze mehr als 30 unterschiedliche Tuschen  – dabei kommen sowohl moderne Tusche, als auch über hundert Jahre alte Tuschen zum Einsatz.

Was macht den Unterschied zwischen alter und moderner Tusche?
Das ist der Ton der Farbe.

Den man heute so nicht mehr findet?
Die alte Tusche gibt einen feineren, helleren Ton. Sie ist nicht besser als die moderne, sie ist einfach anders. Für tiefschwarze Effekte ist die moderne Tusche besser.

Woher bekommen Sie die Tuschen für Ihre Arbeit?
Es gibt in Peking eine Straße, mit etwa 30 bis 40 Läden, in denen nur Pinsel, Tusche, Papier, Stempelsteine und anders Zubehör verkauft werden. In der Straße muss man sich dann allerdings gut auskennen. Ich frage deshalb meist Freunde, die mich begleiten und beraten.

Wie sind Sie darauf gekommen, mit Tusche zu malen?
Ich habe mich mit chinesischer Landschaftsmalerei aus dem 12. Jahrhundert beschäftigt. Seitdem ich diese ungeheuer abstrakten Bilder aus dem 10. – 13. Jahrhundert Anfang der 70er Jahre gesehen habe, hat mich diese Technik fasziniert und ich wollte sie lernen.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Schaffen mit den Werken Hölderlins. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Text und Bild?
Die Zitate und Texte von Hölderlin sind eine Anregung für mich, gefühlsmäßig und philosophisch. Ich illustriere die Texte ja nicht, ich lasse mich anregen. Ich habe auch mit dem chinesischen Kalligraphen Gu Gan an gemeinsamen Hölderlin-Projekten gearbeitet.

Wie arbeiten Sie mit den Texten?
Ich nehme mir ein Zitat, meist nur zwei, drei Zeilen, mehr nicht. Gerade habe ich ein Buch mit farbigen Arbeiten zu Hölderlins „Tod des Empedokles“ fertiggestellt. Dazu habe ich mir kurze Textstellen herausgesucht und mich von ihnen inspirieren lassen. Ein irischer Drucker hat meine Aquarelle dann in Siebdruck umgesetzt.

Werden junge Künstler heute genügend gefördert?
Es gibt heute mehr Förderung als früher. Wir hätten damals nie daran gedacht, Förderungen zu beantragen. Die hat es sicherlich gegeben, aber doch in geringerem Umfang als heute. Allerdings finde ich, dass nicht nur junge Leute gefördert werden sollten. Ich bin ein Mann, über 60, aus dem Westen – da habe ich fast keine Chance auf eine Förderung. So habe ich es fast aufgegeben, Förderungen zu beantragen. Was ich jedoch als größeres Problem ansehe, ist der in zwei Bereiche zerfallende Kunstmarkt. Es gibt die ganz teure und die ganz billige Kunst. Dazwischen gibt es fast nichts mehr.

Wie kommt das?
Das hängt mit diesem Spekulationsschwachsinn zusammen. Den ich auch bewusst so nenne. Jeff Koons zum Beispiel ist für mich ein Kitschkünstler. Wer für seine Arbeiten drei Millionen Euro ausgibt, der muss verrückt sein.

Dahinter steht die Hoffnung, dass der Wert sich noch steigert…
Das wird nicht passieren. Darauf gehe ich jede Wette ein. Mit der Kunst wird spekuliert. Und das macht den Kunstmarkt kaputt. Es ist nicht unsere Aufgabe, dass jemand Geld mit einem Bild verdient. Wenn meine Kollegen oder ich ein Bild für 3000 oder 4000 Euro verkaufen, dann rechnet niemand damit, dass es später einmal viel mehr wert sein wird. Aber es geht heute leider nicht mehr um die Qualität eines Werkes, sondern um Wert. Van Gogh hat einmal gesagt: „Die Leute kennen den Preis eines Bildes, aber nicht den Wert.“

Hat Ihnen der Name Böll in der Kunst Türen geöffnet?
Mein Name ist für mich als Künstler immer hinderlich gewesen. Das war auch schon zu Lebzeiten meines Vaters so.

Was ist für Sie das besondere am neuen Rheinauhafen?
Ich bin erst seit 2005 hier. Das Rhenania ist das einzige noch einigermaßen alternative Gebiet. Zumindest sind die Mieten nicht so exorbitant hoch. Und ich finde es natürlich sehr schön, im Siebengebirge zu wohnen. Es ist toll, wenn man den Blick auf den Rhein hat. Das ist ein Traum. Aber auch hier am Jachthafen ist es sehr schön.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Hafengebiets in den letzten Jahren?
Es ist schon sehr schick geworden. Architektonisch überzeugt mich aber nicht alles. Da finde ich den Medienhafen in Düsseldorf gelungener. Für uns hier im Rhenania hat das jedoch wenig Bedeutung. Es hieß zu Anfang noch, mit dem Umbau kämen auch neue Kunden. Aber davon habe ich bisher nichts gemerkt. Es gibt aber im Grunde auch keine Verbindung zu den anderen Gebäuden, zu den Büros und Firmen. Ich glaube, ganz wenige im Rhenania haben einen Bezug zu den Mietern in den Neubauten.

Nehmen Sie die Rheinuferstraße als Grenze zur Südstadt wahr?
Ja, leider. Ich finde den Zugang zum Hafengebiet sehr schlecht. Hier im Norden des Hafens geht es noch, aber hinten am „Siebengebirge“ und am Ubierring gibt es jeweils nur einen kleinen Durchgang, den man kaum findet und bis zum „Kap am Südkai“ gibt es dann gar nichts mehr.


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Moralinsaure Abrechnung mit meiner Fahnenphobie

Auf dem Weg aus der Innenstadt verschlägt es uns an die Biertische einer Kneipe, irgendwo in der Südstadt. Hier bin ich noch nie gewesen. Nett ist es. Man sitzt draußen, unter Bäumen, ein Brunnen plätschert (ja, tatsächlich, ein Kölner Brunnen, der Wasser führt). Und wie immer dieser Tage: Der Fernseher steht prominent eben uns. Der Bildschirm ist grün. Sehr grün.

Auf dem Weg aus der Innenstadt verschlägt es uns an die Biertische einer Kneipe, irgendwo in der Südstadt. Hier bin ich noch nie gewesen. Nett ist es. Man sitzt draußen, unter Bäumen, ein Brunnen plätschert (ja, tatsächlich, ein Kölner Brunnen, der Wasser führt). Und wie immer dieser Tage: Der Fernseher steht prominent eben uns. Der Bildschirm ist grün. Sehr grün. Ein unheimliches Gebrumme wie aus einem riesigen unterirdischen Hummelnest schallt heraus. Sehr überirdisch. Es ist WM. Alle Bildschirme sind Fußball. Bald sehen wir wohl auch auf den Überwachungsbildschirmen im Rewe die aktuellen Spiele.

Doch nicht die Spiele gehen mir auf die Nerven. Die Flaggen sind es. Die Farben. Schwarz. Breit. Äh… Rot. Gold. Nein. Geld… Gelb… Überall in der Kneipe stehen, liegen und hängen Flaggen, Wimpel und alles, was man auf irgendeine Weise schwarzrotgelb anmalen kann. Ich habe mich irgendwie nie mit der deutschen Nationalflagge identifizieren können. Die ist auf eigenartige Weise vorbelastet. Ja, natürlich ist mir die Tradition der Flagge bekannt. Aber auch über diese kann man sich getrost den einen oder anderen Abend bei Wein, Weib und Gesang streiten.

Nein, ich habe mich nie mit der gelbschwarzroten Flagge abgefunden. Und ich kann dem andauernden Flaggentrend nichts abgewinnen. Die deutsche Flagge ist für mich mit Volkstümelei und Nationalstolz verbunden. Bin ich jetzt intolerant? Volkstümelei finde ich zum Kotzen. Nationalstolz habe ich nie entwickeln können, wollen, dürfen. Nein, nein, ich will die Flagge nicht in Bausch und Bogen ablehnen. Ich wundere mich lediglich über die Massenbewegung, die seit der WM 2006 stetig anhält und offenbar zunimmt.

Jetzt stehen, laufen und hängen sie überall herum: Die Deutschlanddevotionalien. Rotschwarzgelbe Flaggen und Wimpel, schwarze Tischdeckchen mit roten Blümchen in gelben Väschen, leichte rote Hüte über schweren goldenen Ketten und luftigen schwarzen Kleidern, gelbe Lampen und rote Ampeln, selbstreinigende Klobrillen, hautenge T-Shirts, Autospiegelschoner, die wie Kondome in den Verkehr ragen, goldeselhafte Marienkäfer. Alles in gelbschwarzrotgelb, äh schwarz.. rot. Es ist eine eintönige Überfrachtung der Umwelt in drei Farben. Und offenbar vollkommen ohne jede Aussage. Denn was will mir der blumengirlandentragende, laut „Schland“ skandierende Milchbubi auf der Severinstraße erzählen? Dass er Deutschland liebt? Dass er Poldis ganzen Namen kennt? Wer hat ihm diese Art der Artikulation mitgegeben? Welch ein Trauerspiel!

Doch dann kommt er über mich: Der Schock. Die Erinnerung an die letzten Spiele unserer Jungs gegen… ja, gegen wen denn eigentlich noch? Ich sehe mich angespannt mitfiebernd mit einem güldenen Kölsch vor einer Kneipe sitzen, laut aufschreiend, als Poldi ein Tor schießt. Auf den Schwarzgekleideten schimpfend, als er Klose mit gelb-rot vom Platz schickt. Ich bin plötzlich schwarzrotgelb engagiert. Und dann wird diese Erinnerung überschattet von dem Grong Prie dö la Schongßong. Von Lena. Jedes Mal, wenn die zwölf Punkte an unser Mädchen aus Hannover gingen, habe ich gejubelt.

Wir sind also schwarzer Papst, güldene Lena und möglicherweise bald auch WM. Werde ich mir dann auch eine rotschwarzgelbe Flagge vom Balkon hängen? Mir wird übel. Die Flagge ist gesellschaftsfähig geworden. Wir dürfen offenbar wieder stolz darauf sein, deutsch zu sein. Jetzt halten Galle und Magensäure ein Stelldichein in meinem Hals. Der Prozess der Verdeutschlandisierung ist breit akzeptiert. Er ist da und er wird gepflegt. Man macht ihn einfach mit. Warum auch nicht? Fragt dann doch einmal jemand nach, wofür Schwarz und Rot und Gold stehen, dann ist der Fragende schnell in der Defensive.

Ich befinde mich in einer Generation der ausgleichenden Weichspüler. Es ist eine Wanderung auf schmalem Grat. Erwähne ich die Entwicklung nicht, dann fühle ich mich beim Anblick der Flaggen irgendwie fies. Lehne ich die Nationalflagge ab, dann wandere ich schnell in den Sumpf der moralinsauren Demagogie roter Aktivisten ab. Befürworte ich die bunten Aushänge, fühle ich mich irgendwie schwarz; zu schwarz, um in den Spiegel sehen zu können. Da gilt es, die goldene Mitte zu finden.

Stolz werde ich auf Deutschland wohl nie sein. Eine Deutschlandflagge werde ich mir nicht aus dem Fenster hängen. Doch wenn unsere Jungs spielen, dann brodelt es in mir über. Irgendetwas schlummert in mir, dass mich bei jedem Tor jubeln lässt. Und auf unheimliche Weise macht mir das Angst, denn ich stecke in einem Zwiespalt. Ich will mich über einen Sieg freuen können, doch ich vermiese mir die Stimmung sofort mit den Zweifeln. Der Wirt der Kneipe mit den vielen Deutschlanddevotionalien heißt übrigens Costas. Mein Sprachgefühl sagt mir, dass das kein typisch deutscher Name ist. Eher griechisch. Vielleicht sollte ich mir etwas von ihm abgucken: Ich hänge mir die schwedische Fahne vor die Tür, jubele bei jedem Tor für die blaugelbe Mannschaft und freue mich insgeheim, dass die Schweden eine Deutsche zu ihrer Königin machten. Ach, die Schweden sind gar nicht dabei? Mein Gott, ihr macht es einem aber auch nicht leicht.


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Wo ist die schwule Südstadt?

Die schwule Szene in der Südstadt. Gibt es die noch?

Es gab eine Zeit, in der die schwule Szene in der Südstadt durchaus präsent war. An erster Stelle der Bekanntheit stand sicherlich das Schulz, das lange seinen Sitz am Kartäuserwall hatte. Aber auch das Buschwindröschen, das Indigo, das Kölsch Rouge, die Diva, das Reflection, das Schappo-Klack und diverse Parties haben die Szene in der Südstadt repräsentiert. Was ist davon geblieben? Wenn man mal von der kleinen Meile an der Mathiasstraße absieht – nichts. Liegt es an der Konzentrierung der schwulen Szene um die Schaafenstraße? Ist die Südstadt nicht mehr attraktiv genug für schwullesbische Kneipen und Bars?

Schulz – das Schwulen-Lesben-Zentrum

Seit 1994 residierte dieser Anziehungspunkt par excellence in der Nähe des Chlodwigplatzes. Initiativen und Gruppen beinahe aller Couleur trafen sich hier. Das große Café Anders im Erdgeschoss und der Partyraum im Kellergewölbe boten eine riesige Spielwiese für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender und all ihre Freunde. Man saß dort mit Freunden auf einen Kaffee zusammen oder traf sich, um in den Abend zu starten. Am Wochenende wurde im Gewölbe gefeiert und der Sonntag Abend gehörte traditionell dem Kulturschock mit Annette Küppersbusch und Wanda Rumor. Das alles ist seit 2003 vorbei. Eine Alternative vergleichbarer Qualität gibt es bis heute im gesamten Stadtgebiet nicht.

Die alternative Szene

Das Buschwindröschen repräsentierte die trashig-plüschige Alternativszene. In der Buschgasse war es jede Nacht turbulent. Den Sommer verbrachte ein Großteil des lesbischwulen Kollektivs auf der Straße – der Ärger mit den Nachbarn war vorprogrammiert. Durch den Umzug an die Bonner Straße blieb das Publikum aus, obwohl hier die legendären Lottis ihren Weg durch den Geburtskanal fanden. Die fulminante Abschlussparty endete im April 2000 mit einem brutalen Polizeiübergriff, der seinesgleichen in der Kölner Szene sucht. Seitdem gibt es das Buschwindröschen nicht mehr.

Die Kneipen sind verschwunden

Auch das Indigo mit seinem kühlen 90er-Jahre Interieur, das Kölsch-Rouge mit seiner freundlich rabiaten Wirtin und die Frauenkneipe Diva haben geschlossen. Das Reflection und das Schappo-Klack gehören sowieso schon lange der Geschichte an.

Die Matthiasstraße – eine etwas anrüchige Meile

Einzige Locations am Rande des Südstadt-Einzugsgebietes sind die blue lounge in der Matthiasstraße und das Deck 5, beide schon beinahe zum Heumarkt und seiner Szene gehörend. Sexshops und Fetischläden dominieren hier. Die Szene um den Chlodwigplatz ist verschwunden. Das Publikum hat sich offenbar ganz auf die Schaafenstraße und das Bermudadreieck rundherum zurückgezogen. Hier ist die Konzentration schwuler Bars und Kneipen extrem hoch.

Und was ist heute noch geblieben?

Wohin ist das Publikum abgewandert? Ist es einfach älter geworden? Hat es sich vollkommen auf die Internetplattform gayromeo zurückgezogen? Mitnichten. Es ist immer noch da. Es hat sich auf die bestehenden Lokalitäten verteilt und unterwandert die schwule Szene der Innenstadt, indem es die Südstadt mit seinem Charme infiltriert. Wir alle sind Südstadt. Dass dennoch der eine oder andere völlig unpassende schwulenfeindliche Kommentar fällt, ist zwar in keiner Weise akzeptabel, aber glücklicherweise gehören solche Fehltritte zur Ausnahme.

Brauchen wir die Szene in der Südstadt?

Was fehlt, ist eine neue Initiative, ein Impuls, der Südstadt wieder offensiv zu demonstrieren, dass die Szene hier ist! Aber es bleibt die Frage, ob wir die Szene hier brauchen. Reicht es nicht, dass es die Konzentration im Bermudadreieck um die Schaafenstraße gibt? Ist die alternative Szene in diesen Zeiten noch nötig? Findet nicht jeder hier seine Nische, in der er/sie sich wohl fühlt?
Schreibt uns eure Meinung. Schickt uns eure Ideen. Berichtet uns von euren Erfahrungen.


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Sind wir nicht alle ein bisschen anarcho?

Von der Aachener Straße kennen wir das ja schon: Rund um die Tische vor den Cafés sind lustige weiße Linien gemalt, damit die Gäste genau wissen, bis wohin sie ihren Stuhl schieben dürfen. Die Information dahinter lautet: Bis hierhin, aber keinen Schritt weiter. Eine klare Reviermarkierung. An der Aachener Straße ist das vermutlich sinnvoll. Die Bürgersteige sind hoch frequentiert und wenn dann auch noch überall diese Stühle stehen und coole Gäste sitzen, dann können die sonnenbebrillten Medienfreaks nicht mehr so cool vorbei promenieren.

Aber jetzt geht die Farbschmiererei auch in der Südstadt los: Dekorativ sind die ersten Linien künstlerisch um das eine oder andere Café gepinselt. Nein, nicht das Ordnungsamt tobt sich hier kreativ aus – das müssen die Gastronomen schon selber tun. Und die sind dann auch penibler als die Hüter der Ordnung selber: Kaum haben wir das Stuhlbein versehentlich über die weiße Linie geschoben, weil die Bio-Gemüse-Stofftasche sonst nicht mehr zwischen den 800-Euro-Kinderwagen und das iPhone passt, schon schießt aus einer finsteren Ecke des im Innenraum verwaisten Cafés eine grimmig drein blickende Kellnerin herbei und weist uns auf die Linie hin.

Beim Ordnungsamt, in der Abteilung für Gaststättenangelegenheiten, erfahren wir telefonisch, dass die Überschreitung der Grenzen angeblich gar nicht so streng geahndet wird. Und was ist mit den Linien?, fragen wir weiter. Ja, die Linien müssten eigentlich alle Gastronomen ziehen. Das steht in den Richtlinien. Macht aber kaum einer. Kümmert auch niemanden. Bisher. Jetzt fangen die ersten damit an. Alle wollen ihre Schäfchen gut behütet im vordefinierten Bereich wissen. Bald folgen kleine Jägerzäune. Befindet sich die Südstadt in einer tragischen Umbruchphase? Greift die große Hand der Bausparverträge und Eigenheimzulagen nach uns? Oder wollen wir uns einfach nur abgrenzen? Gegen wen bloß?

Keiner soll ausscheren. Wir sollen im vordefinierten Bereich des eigenen Cafés bleiben, wo uns nichts passieren kann. Machen sich die Gastronomen etwa Sorgen um uns? Wir bleiben ihnen doch auch so treu. Wo sollen wir denn auch sonst hin? An die Aachener Straße, wo die Aufstellung der Tische seit Jahren reglementiert ist? Wo man sich hinsetzt, um gesehen zu werden? Immer in den schicksten Klamotten?

Nein nein, wir bleiben viel lieber in der dörflichen Idylle der Südstadt. Hier sind wir zu Hause. Bloß nicht raus aus dem sicheren Hafen. Wir könnten ja Gefahr laufen, mit der Realität der anderen Stadtteile konfrontiert zu werden. Ausländer – hups, das böse Wort – besser: Migranten wollen wir natürlich gerne unter uns haben. Solange sie uns salmonellenfreie Döner anreichen und sich in den amüsanten Klischees der orthografischen Abgründe von Cafe´s und Süsswaren bewegen. Solange wir uns mit ihrer – aus Smalltalk bestehenden – Freundschaft schmücken können. Nur laut dürfen sie nicht sein, und nicht zu eigensinnig.

Aber vor allem lassen wir uns nicht in Linien einsperren. Wir wollen frei sein. Dafür leben wir nun mal in der Südstadt, der nördlichsten Stadt Italiens. Also schnell den Stuhl ein paar Millimeter über die Linie geschoben. Das ist der Rest des 80er-Jahre-Anarchos in uns. Jetzt aber schnell den Großen zur musikalischen Früherziehung bringen, sonst komme ich zu spät zum Yoga.


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„Unsere Tür steht immer offen. Für alle!“

Langsam schlendere ich durch die Frühlingssonne die Alteburger Straße entlang und frage mich, was die Gruppe älterer Männer auf dem Kreisverkehr an der Teutoburger Straße tun. Sie stehen diskutierend auf dem Fußweg. Direkt vor dem Geburtshaus Heinrich Bölls, wie eine Gravur zweifelhafter Qualität auf der Haustür daneben verkündet. Dass sie nicht wegen des Schriftstellers hier sind, erahne ich schließlich, als ich die etwas wackeligen Buchstaben an der verklebten Scheibe entdecke: Hier befindet sich eine Moschee.

Kaum bin ich neugierig stehen geblieben, da tritt auch schon einer der Männer freundlich auf mich zu und fragt, ob er mir helfen kann. Und er macht mich sofort mit dem Kassenwart der kleinen Moscheegemeinde bekannt: Herr Sefedin trägt seinen Anzug und einen langen dunklen Mantel, der Hut sitzt akurat auf seinem Kopf. Er lädt mich ein, mit ihm zusammen die Räume der Moschee zu erkunden.

Einen kurzen Moment stocke ich. Die Socken! Ich erinnere mich mit Schrecken an Weltbankpräsident Paul Wolfowitz, der mit löchrigen Socken durch die Moschee in Edirne schlurfte. Aber nein, das passiert mir nicht.

Herr Sefedin nimmt sich Zeit, er erzählt von den Anfängen der Moscheegemeinde in den 1990er Jahren und immer wieder von seinen eigenen Erlebnissen. Denn er kommt keineswegs aus der Türkei, wie ich zuerst vermute. Er ist Mazedonier. In den 1960er Jahren emigrierte er aus politischen Gründen aus Jugoslawien nach Deutschland, lebte eine Weile in Niedersachsen, arbeitete dort für die britische Armee als Fahrer. Als die ihn 1965 in den Krieg nach Rhodesien mitnehmen wollte, kündigte er, zog nach Solingen, holte schließlich seine Familie nach und entschied sich dann für Köln, um seinen Kinder eine gute Ausbildung an der Universität zu ermöglichen.

Wir sitzen an einem wackeligen Küchentisch. Während des Gesprächs kommen immer wieder neugierige Gemeindemitglieder herein, die wollen wissen, wer ich bin und was ich hier tue. Und sie freuen sich durchgehend über meinen spontanen Besuch. Nach und nach gehen sie in die hinteren Räume, bevor sie mit hochgekrempelten Ärmeln zurückkehren und im Gebetstraum verschwinden.

Sefedin schwärmt von Willi Brandt, der es ihm erst ermöglichte, seine Familie aus Jugoslawien zu sich zu holen. Seine Frau und seine Kinder hatte er lange nicht gesehen. Er erzählt von den Schwierigkeiten, einen guten Imam zu finden, der mit den Kindern der Gemeinde angemessen umgehen kann. Denn der letzte war durch so große Strenge aufgefallen, dass die bis dahin etwa 50 Koranschüler nach und nach ausblieben. Die Gemeinde verlängerte nach dem ersten Jahr den Vertrag des Imams nicht und trennte sich von ihm. Jetzt übernehmen die Gemeindemitglieder im Wechsel die Aufgabe des Vorbeters.

Immer mehr Männer gehen an uns vorbei. Wo sind denn die Frauen?, will ich wissen. Die haben ihren eigenen Raum für sich. Im Keller. Hier wird getrennt gebetet. Es war wohl eine Frage zu viel über die Abläufe, die Sefedin dazu veranlasste, mich zum nächsten Gebet einzuladen. Vorher muss ich mich allerdings reinigen. Jetzt verstehe ich auch, wohin die Männer gingen: Hinten befindet sich ein Waschraum. Das Gesicht und die Ohren, die Arme und die Füße wasche ich mir, dann kann ich mir die Socken wieder anziehen.

Als sich der Gebetsraum vor mir öffnet, bin ich erstaunt. Ein einfacher Teppich belegt den Fußboden durchgehend. Einige Männer sitzen auf dem Boden, beten, diskutieren oder lesen still in ihrem Koran. Die gegenüberliegende Wand ist reich verziert, eine Gebetsnische gibt die Richtung nach Kaaba, dem Zentralheiligtum in Mekka, an. Die Männer versammeln sich nach und nach in Reihen, setzen sich ihre weißen Gebetsmützen auf die Häupter, knien nieder. Staunend setze ich mich in eine Ecke.

Der Vorbeter beginnt mit seinen monotonen Gebeten. Mit einem Mal komme ich mir weit weg vor. Ich bin nicht mehr in der Kölner Südstadt, ich bin irgendwo im Orient. Entspannung durchströmt meinen Körper. Rhythmisch bewegen die Männer ihre Köpfe an rechts und links, sie erheben sich, setzen sich wieder, streichen sich mit den Handflächen über das Gesicht. Über allem liegt der Gesang, das Rede-und-Antwort-Ritual des Gebets. Ungewohnte Worte, beruhigende Klänge und die Aura des religiösen geben mir Zeit zur inneren Einkehr. Es ist wie eine Meditation. Lange könnte ich hier einfach sitzen bleiben.

Doch nach zwanzig Minuten ist alles wieder vorbei. Die Männer erheben sich, ziehen sich ihre Schuhe über die heilen Socken, gehen nach draußen. Hier stehen sie nun wieder schwatzend in der Sonne, rauchen noch eine Zigarette, bevor sie sich wortreich voneinander verabschieden. Völlig gefangen verlasse ich auch ich nun den Raum und kann es noch nicht so richtig fassen. Ich bin mitten in Köln. Mitten in der Südstadt. Herr Sefedin fordert mich auf, zurück zu kommen: „Unsere Tür steht immer offen. Für alle!“


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